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Aus: Weihnachten, Beilage der jW vom 24.12.2024
Weihnachten

»Die Welt ist kaputt«

Um das Problem der Gewalt kommt man nicht herum. Ein Gespräch mit Alexander García Düttmann
Von Niklas Ranze
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Die Antwort auf die Gewalt des Patriarchats ist die feministische Wut (Nantes, 25.11.2024)

Herr Düttmann, Ihr neues Buch ist eine Reflexion über Gewalt. Der Titel und der dazugehörige Umschlagtext setzen Gewalt in den Kontext mit dem Kaputtsein. Was bedeutet Kaputtheit heute für Sie und für uns?

Den Begriff des Kaputten habe ich von Curzio Malaparte übernommen. Sein Roman »Kaputt« reflektiert über den Zweiten Weltkrieg und seine Greuel. Die Stelle, die ich zu Beginn des Buches als Motto zitiere, stammt aus einem Dialog des Romans und erklärt die Etymologie des Wortes »kaputt«, das aus dem Jüdischen kommt und »Opfer« bedeutet.

Bei Theodor W. Adorno fand ich in einem Aufsatz, den er kurz nach dem Zweiten Weltkrieg schrieb, einen Verweis auf diese Stelle. Er setzt sich mit dem Verhältnis von Opfer und Kaputtheit auseinander. Adorno betont, dass das Gefühl des Kaputtseins nach dem Zweiten Weltkrieg weit verbreitet war.

Heute kann man sagen, dass das Gefühl des Kaputtseins weit verbreitet ist und in allen Diskursen vom Zustand des Kaputten ausgegangen wird. Beispiele sind die Klimakatastrophe, die Kaputtheit von Demokratie und Zivilgesellschaft sowie die Kriege, die geführt werden. Zudem sehen wir die Wiederkehr des Bellizismus und den Enthusiasmus für einen Krieg, der nicht verloren werden darf. Oder die Veränderung des Begriffs der Kritik, die heute nur noch positiv und konstruktiv verstanden werden will.

Alle versuchen, mit ihrem Reden von Konstruktivität und Positivität totzuschweigen, dass die Welt kaputt ist, und tun so, als wäre es selbstverständlich, eine kaputte Welt wieder aufzubauen. Aber welchen Preis zahlen wir dafür? Deswegen müssen wir sagen, die Welt ist kaputt, und wir schlagen sie weiter kaputt. Natürlich muss man sich anschließend fragen, ob sie jemals nicht kaputt war. Wahrscheinlich war sie es immer schon. Vielleicht zahlen wir genau deswegen einen so hohen Preis, weil wir uns die Frage, was es heißt, dass die Welt kaputt ist, nicht in ihrer Radikalität stellen.

Gerade dieses radikale Infragestellen, das ja die Kritik leistet, verdrängen wir und beantworten die dringlichen Fragen bereits durch vorformulierte, ideologische Antworten?

Genau, das versuche ich in den ersten beiden Texten und besonders im zweiten Text über die RAF zu zeigen. Ich verdeutliche, wie die RAF der BRD einen Spiegel vorgehalten hat, in den die Bundesrepublik nicht schauen wollte.

Auch im ersten Text stellt sich dann die Frage, welchen Spiegel uns der Russland-Ukraine-Krieg vorhält. Meine These ist, dass der Krieg uns die Frage der Gewalt spiegelt. Um es mit Carl Schmitt zu formulieren: Der Feind, ob nun Russland oder die RAF, ist unsere eigene Frage als Gestalt. Der erklärte Feind ist immer derjenige, dem man nicht ins Gesicht sehen will, weil er zu viel über uns weiß und zu viel über uns selbst verrät. In dem Moment, in dem »der Westen« sagt, Russland sei sein Feind, legitimiert er sich immer als Gegengewalt auf die Gewalt des Feindes. Denn Gewalt ist immer Gegengewalt auf eine bereits bestehende Gewalt. Die Gewalt hat stattgefunden – Russland hat die Ukraine angegriffen – und jetzt müssen wir uns dagegen wehren. Wie tun wir das? Wir benennen und anerkennen den Feind und gehen zum Gegenschlag gegen diesen gewaltsamen Feind über.

Was verstehen Sie unter Gewalt und Gegengewalt und ihrem Verhältnis zueinander?

Zunächst unterscheide ich zwei Funk­tionsweisen der Gewalt, die eine Dialektik derselben schaffen. Die erste sieht Gewalt als Mittel zur Durchsetzung von Zwecken gegenüber einer anderen Gewalt. Diese Gewalt tendiert dazu, sich zu verselbständigen und Tatsachen zu schaffen. Gewalt hat also stets einen vereinfachenden Effekt, weil sie Tatsachen zeitigt und die Gegenposition negiert.

Die zweite Art von Gewalt, die ich in Anlehnung an Walter Benjamin betrachte, versucht, der Gewalt ein Ende zu bereiten und tendiert somit zur Gewaltfreiheit. Diese Gewalt strebt nach ihrer eigenen Aufhebung und öffnet sich einem Zustand jenseits der Gewalt, ohne den keine Abschaffung möglich wäre. Gewalt steht somit immer in einem Verhältnis zu einer anderen Gewalt und ist dementsprechend immer Gegengewalt. Indem sie das tut, erschafft sie immer einen Spielraum, da beide Funktionen nicht voneinander zu trennen sind.

Der Begriff des Spielraums ist somit ein Gegenbegriff zur Gewalt, da er immer eine Offenheit impliziert. Dieser Spielraum oder Freiheitsraum ist das Mehr der Gewalt, dasjenige, worauf sich die Gewalt selbst hin übersteigt und aufhört, blinde Gewalt zu sein.

Sobald man es mit Gewalt zu tun bekommt, hat man es immer mit beiden Funktionen der Gewalt zu tun. Egal, ob man einen gewaltfreien Diskurs anstrebt oder meint, es werde immer Gewalt geben – man kommt um das Problem der Gewalt nicht herum.

Sobald wir das Dilemma der Gewalt ernst nehmen, ist die Entscheidung niemals eine zwischen Gewaltfreiheit oder Gewalt, sondern welche Art von Gegengewalt wir ausüben wollen, um der Gewalt zu begegnen. Alle anderen Ansichten sind gefährliche Phantasien, die das Dilemma der Gewalt ungewollt verstärken.

In meinem Kapitel über Édouard ­Louis’ Roman »Im Herzen der Gewalt« beleuchte ich ein zentrales Dilemma, das exemplarisch in der Haltung des Opfers gegenüber dem Täter zum Ausdruck kommt. Der ­Protagonist, der von einem algerischen Mann vergewaltigt wurde, fühlt sich von diesem verfolgt. Auf Drängen seiner Freunde, die ihn regelrecht dazu nötigen, überwindet er sein eigenes Unbehagen und meldet die Tat schließlich bei der Polizei – trotz seiner Angst, dadurch xenophob-rassistische Stereotype zu bekräftigen. Entscheidend ist hier die innere Widerwilligkeit der Figur, den Täter anzuzeigen, möglicherweise aus der Befürchtung, selbst eine Form von Gewalt auszuüben, indem er diesen der Justiz ausliefert. In diesem Moment richtet sich sein Groll kurzzeitig gegen seine Freunde, die er plötzlich als Feinde wahrnimmt. Auch hier bleibt meiner Meinung nach ein Spielraum offen, denn es besteht die Möglichkeit, dass das Opfer einen alternativen Handlungsraum gegenüber dem Täter bewahren möchte, um nicht Gewalt mit Gewalt zu vergelten.

Wo Gewalt mehr als blinde Gewalt bedeutet, kann sich die Handlung nicht auf Gewalt reduzieren lassen. Bei ­Louis geht es darum, dass er die Offenheit nicht aufgibt, ohne naiv hinsichtlich der Ausübung und Reproduktion von Gewalt zu sein. Der Freiheitsraum ist immer ein bedrohter, nie ein gegebener. Er muss immer wieder geschaffen, erkämpft und verteidigt werden gegenüber einer Vereinfachung durch einen ideologischen Verblendungszusammenhang.

Wie kann man aber das Dilemma der Gewalt ernst nehmen, ohne in eine voreilige Eindeutigkeit umzuschlagen, etwa im Hinblick auf den Ukraine-Krieg?

Das hängt zunächst mit der Frage zusammen, wie wir die Offenheit verstehen. Gleichzeitig müssen wir ernst nehmen, was ich unter Parteinahme verstehe. Für beide Positionen gibt es Argumente, die sich rechtfertigen lassen, obwohl sie einander widersprechen. Das verunmöglicht eine unmittelbare und einseitige Auflösung des Dilemmas.

Der eine wird sagen, dass die Anerkennung des Spielraums Verhandlungen für Frieden mit Putin ermöglicht. Der andere wird sagen, dass man mit einem Aggressor wie Putin nicht verhandeln kann. So gibt es zwei unterschiedliche Einschätzungen der Gefahr und des Spielraums.

Derjenige, der sich für den militärischen Sieg einsetzt, könnte dem anderen vorwerfen, dass es keine Grundlage für Verhandlungen gibt. Der andere entgegnet, dass er nicht wissen könne, was ein militärischer Sieg bedeutet, und argumentiert, dass die größte Gefahr darin besteht, dass eine Verlängerung des Konflikts weitere Eskalationen hervorruft.

Deswegen kann man eine eindeutige Position zur Frage Verhandlung oder Krieg nicht unmittelbar ableiten. Hier kommt die Parteinahme ins Spiel. Es gibt keine Positionierung, ob Krieg oder Verhandlungen, ohne Parteilichkeit, weil man das eine oder das andere für überzeugender und weniger gefährlich hält. Denn es gibt keine endgültige politische und logische Begründung für das eine oder das andere. Parteinahme bedeutet, die Gegenseite auszublenden, um die Offenheit und das Jenseits der Gewalt zu wahren. Zusammengefasst zählt am Ende nicht die logische oder ideologische Begründung, sondern die ehrliche und ernsthafte Parteinahme und der Kampf für diese Position, von der man hofft, dass sie der Reproduktion der Gewalt ein Ende setzt.

In einem kürzlich in der Berlin Review erschienenen Aufsatz vergleichen Sie den mittelmäßigen mit dem guten Präsidenten einer Universität. Wie lässt sich in diesem Kontext das Verhältnis von Gewalt, Wissen und Universität verstehen, und welche Rolle spielt der Präsident dabei?

Die Universität ist ein Ort der Gewalt – im doppelten Sinne. Einerseits zeigt sich Gewalt in den institutionellen Strukturen, die das Denken einhegen, schematisieren und auf Lernziele reduzieren. Damit erschafft die Universität immer einen Ausschluss. Wer gehört dazu und kann am Diskurs teilnehmen, wer muss draußen bleiben und hat keinen Anspruch zu partizipieren. Also alles Fragen der Gewalt, die dadurch entstehen, wer Macht über die Setzung des Diskurses und des Wissens ausübt.

Andererseits offenbart sich Gewalt auch in der Bewegung des Geistes selbst, der, wie Hegel schreibt, »nicht bloß natürlichen Todes stirbt«, sondern »als Tötung seiner durch sich selbst«, als »gewaltsamer Tod« erscheint. Wo der Geist aufhört, sich selbst zu hinterfragen, wo er in Routine und Gewohnheit erstarrt, erschöpft sich die Universität und verliert ihre Lebendigkeit und Plastizität, die immer auch die Gewalttätigkeit des Geistes ist. Gewalt ist daher auch in einem anderen Sinne zu verstehen, nämlich als das, was den Geist antreibt und erst zum Denken bringt. Deleuze betont zum Beispiel in seinem Buch über Proust, dass wir »die Wahrheit nur [suchen], wenn uns eine Art Gewalt widerfährt, die uns zu dieser Suche antreibt«. Wahrheit entsteht dabei nicht aus einem »vorgängigen guten Willen« und einem schöngeistigen Motiv, sondern aus der produktiven Gewalt desjenigen, was uns zum Denken zwingt, eines Gegenstandes, der uns zwingt, Gewohnheiten und bestehende Ordnungen in Frage zu stellen.

In diesem Spannungsfeld zwischen Gewalt und Geist zeigt sich, warum eine gewaltfreie Universität keine lebendige Universität sein kann. Eine Universität, die aufhört, den Geist in Bewegung zu halten oder der Bewegung des Geistes nachzugehen, reduziert sich auf die bloße Vermittlung von Wissen und wird dadurch geistfrei. Der Unterschied zwischen einem mittelmäßigen und einem guten Präsidenten liegt genau hier. Insofern der mittelmäßige Präsident die Universität bloß verwaltet, sie auf Effizienz, Rankings und Messbarkeiten reduziert und den Status quo einer erschöpften Institution verwaltet, gibt er bloß vor, dass sie noch lebendig ist. Sie ist kaputt, um den Beginn unseres Gesprächs wieder aufzugreifen, im Sinne von »erschöpft«, »erschlafft«. Der Geist hört auf, sich lebendig auf sich und die Gegenstände, die ihn motivieren zu beziehen und übt Gewalt gegen sich selbst aus bis zu dem Punkt, an dem er schließlich vollständig erschöpft ist.

Der gute Präsident hingegen erkennt, dass die Universität ein Raum sein muss, in dem der Geist weht: ein Geist, der unberechenbar, schöpferisch und widerständig ist. Er verteidigt die Offenheit des Denkens und widersteht der Versuchung, es durch starre Demarkationslinien zu institutionalisieren. Nur so kann die Universität ein lebendiger Ort bleiben, an dem gedacht und nicht bloß gewusst wird. Nur dadurch kann die Gewalt der Universität in einem besseren Sinne eingehegt werden.

Grundsätzlich kann man abschließend sagen, dass eine gewaltfreie Universität in diesem zweiten Sinne eine geistfreie Universität ist. Freilich müssen wir für diese Art der Gewalt des Geistes Partei ergreifen, damit die Universität nicht weiter zu einer Wüste des Wissens und zu einer kraftlosen und angepassten Institution verkommt.

Alexander García Düttmann, Jahrgang 1961, ist Professor für Philosophische Ästhetik, Kunstphilosophie, Kulturtheorie und Kunsttheorie an der Universität der Künste in Berlin. In seinem neuen Buch »Kaputt. Essay über Gewalt« verrät er, wie Gewalt und Kaputtsein zusammenhängen und warum Parteinahme Kritik ist und nicht blinde Affirmation.

Alexander García Düttmann: Kaputt. Essay über Gewalt. Diaphanes-Verlag, Zürich 2024, 200 Seiten, 20 Euro

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