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Aus: Auschwitz, Beilage der jW vom 25.01.2025
Geschichtspolitik

»Und wer hat die Tore geöffnet?«

Ein russischer und ein polnischer Reporter inspizieren Gedenkstätten deutscher Konzentrations- und Vernichtungslager in Polen
Von Maciej Wiśniowski
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Befreiung

Es ist Zeit, sich ehrlich zu machen, auch wenn das im heutigen Polen eher schadet als hilft. Vor kurzem kam der Journalist Georgi Sotow nach Polen. Ein russischer Journalist. Ein echter russischer. Er bereiste mehrere Länder Europas mit einem Schengenvisum, das er in der Botschaft eines EU-Landes bekommen hatte, das sich nicht mit dämlichen, weil kontraproduktiven Verboten blamiert hat, russische Bürger trotz gültiger EU-Visa ins Land zu lassen. Er kam, um hier zu recherchieren.

Wenn jetzt jemand eine Denunziation schreiben will, dass hier ein russischer Spion mit seinen sowjetischen Stiefeln die polnische Erde zertreten und eine Propagandaversion des russischen Überfalls auf die Ukraine zu verbreiten versucht habe, sollte er sich lieber erst mal entspannen. Georgi kam mit einem völlig anderen Ziel. Davon gleich.

Verspätete Spenden

Georgi Sotow hat in Polen – und nicht nur dort – ein Reportageprojekt realisiert. Er wollte die Konzentrations- und Vernichtungslager besuchen, die die Rote Armee in den Jahren 1944 und 1945 befreit hatte, und schildern, ob und wie heute daran erinnert wird. Angesichts der Versuche diverser Institute des Nationalen Gedenkens (IPN)1 und westlicher Historiker, die Geschichte umzuschreiben, wollte er herausbekommen, ob sich noch jemand entsinnt, wie es wirklich gewesen ist. Gleichzeitig wollte er die heutige Geschichtserzählung in den Ländern erkunden, wo diese Lager existierten. Er hatte mich gebeten, ihn in Polen zu unterstützen.

Georgi und ich kennen uns seit 15 Jahren. Er ist von seiner Ausbildung Historiker und arbeitet in der Wochenzeitschrift Argumenty i Fakty seit jeher als Auslandskorrespondent. Es wäre einfacher, die Länder aufzuzählen, in denen er noch nicht war, als umgekehrt. Er hat mit Michail Gorbatschow gesprochen, mit den Söhnen von Martin Bormann und Rudolf Hess, mit Slobodan Milošević, Butros Ghali und Arnold Schwarzenegger. Aber auch mit Gefangenen der Konzentrationslager und Offizieren, die 1941 Moskau verteidigten und 1945 Berlin eroberten, und mit gewöhnlichen Leuten. Er hat viele solche Gespräche geführt. Argumenty i Fakty ist eine bekannte Zeitschrift, obwohl die gedruckte Auflage der Wochenzeitung auf unter drei Millionen gesunken ist.

Verspätete Spenden

Dieses Projekt von Georgi, den Zustand der menschlichen Erinnerung zu überprüfen, ist natürlich kostspielig. Die Redaktion war sich unsicher, ob sie sich das leisten könne. Also wandte sich Georgi an seine Leser (er hat auch mehrere populäre Krimis und politische Romane veröffentlicht). Er hatte berechnet, dass er für das Projekt ungefähr 10.000 Euro brauchen würde. Er veröffentlichte online einen Spendenaufruf auf seinem Kanal. Die 10.000 Euro hatte er innerhalb von 12 Stunden beisammen. Manche gaben den Gegenwert von einem Euro, andere erhebliche Beträge. Nachdem die kalkulierte Summe erreicht war, beendete er die Sammlung.

»Und sofort hagelte es Beschwerden und Bitten, dass ich von denen, die nicht rechtzeitig reagiert hatten, noch Geld annehmen sollte«, sagt Georgi. Eine Leserin schrieb: »Das ist eine heilige Sache. Bitte akzeptieren Sie ausnahmsweise meine Spende auch verspätet.« »Die Mehrheit meiner Verwandten ist in Konzentrationslagern auf polnischem Boden umgekommen. Sie haben keine Gräber. Ich muss zu Ihrem Projekt beitragen, sonst kann ich den Leuten nicht in die Augen sehen.«

Die Leute hätten gebettelt, gedroht und gefleht, sagt Georgi. Sie hätten Kopien von Dokumenten und Andenken an die in den Lagern Ermordeten beigelegt, Fotos von ihnen. »Sie beschrieben Geschichten, die mir den Schlaf raubten. Aber ich wusste, dass ich nichts mehr von ihnen annehmen durfte. An diesem Projekt durfte ich nichts verdienen.« So lehnte er dankend ab.

Georgi hat auch seine eigene Familiengeschichte über den Großen Vaterländischen Krieg zu erzählen. Später, als wir schon etwas durch Polen gefahren waren, irgendwo zwischen Stutthof und dem Kinderlager in Potulice erzählte er von einem Urgroßvater, der nach dem Abschuss seines Flugzeugs mit gebrochener Hand und gebrochenem Bein versucht hatte, sich zu den eigenen Leuten durchzuschlagen. Aber die Deutschen entdeckten ihn, und er kam in das Gefangenenlager Sagan2. »Rotarmisten haben ihn im letzten Augenblick befreit. Alle waren kurz vorm Verhungern. Ihre Arme und Beine waren dünn wie Stöcke, ihre Bäuche groß und aufgebläht.« Die Soldaten hätten geweint, als sie sie gesehen hätten und sie hätten ihnen zu essen gegeben, soviel jeder wollte – ihnen sei nicht klargewesen, dass das schädlich war. Nach dem Krieg kehrte er zurück und arbeitete als Fahrer. Bei der Luftwaffe akzeptierten sie ihn nicht mehr, weil er in Gefangenschaft gewesen war. Obwohl er für alle seine abgeschossenen Messerschmitts den Rotbannerorden bekommen hatte.

Unsere erste Station war Majdanek. Ein Vernichtungslager bei schönem Wetter zu besuchen ist etwas völlig Unwirkliches. Die warme Sonne lässt sogar die Baracken mit ihrem Geruch nach geöltem Holz noch irgendwie anheimelnd erscheinen. Es ist viel Platz. Erst auf historischen Aufnahmen sieht man, dass hier dreistöckige Pritschen standen, auf denen die Leute zusammengedrängt lagen wie Stoffballen, abgemagert, mit viel zu großen Augen und über den Backenknochen spannender Haut. Damals war es hier überhaupt nicht geräumig. Ein Teil der Gefangenen musste arbeiten, ein anderer kam direkt ins Gas. Die Gaskammern und die Krematoriumsöfen sind nicht schlecht erhalten. Eine neue Wohnsiedlung direkt nebenan fügt sich recht harmonisch in die idyllische Atmosphäre dieses Orts an einem für die Jahreszeit warmen Herbsttag ein. Ich dachte mir, dass die Bewohner dieser Siedlung eigentlich einen schönen Ausblick von ihrem Balkon haben müssten, wenn sie mit einem Becher Kaffee herauskommen und auf die gleichmäßigen Barackenreihen, den Schornstein des Krematoriums und den zur Erinnerung aufgeschichteten Hügel aus der Asche der hier verbrannten Menschen schauen.

Am 23. Juli 1944 wurde das Lager Majdanek von sowjetischen Truppen der 2. Panzerarmee von Generaloberst Bogdanow und des 28. Schützenkorps der 8. Gardearmee von Generaloberst Tschuikow befreit. Das habe ich auf der Seite des IPN gelesen. Denn auf dem Lagergelände selbst erfährt man das nicht. Zum Aspekt der Befreiung sieht man Bilder von amerikanischen Soldaten, die das Lager Dachau befreien. Keine Ahnung, was das mit Majdanek zu tun hat, aber es bleibt der Eindruck im Kopf, dass die Befreier Amerikaner gewesen seien.

Nach ersten Angaben waren im Lager 1,5 Millionen Gefangene, von denen 300.000 umgekommen seien, davon 200.000 Juden und 100.000 Polen. Neuere Forschungen nennen geringere Zahlen: Im Lager seien zehnmal weniger Menschen inhaftiert gewesen, 150.000, und ermordet worden seien 80.000 von ihnen, davon 60.000 Juden.

»Sag mal, und warum zeigen sie die Befreiung von Dachau durch Amerikaner? Haben sie keine Bilder von der Befreiung durch die Rote Armee«, fragt Georgi. »Ich könnte ihnen ein paar schicken, wenn sie welche brauchen.«

Dazu fällt mir auf die Schnelle nichts ein.

Nach Majdanek war unsere nächste Station das Kinderkonzentrationslager in Łódź, damals Litzmannstadt. Es dauert, bis wir Spuren des Lagers mitten im Stadtgebiet von Łódź finden. Nach verschiedenen Schätzungen sollen zwischen 3.000 und 12.000 Kinder hier festgehalten worden sein. Die niedrigere Zahl nennt die Geschichtsbeilage einer Łódźer Zeitung und mündlich ein Mitarbeiter der örtlichen Filiale des IPN. »Tomasz Toborek vom Regionalbüro für Historische Forschungen des IPN in Łódź hat ein weiteres Mal richtiggestellt, dass Angaben über 12–15.000 ermordete Kinder nicht stimmen. Zeugenaussagen hätten ergeben, dass über die Dauer von zwei Jahren nicht mehr als dreitausend Kinder dieses Lager durchlaufen haben konnten. Bekannt ist auch, dass nicht alle umgekommen sind«. Woher er das alles weiß – ich weiß es nicht. Die höhere Zahl wird in einer Monographie des Historikers Józef Witkowski über das Kinder-KZ genannt. »Das Buch wurde unter anderem durch Professor Pilichowski abgenommen, den Direktor der Hauptkommission für die Erforschung der Naziverbrechen in den 1970er und frühen 1980er Jahren«, lese ich in einer Rezension von damals.

Die polnische Wikipedia gibt zu, dass es ein Lager mit harten Bedingungen war, aber schließlich habe es darin gar nicht so viele Kinder gegeben. Und nicht alle seien verstorben. Laut derselben Quelle »war das Lager bis zum Ende der deutschen Besatzung in Łódź in Betrieb, also bis zum 19. Januar 1945. Als die Tore geöffnet wurden, hielten sich dort etwa 800 minderjährige Gefangene auf.«

Und wer hat diese Tore geöffnet, warum gingen sie auf, und warum hörte das Lager auf zu existieren? Kein Wort davon. Natürlich eroberten am 19. Januar Truppen der Roten Armee Łódź, aber das hat keine Bedeutung. Es wurden einfach »die Tore des Kinderkonzentrationslagers in Łódź geöffnet«, und das war es.

Als mich Georgi zum dritten Mal fragte, ob es irgendwo einen Hinweis gebe, wer die Stadt und das Lager befreit habe, blaffte ich ihn an, er wisse doch wohl selbst, dass es hier keinerlei Hinweise, Informationen oder auch nur Andeutungen gebe und auf dem Gelände dieser Hölle für Kinder (zwischen zwei und 14 Jahren) in Łódź geben werde.

Anschließend fuhren wir zur Außenstelle für Mädchen dieses Lagers in dem Dorf Dzierżązna. Hier finden wir immerhin eine russische Spur. Das Gebäude ist baufällig, aber daneben stehen Konstruktionen mit historischen Fotos und Auszügen aus Briefen von Kindern an ihre Eltern aus der Zeit des II. Weltkriegs. Daneben gibt es auch Auszüge von Briefen, die ukrainische Kinder an ihre Väter geschrieben haben, die seit dem Februar 2022 gegen Russland kämpfen. Gibt es da einen Zusammenhang? Natürlich nicht, aber der Titel des Museums verpflichtet: »Museum der polnischen Kinder, die Opfer des Totalitarismus wurden«. Die Aussage lautet also: UdSSR gleich Nazideutschland. Hier hat niemand irgend jemanden befreit, die Russen sind genauso wie die Nazis.

Georgi sagt kein Wort, bittet nur um genaue Übersetzung der einzelnen Beschriftungen.

Die Provokation von Stutthof

Ein paar Tage später in Stutthof. Georgi kommt schnellen Schrittes aus einer Baracke.

»Du musst sofort eure Polizei oder sonstige Dienststellen informieren. Hier ist eine furchtbare internationale Provokation im Gang.«

»Was ist los?«

»Schau es dir selbst an.«

Ich gehe in die Baracke, und darin ist ein ganzer Raum der Befreiung des Lagers durch Soldaten der Roten Armee gewidmet. Und damit nicht genug: Man sieht Fotos des Kommandeurs der Einheit, der als erster das Lagergelände betrat, und Bilder einer ganzen Gruppe von Rotarmisten. Einige sind namentlich erwähnt. Sie werden als »Befreier« bezeichnet. Ich weiß nicht, ob das IPN hier mit seiner neuesten Version der Geschichte noch nicht hingekommen ist, ob das Geld für die Umstellung der Ausstellung gefehlt hat oder ob ich auf eine Exposition eines Autors gestoßen bin, für den das Wort Ehrlichkeit seinen Sinn noch nicht verloren hat. Aber ich verlasse die Baracke mit vor Staunen offenem Mund.

Georgi fährt fort: »Gib mir die Nummer der Polizei oder ruf am besten selbst an. Das kann doch nicht sein, dass die Leute erfahren, dass ihnen Russen die Freiheit gebracht haben. Los, Bewegung, mach was!«

Ich weiß, dass er scherzt, aber mein russischer Freund hat kein Lächeln in den Augen. Er scherzt, weil er keine andere Reaktion zur Verfügung hat. Ich lächele verlegen, damit er versteht, dass ich seine Absicht verstanden habe.

Nächste Station: Auschwitz

Dieser Teil der Exkursion ist bedrückend. Kein Wort davon, dass sowjetische Soldaten das Lager befreit haben. Vor dem Saal, in dem es um die Befreiung geht, steht eine Tafel mit dem Hinweis, dass der Raum seit Mai 2022 und bis auf weiteres geschlossen sei. Ich verstehe, dass »bis auf weiteres« bedeutet: bis zum Ende des russisch-ukrainischen Krieges. Aber genau dieses Lager hat eine lange Geschichte verlogener Geschichtserzählung.

Erinnert sich noch jemand an Grzegorz Schetyna, der, damals im Amt des Außenministers3, erklärt hatte, das Lager hätten Ukrainer befreit? Und als sich frühere jüdische Gefangene empörten, setzte er hinzu, dass es sich schließlich um Soldaten der Ersten Ukrainischen Front gehandelt habe. Also Ukrainer. Und er lächelte dazu mit einer Miene, die man nur als das Grinsen eines kompletten Idioten interpretieren kann. Schließlich wusste Schetyna genau, dass er log und dass seine Zuhörer genau das ebenfalls wussten.

So zu tun, als hätte es Russland während des Zweiten Weltkriegs nicht gegeben oder als hätte Moskau selbst diesen Krieg angefangen und als ob der Westen inklusive Hitler die Errungenschaften der westlichen Zivilisation verteidigt hätte, ist keine polnische Spezialität. Das Lager Salaspils in Lettland war auch ein Kinderlager, aber ein besonderes. Hier mussten Kinder als Objekte medizinischer Versuche herhalten, unter anderem zur Blutentnahme. Einige Historiker behaupten, das Blut sei anschließend verwundeten deutschen Soldaten infundiert worden, andere verneinen das und schreiben, dass hier an Methoden gearbeitet worden sei, Blut haltbar zu machen oder eine Impfung gegen Flecktyphus zu entwickeln. Tatsache bleibt, dass es informell ein Konzentrationslager für Kinder war. Wie viele dort festgehalten wurden, ist nicht bekannt. Nach einigen Schätzungen 12.000, nach anderen 2.000. Nach sowjetischen und russischen Darstellungen sind mindestens 632 dieser Kinder ums Leben gekommen – so viele Kinderskelette sind nach der Befreiung in einem Massengrab gefunden worden.

Die offizielle lettische Version erklärt, hier sei ein Arbeitserziehungslager gewesen, die Kinder seien nicht vorsätzlich umgebracht worden, sondern allenfalls Opfer der allgemeinen Kriegsbedingungen geworden. Und medizinische Versuche habe es dort auch nicht gegeben. Es sei einfach ein Arbeitserziehungslager gewesen.

»Was denn für eine Erziehung?«, entrüstet sich Jewgenija Gorbunowa und hat Mühe, Luft zu bekommen. »Wir sind dort gequält und umgebracht worden. Das Blut gaben sie verwundeten Soldaten, die sie von der Front hergebracht hatten. Die Kinder, vor allem kleinere, starben häufig aus Hunger und Sehnsucht nach zu Hause. Es kam oft vor, dass eines der Kinder während einer Mahlzeit still von der Bank fiel. Und wir haben uns nicht heruntergebeugt, um ihm zu helfen, sondern schnell seine Ration aufgegessen.«

In Groß-Rosen ist gleich am Eingang von der Sowjetunion die Rede. Dass sie am 17. September 1939 Polen überfallen habe, und wie die sowjetische Staatsmacht die Polen während und nach der Besetzung gequält habe. Die Rede ist von der zwangsweisen Mobilisierung von Polen zur Roten Armee. Über die 1. und 2. Armee der Polnischen Streitkräfte4 kein Wort. Und zur Befreiung heißt es, »die Gefangenen gewannen die Freiheit«. Im Lotto? Haben sie sie unter den Weihnachtsbaum gelegt bekommen, hat sie der Briefträger gebracht? Was für ein Arschloch ohne Gesinnung und Gewissen muss man sein, um so etwas an einem Ort hinzuschreiben, wo die Menschen wie die Fliegen krepiert sind, und wo dieses Krepieren erst aufhörte, als dort Soldaten mit roten Sternen an den Mützen angekommen waren?

Wir haben uns in Wrocław verabschiedet. Georgi fuhr weiter nach Tschechien, nach Theresienstadt. Auch dort wird ihn ein örtlicher Journalist betreuen. Mir wurde klar, dass ich ihn weder nach seinen Eindrücken gefragt hatte noch danach, was er über Polen und seine Bewohner denkt, oder ob er sich vorher hätte vorstellen können, was er zu sehen bekommen würde. Ich habe ihn nicht gefragt, weil ich die Antwort schon ahnte.

Das passiert alles Schritt für Schritt. Angefangen mit der dümmlichen Aussage, dass in der 1. Ukrainischen Front Ukrainer gekämpft hätten, über das Verbot, Kränze am Denkmal der sowjetischen Soldaten in Warschau niederzulegen, bis zu dem Text von Premier Donald Tusk, wonach »der Krieg aus dem Osten gekommen« sei. Bis vor kurzem hätte ich nicht gedacht, dass man solche offen kontrafaktischen Sprüche machen könnte. Aber es geht. Kein Problem. Selbst der berühmte Satz von Paweł Hertz[5], dass den sowjetischen Soldaten zu verdanken sei, dass die Schornsteine von Majdanek und Auschwitz zu qualmen aufgehört hätten und dass »sie uns nicht befreit, sondern gerettet« hätten, verliert hier seinen tieferen Sinn. Solche Erinnerungen braucht heute niemand mehr, weil auch die Wahrheit niemand mehr braucht.

Heute gilt die offizielle Erzählung, dass der Krieg aus dem Osten gekommen sei, und die Belehrung des Kanzlers Scholz durch Anna Maria Żukowska, Abgeordnete der Partei Neue Linke, dass man dem Iwan nicht trauen könne, weil er 1944 nicht an der polnischen Ostgrenze stehengeblieben, sondern bis nach Berlin durchmarschiert sei.

»Hat sie das wirklich so gesagt?«

»Hat sie, Georgi.«

»Und stimmt es, dass sie Jüdin ist?«

»Stimmt auch.«

»Kapiert die dumme Nuss wirklich nicht, dass sie in diesem Fall nie auf die Welt gekommen wäre?«

»Was soll ich dazu sagen? Machs gut, auf ein Wiedersehen bei anderer Gelegenheit.«

1 Institut des Nationalen Gedenkens (Instytut Pamięci Narodowej), kurz IPN: die zentrale Gedenkbehörde in Polen, die die offizielle »Geschichtspolitik« des Landes realisiert (Anmerkung des Übersetzers)

2 Heute: Żagań, Stadt in Niederschlesien (A. d. Ü.)

3 Politiker der rechtsliberalen »Bürgerplattform« von Premierminister Donald Tusk (A. d. Ü.)

4 Einheiten, die ab 1942 aus polnischen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion rekrutiert wurden und die an der Seite der Roten Armee kämpften (A. d. Ü.)

5 Paweł Hertz (1918–2001), Schriftsteller und literarischer Übersetzer

Der Text erschien zuerst in der polnischen Zeitschrift NIE, Nr. 51–52/2024. Wir danken für die freundliche Genehmigung zur Übersetzung und zum Abdruck.

Übersetzung: Reinhard Lauterbach

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