Offener Brief an die Einsatzleitung beim Castor-Transport: Proteste gegen Atommüll-Transport sind legitim - Polizeikonzept darf nicht auf Gewalt setzen
Keine Gewalt! Mit einem offenen Brief wenden sich 57 Politiker und Prominente an die Verantwortlichen für die Einsatzleitung beim Castor-Transport. Eine Eskalation der Gewalt wie während der Baumfällungen im Stuttgarter Schlosspark dürfe sich im Wendland nicht wiederholen. Es sei legitim, wenn Menschen gegen die Verfehlungen der Regierung aktiv werden.
Zu den Unterzeichnern des Appells gehören neben Aktiven aus dem Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 auch die Schauspieler Angelica Domroese und Hilmar Thate, 20 Abgeordnete aus dem Bundestag, den Landtagen und dem EU-Parlament, Sprecher von Parteijugenden, Wissenschaftler und Gewerkschafter.
Der Castor-Zug soll am Wochenende aus der französischen Wiederaufbereitungsanlage La Hague ins niedersächsische Gorleben rollen. Insbesondere auf dem letzten Schienenstück von Lüneburg nach Dannenberg und auf der Straße nach Gorleben wird es Aktionen von Menschen geben, die ein Aus für die gefährliche Atomkraft fordern. (jW)
Valognes. Unter hohen Sicherheitsvorkehrungen ist soeben der Castor-Transport mit hoch radioaktivem Atommüll im französischen Valognes gestartet. Die Fracht soll bis Sonntag rund 1 000 Kilometer quer durch Frankreich und Deutschland rollen. Am Montagmorgen soll der Zug das Atommülllager Gorleben erreichen.
Castortransport: Atomgegner kündigen Massenaktionen zivilen Ungehorsams an. Polizei befürchtet Verkehrschaos bei Großdemo am Sonnabend
Es gibt wohl kein Zurück mehr. Die letzten der elf Castorbehälter mit hochradioaktivem Atommüll haben die Wiederaufarbeitungsanlage im nordfranzösischen La Hague verlassen und sind im Bahnhof Valognes auf Waggons verladen worden. Am heutigen Freitag nachmittag soll der Zug zu seiner tausend Kilometer langen Fahrt ins Wendland starten.
»Alle Appelle an die Politik, diesen Transport abzusagen, sind verhallt«, beklagt die Bürgerinitiative (BI) Umweltschutz Lüchow-Dannenberg (BI). »So wird nach Stuttgart nun auch Gorleben folgen, und die Polizei muß austragen, daß die Bundesregierung sich vor den Karren der Atomwirtschaft hat spannen lassen.« Gleichwohl, so BI-Sprecher Wolfgang Ehmke in einer Art letztem Aufruf, sei »eine Absage des Transports immer noch möglich«.
Glauben mögen die Atomkraftgegner daran aber nicht. Sie bereiten sich weiter auf die Großdemonstration am Samstag und viele andere Aktionen vor. Bereits heute morgen wollen in Lüchow die Schülerinnen und Schüler gegen den Castortransport auf die Straße gehen. Ihr Motto: »Je länger eure Laufzeit, desto größer unser Zorn!« Weitere Demonstrationen waren für den Abend in Uelzen und Lüneburg angekündigt.
In Gedelitz bei Gorleben hat »X-tausendmal quer« damit begonnen, ein Camp zu errichten. Die Initiative hat eine große Sitzblockade auf der Zufahrtsstraße zum Zwischenlager angekündigt. Etwa 1700 Menschen haben bis gestern im Internet erklärt, sie würden sich daran beteiligen.
»Die Resonanz ist überwältigend«, sagte Luise Neumann-Cosel, die Sprecherin von »X-tausendmal quer«. Sie erwartet, daß Tausende auch ohne vorherige Ankündigung an der Abriegelung teilnehmen werden. »Sie sind nicht nur bereit, viele Stunden auf der Straße zu sitzen, sondern lassen sich auch von eventuellen rechtlichen Folgen nicht abschrecken.«
Die wendländische Gruppe »Widersetzen« will am Sonntag mit einer großen Sitzblockade auf den Schienen in das Protestgeschehen eingreifen. »Hunderte und vielleicht Tausende werden sich auf den Castorgleisen niederlassen, friedlich und entschlossen, und die Schienen freiwillig nicht wieder verlassen«, war Sprecher Jens Magerl überzeugt. Einige Teilnehmer wollen sich auch aneinanderketten.
»Unsere Aktion ist eine Sitzblockade, dabei werden wir nicht schottern«, stellt Magerl klar. Allerdings verbinde »Widersetzen« mit den Schotterern »eine freundliche Nachbarschaft«. »Schottern ist einfach eine andere Aktionsform, die einen anderen Personenkreis anspricht.« »Widersetzen« wende sich »entschieden gegen die Kriminalisierungsversuche dieser Form des zivilen Ungehorsams«. Letzterer sei eine »Notfallmedizin für die Demokratie. Und noch besteht Hoffnung, die Patientin zu retten.«
Für die Kundgebung am Samstag befürchten Atomkraftgegner und Polizei unterdessen ein Verkehrschaos. Jochen Stay, Sprecher von ».ausgestrahlt«, glaubt, »daß die Demonstration gegen den Castortransport so groß wird, daß gar nicht alle ankommen«. Viele Menschen würden das Kundgebungsgelände womöglich nicht erreichen, sondern unterwegs im Stau steckenbleiben. Auch der Gesamteinsatzleiter der Polizei, Friedrich Niehörster, hält größere Verkehrprobleme für wahrscheinlich. »Es wird schwierig sein, sich im Wendland flüssig zu bewegen«, lautet seine Prognose.
Mindestens 30000 Menschen, wahrscheinlich viel mehr, wollen am Sonnabend auf einem Acker bei Dannenberg gegen Castortransporte und Atomkraft protestieren. Die Demonstranten reisen in rund 300 Bussen und mindestens 6000 Autos an. Um wenigstens das ganz große Durcheinander auf den Straßen zu vermeiden, haben Atomkraftgegner und Polizei gemeinsam ein Verkehrskonzept ausgeklügelt. In und um Dannenberg wurden tausende Parkplätze für Pkw organisiert. Fußgänger, Autos und Trecker sollen möglichst auf getrennten Wegen zum Kundgebungsort gelangen. Auch von den Atommüllstandorten Asse und Schacht Konrad sowie aus dem Kreis Göttingen werden Traktorenkonvois erwartet.
Die Polizei rechnet am Wochenende im Wendland mit kühnen und trickreichen Gegnern. 17000 Beamte sollen den Atommülltransport nach Gorleben schützen
Auf ein bewegtes Wochenende mit »Sabotage- und Blockadeakten« gegen den Atommülltransport ins Zwischenlager Gorleben bereitet sich die Polizei im niedersächsischen Wendland vor. Läuft alles nach Plan, soll der Castortransport mit dem hochradioaktiven Abfall am heutigen Freitag in der französischen Wiederaufbereitungsanlage La Hague starten und am Sonntag per Bahn im Wendland eintreffen. Das letzte Stück sollen die Behälter auf Lastwagen nach Gorleben gebracht werden. Bei den geplanten Protestaktionen werden über 30000 Atomkraftgegner erwartet – so viele wie seit 30 Jahren nicht. Rund 17000 Polizeibeamte aus fast allen Bundesländern werden ihnen gegenüberstehen.
Das Nachrichtenportal Spiegel online erwähnte am Donnerstag »interne Unterlagen«, die »zeigen, daß die Beamten zur Zurückhaltung angehalten sind«, und zitierte ausführlich aus einem Einsatzbefehl. Demzufolge rechnet die Polizei mit rund 150 »gewaltbereiten Autonomen« (das wären rund 0,5 Prozent der erwarteten Protestteilnehmer) sowie vielfältigen »Aktionstechniken« der Castorgegner. »Körperverletzungen und Sachbeschädigungen werden dabei in Kauf genommen.« Auch die Schottertaktik finde im 92seitigen Befehl des Polizeiführers Matthias Oltersdorf besondere Erwähnung: »Seit August hat sich die Idee einer großflächig angelegten Entfernung von Schottersteinen aus dem Gleisbett in der ›Störerszene‹ etabliert«, zitiert Spiegel online aus »einer ebenfalls vertraulichen Lageeinschätzung des Landeskriminalamts Berlin«.
Das »Schottern« sei vielleicht nicht legal, aber legitim, sagt Tadzio Müller, einer der Sprecher der Kampagne »Castor? Schottern!«. Ein gezielter Rechtsbruch, aber friedlich. An der deutsch-französischen Grenze wollen am Samstag Atomkraftgegner aus Südwestdeutschland den Castortransport mit einer Sitzblockade in Berg/Pfalz stoppen. Die Blockade sei als friedlicher Protest geplant, betonte am Donnerstag der Sprecher der südwestdeutschen Antiatominitiativen, Andreas Raschke, gegenüber der Nachrichtenagentur dapd. Ein Sprecher des Polizeipräsidiums Rheinpfalz sagte, die Polizei werde dafür sorgen, daß das Demonstrationsrecht gewährleistet bleibe, bei Straftaten aber konsequent einschreiten.
Laut Spiegel online befürchten die Einsatzkräfte, daß sich Castorgegner erneut erfolgreich als Polizisten ausgeben und auf diese Weise Straßensperren durchbrechen könnten. Mitte August war es mehreren Aktivisten im niedersächsischen Bad Nenndorf gelungen, eine Betonpyramide hinter den Linien der Polizei zu errichten. Als Requisiten genügten ihnen olivfarbene Hosen, Stiefel und schwarze Kopfbedeckungen sowie eine polizeitypische Zeitschrift, ein Ausdruck des niedersächsischen Landeswappens und ein Imitat einer Einheitskennzeichnung hinter der Windschutzscheibe. Vielleicht fehlte den echten Polizisten an dieser Stelle aber auch der Enthusiasmus – sie wären damit nicht allein: »Die Polizei ist nicht dazu da, politische Ziele blind durchzusetzen, die Bürger verhindern wollen«, kritisierte am Donnerstag der stellvertretende Bundesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, Bernhard Witthaut. Je mehr Leute friedlich demonstrierten, um so massiver gehe das Signal an die Politik, daß Beteiligungsformen der Bürger viel intensiver genutzt werden müssen, sagte Witthaut den Stuttgarter Nachrichten (Freitagausgabe).