»Atomenergie ohne Basis«
Teils grimmig, teils lächelnd sehen Zeitungskommentatoren die Anti-Atom-Bewegung mittelfristig siegen.
Im »General-Anzeiger« heißt es unter der Überschrift »Atomenergie ohne Basis«:
»Massiv wie lange nicht, aber auch aggressiv wie lange nicht standen sich am Wochenende Atom-Gegner und Polizei gegenüber. Mancher Beobachter fühlte sich an die böse alte Zeit der 70er und 80er Jahre erinnert, als die Anti-Atomkraft-Bewegung Zulauf hatte wie nie, als die Kämpfe um Gorleben teilweise bürgerkriegsähnliche Ausmaße annahmen. Klar ist: Viele Castor-Demonstranten nutzten den Anlaß, um ihrem Protest gegen die Verlängerung der Atomlaufzeiten Ausdruck zu verleihen. Genauso klar ist: Egal wie viele Atomkraftwerke weltweit neu geplant werden - in Deutschland hat diese Technik der Energiegewinnung keine gesellschaftliche Basis.«
Die »Neue Westfälische« schreibt in der Montagsausgabe:
»Anläßlich des Atommülltransports nach Gorleben waren zehntausende Demonstranten gekommen. Ihr Protest blieb nicht überall friedlich. Entlang der Gleise kam es immer wieder zu massiven Auseinandersetzungen. Die Polizei setzte Wasserwerfer, Schlagstöcke und Pfefferspray ein. »Trotz massiver Polizeigewalt gehen die Aktivisten immer wieder auf die Gleise und schottern.« Mit solchen Meldungen zeigten sich die Aktivisten ungebrochen. Schottern, das bedeutet, Steine aus dem Gleisbett zu räumen, damit der Castor-Zug dort nicht mehr sicher fahren kann. Man mag das als Sachbeschädigung oder gefährlichen Eingriff in den Bahnverkehr bewerten. Doch in Wirklichkeit werden im Wendland nicht ein paar Gleise, sondern es wird völlig zu Recht die gesamte Atompolitik der schwarz-gelben Bundesregierung attackiert und unterhöhlt. Mit ihren Kniefällen vor der Atomindustrie und der Verlängerung der Laufzeiten für die Atomkraftwerke ist die Regierung auf dem besten Weg, die Gesellschaft zu spalten.«
Ähnlich sieht es die »Süddeutsche Zeitung« in München:
»Der Castor ist kein Konzept; er ist die rollende Ratlosigkeit. Daher waren und sind die ewigen Proteste gegen den Castor so wichtig: Sie haben dafür gesorgt, daß das Bewußtsein für das größte Problem der Atom- und Energiewirtschaft wach bleibt. Das ist das Verdienst des Widerstands von Gorleben, der zu einer Volksbewegung geworden ist, getragen von Hausfrauen, Pfarrern, Lehrern und Bauern. Und es ist ein Fiasko für diesen friedlichen Protest, wenn er von Gewalttätern diskreditiert wird. Solche Gewalt erlaubt es nämlich einer verbohrten Atompolitik, von der empörten und neu erwachten Massenkritik an der rollenden Ratlosigkeit der Atompolitik abzulenken.«
Andere haben zwar nichts für die Atomkraftgegner übrig, halten die Regierung zumindest für unfähig, die Segnungen der Atomkraft vernünftig zu erklären.
So zum Beispiel die »Kieler Nachrichten«:
»Union und FDP überlassen der Opposition kampflos das Feld. Statt die Notwendigkeit eines Atommülllagers zu erklären, statt für die klimafreundliche Atomenergie zu werben, statt Gesetzesbrüche im Wendland anzuprangern, schieben sie der Polizei die Verantwortung zu. Die sieht die Begründung politischer Entscheidungen zu Recht nicht als ihre Aufgabe an. Da muß es niemanden mehr wundern, daß die Demonstranten die Argumentations- und Agitationslage beherrschen. Sie können sich als die moralischen Helden aufspielen, die es wieder einmal geschafft haben, den Castortransport aufzuhalten.«
Die »Westdeutsche Zeitung« meint unter der Überschrift »Die Gewaltexzesse in Gorleben schaden den Demonstranten«:
»Was die Bilder nicht zeigen können, ist die Intensität, mit der die Gewaltbereiten unter den Kernkraftgegnern vorgehen. Molotow-Cocktails auf Polizeifahrzeuge überschreiten die Grenze dessen, für das Beobachter noch Verständnis aufbringen können. Protest hat mit Kultur zu tun. Zerstörungswut bis hin zu schwerer Körperverletzung aber ist kulturlos, mithin nicht mehr als Protest zu bezeichnen, also kriminell. Dabei genießt der Widerstand gegen ein Endlager in Gorleben und gegen die Entscheidung der Bundesregierung, die Laufzeiten von Atomkraftwerken deutlich zu verlängern, in weiten Teilen der Bevölkerung durchaus Sympathie.«
Auch die »Rhein-Neckar-Zeitung« aus Heidelberg befaßt sich mit der Eskalation der Gewalt bei den Anti-Castor-Protesten:
»Daß die Polizei in diesem Jahr aggressiver auf die provokativen Aktionen der Castor-Gegner reagierte als in den Vorjahren, hat vielleicht mit der politischen Leitlinie aus den Innenministerien zu tun. Vielleicht aber auch damit, daß mittlerweile sämtliche gesellschaftlichen Großkonflikte - wie zum Beispiel Stuttgart 21 - auf dem Rücken der Ordnungshüter ausgetragen werden. Insofern sind auch die Anti-Castor-Proteste ein Wink mit dem Zaunpfahl für Schwarz-Gelb, daß sich ihre Politik immer weiter von den Bedürfnissen der Menschen entfernt.«