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Marx 200

Marx 200

Am 5. Mai 1818 wurde Karl Marx geboren – gemeinsam mit seinem Freund Friedrich Engels sollte er Weltgeschichte schreiben. Marx lebte in der Zeit des entstehenden Kapitalismus. Die Analyse der Entfesselung der Produktivkräfte bildet sein wissenschaftliches Hauptwerk. Die Überwindung dieser zutiefst unvernünftigen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung war das Hauptinteresse des Politikers und Revolutionärs.

Hintergrund

  • · Hintergrund

    Widerspruch und Dialektik

    Das Gesetz vom Widerspruch muss auch auf den Marxismus Anwendung finden
    Wolfgang Fritz Haug
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    In seiner listigen Befreiung durch Herakles scheint die Potenz des Marxismus auf, mit Widersprüchen zu operieren — der an den Felsen gekettete Prometheus (Ölbild von Antonin Prochazka, 1911)

    In diesen Tagen erscheint das Heft Nummer 329 der Zeitschrift Das Argument unter dem Titel »Marx 200 und Achtundsechzig 50« mit Beiträgen von Peter Jehle, Frigga Haug, Klaus Weber und vielen anderen. Wir veröffentlichen daraus mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber den Beitrag von Wolfgang Fritz Haug »Widersprüche des Marxismus« – leicht gekürzt und unter Weglassung weiterführender Fußnoten. Das aktuelle Heft kann bestellt werden unter: www.argument.de (jW)

    Seit der Frühzeit des Marxismus ist immer wieder gefordert worden, diesen seinen eigenen Grundsätzen entsprechend zu begreifen. Im folgenden werde ich diesem Anspruch dadurch zu genügen versuchen, dass ich den Marxismus von dem Standpunkt aus begreife, den Marx seine »dialektische Methode« nannte.

    Bereits Henri Lefebvre hatte dazu angesetzt, »die lebendigen und gelebten Widersprüche, d. h. die Dialektik« des Marxistseins zu denken, und Adam Schaff mahnte 1978, diese Dialektik werde »leider zumeist ignoriert«. Aber wie ist sie zu verstehen? Es kann hier nicht um einen einseitig deterministischen Ansatz gehen, denn die geschichtsmaterialistisch verstandene Determination wirkt nie unvermittelt. Sie resultiert aus der Wechselwirkung von weltverändernder Praxis mit der zu verändernden Wirklichkeit. Dieses Verhältnis ist ein gleichsam polemisches, eines der Gegensätze und kann, »wie alles, was mit Konflikt, Zusammenstoß, Kampf zusammenhängt, ohne materialistische Dialektik keinesfalls behandelt werden« – so hat es der marxistische Dichter-Philosoph Bertolt Brecht 1956, ein halbes Jahr vor seinem Tode, notiert. Mit diesem Gedanken stand Brecht nicht allein. Auf eine Umfrage aus dem Vorjahr, 1955, antwortete er: »Die Lektüre, die im vergangenen Jahr den stärksten Eindruck auf mich gemacht hat, ist Mao Tse-tungs Schrift ›Über den Widerspruch‹.« Mao eröffnet diese Schrift mit der These: »Das Gesetz des Widerspruchs, der den Dingen innewohnt, oder das Gesetz der Einheit der Gegensätze, ist das fundamentalste Gesetz der materialistischen Dialektik.«¹

    Vorklärungen

    In meinem Beitrag will ich zeigen, dass dieser Satz auch für die Bewegungsformen des Marxismus in seiner Geschichte Gültigkeit hat. Dazu sind zwei Vorklärungen nötig, eine zum Begriff des Widerspruchs und eine zweite zum Begriff der Dialektik. Was Widersprüche betrifft, so halten viele sie für etwas zu Vermeidendes. Und sie haben recht, wenn sie damit meinen, bei Erklärungen und Handlungen Konsistenz, also Widerspruchsfreiheit, anzustreben. Wenn Marx von Widersprüchen redet, meint er jedoch reale, objektive Widersprüche. Diese sind mit Kants Begriff des »Realgegensatzes« vergleichbar. Das einfachste Beispiel bietet die Ware. Sie ist einerseits Gebrauchswert als konkreter Reichtum, andererseits aber, und dominant, ist sie Wert als abstrakter Reichtum, Geld in spe, in dem vom konkreten Reichtum abstrahiert ist. Ihrer Produktion liegt gesellschaftliche Arbeitsteilung zugrunde, zugleich erfolgt sie ungesellschaftlich. Anders gesagt, der Warenproduzent produziert für die Gesellschaft, aber wirtschaftet in die eigene Tasche. Diese und andere Eigentümlichkeiten fasst Marx in dem Satz zusammen, »dass der Austauschprozess der Waren widersprechende und einander ausschließende Beziehungen einschließt. Die Entwicklung der Ware hebt diese Widersprüche nicht auf, schafft aber die Form, worin sie sich bewegen können. Dies ist überhaupt die Methode, wodurch sich wirkliche Widersprüche lösen.«²

    Über diese Widersprüche muss jedoch selbstverständlich in logisch konsistenter, d. h. widerspruchsfreier Weise gesprochen werden. Die Doppeldeutigkeit des Wortes Widerspruch, dass es sowohl auf die Logik von Aussagen als auch auf die Struktur der ausgesagten Gegenstände sich beziehen kann, kommentiert Marx: »Dass das Paradoxon der Wirklichkeit sich auch in Sprachparadoxen ausdrückt, die dem common sense widersprechen, dem what vulgarians mean and believe to talk of, versteht sich von selbst. Die Widersprüche, die daraus hervorgehn, dass auf Grundlage der Warenproduktion Privatarbeit sich als allgemeine gesellschaftliche darstellt, dass die Verhältnisse der Personen als Verhältnisse von Dingen und [als; WFH] Dinge sich darstellen – diese Widersprüche liegen in der Sache, nicht in dem sprachlichen Ausdruck der Sache.« (MEW 26.3, 134)

    Der wirkliche Widerspruch lässt sich begreifen als die Einheit von Einheit und gegensätzlicher Spaltung. Nun mag man denken, es ist für Marx eben der Kapitalismus von Widersprüchen heimgesucht, und die Überwindung des Kapitalismus löst alle Widersprüche auf. Doch dann wäre nicht einzusehen, warum Marx im »Hegelschen ›Widerspruch‹« die »Springquelle aller Dialektik« sieht (MEW 23, 623, Fn. 41), die es nur aus der idealistischen Form in die geschichtsmaterialistische zu übersetzen gelte. Im Sinne dieser Übersetzung traf Mao die marxsche Auffassung genau, als er Widersprüche in allen Dingen und Erscheinungen annahm.

    Widersprüche sind jedoch nicht nur unvermeidlich wie eine ontologische Grundgegebenheit, sondern wirken auch als Motoren der Entwicklung. Vor Gericht, sagt Rosa Luxemburg, gilt der einzelne als überführt, wenn er sich in Widersprüche verwickelt, »die menschliche Gesellschaft im ganzen aber verwickelt sich fortwährend in Widersprüche, sie geht aber daran nicht zugrunde, sondern tritt umgekehrt erst dann in Bewegung, wo sie in Widersprüchen steckt«. Zur Bekräftigung lässt sie Hegel sagen: »Der Widerspruch ist das Fortleitende.«³

    Diesem Bewegungsantrieb, der ebenso schöpferisch wie zerstörerisch ausfallen kann, kommt eine Schlüsselrolle zu. Die Frage nach ihr führt zur zweiten Vorklärung. Sie betrifft den Begriff der Dialektik. Vorstellungen wie die, man könne die Hegelsche Dialektik einfach »umstülpen«, weil sie bei ihm »auf dem Kopf steht«, führen in die Irre. Denn während Marx zwar die idealistische, Hegelsche Dialektik »auf die Füße gestellt« hat, kann dieser Akt doch nicht als einfache Umkehrung begriffen werden. Die Übertragung hegelscher Denkformen auf geschichtsmaterialistischen Boden verlangt ihre Rekonstruktion von Grund auf, wobei »die Textur auseinandergenommen und nach einem völlig anderen ›Algorithmus‹ zusammengesetzt werden« muss.⁴ Meine jahrzehntelangen Untersuchungen zur marxschen Praktizierung der Dialektik im »Kapital« und die dabei gemachte Beobachtung, dass und wie Marx die Widersprüche und die Übergänge zu ihren Bewegungsformen durch Analyse der Praxis entwickelt, haben mich dazu geführt, sie als Dialektik der Praxis zu charakterisieren. Praxis meint hier das Verhalten in bestimmten Verhältnissen, die ihm seine Bedingungen vorgeben und die es modifiziert. Im Anschluss daran lässt sich zwischen theoretischer Dialektik und praktischer Dialektik unterscheiden. Sie bezieht sich auf menschliches Handeln, gerade auch auf organisiertes Handeln, unter dem Gesichtspunkt des Umgangs mit Widersprüchen oder der »Eingriffe in ein widersprüchliches Feld«.⁵ Hier kommt eine radikale Zweideutigkeit der Widersprüche in den Blick: Sie sind Gefahr und Chance in einem. Sie bedrohen die durch Organisation erreichbare Handlungsfähigkeit, während sie zugleich den Moment des möglichen Sprunges auf ein höheres Niveau anzeigen.

    Operieren mit Antinomien

    Eine Notiz Bertolt Brechts aus dem Jahre 1932 mündet in den Satz: Damit die Gegensätze nicht die Organisation spalten, »ist Operierenkönnen mit Antinomien nötig«.⁶ »Operierenkönnen mit Antimonien« bedeutet hier konkret, dass die kommunistische Partei, um nicht von Widersprüchen zerrissen zu werden, auch einander ausschließende Interessen verschiedener Sektoren ihrer Klassenbasis berücksichtigen muss (1932 vor allem Arbeitende vs. Arbeitslose). In diesem Sinn können wir im Rahmen der praktischen Dialektik zwischen aktiver Dialektik und passiver Dialektik unterscheiden. Die aktive Dialektik lässt sich mit der Kunst des Wellenreitens vergleichen, die passive mit dem Überrollt-Werden von der Welle. Für eine politische Führung, die immer neu eine Einheit von Unterschieden und zum Teil auch von Gegensätzen herstellen muss, kann die Kunst der aktiven Dialektik zur Überlebensfrage werden.

    Formt die praktische Dialektik ihre Begriffe im Blick auf Widersprüche, mit denen weltverändernde Praxis zu rechnen hat, so ist ihr Ernstfall eine konkrete Situation, die Ziele und Wege, Zwecke und Mittel in einen unvermeidlichen Gegensatz bringt. Praktisch geht es um die Stärkung der Fähigkeit, aktuelle oder potentielle Krisenerscheinungen in der Perspektive ihrer möglichen Abwendung oder sogar ihrer Nutzung als Anstoß für Erneuerung wahrzunehmen.

    Der Nutzen unserer Fragestellung für das marxistische Selbstverständnis erschließt sich, wenn man sich klarmacht, dass die Nachzeichnung der »Windungen und Wendungen«, der »Zickzackwege« des internationalen marxistischen Sozialismus sich in Millionen Details verlieren würde. Um dies zu verhindern, lenkt sie die Aufmerksamkeit auf die strukturellen Widersprüche des marxistischen Projekts, seine internen ebenso wie die äußeren, in seinem Verhältnis zu seinem gesellschaftlichen Umfeld sich ergebenden. Die internen Widersprüche des marxistischen Projekts lassen sich als Determinanten langer Dauer fassen, die in den wechselnden Konjunkturen in unterschiedlicher Weise virulent werden. Im Folgenden versuche ich, Aspekte einer Dialektik des Marxismus auf der Spur seiner konstitutiven Widersprüche zu skizzieren.

    Der Weg von der marxschen Theoriebildung bis zur tatsächlichen geschichtlichen Geburt des Marxismus umfasst beinahe ein halbes Jahrhundert. Die Möglichkeit blitzt auf in den Monaten vor der bürgerlich-demokratischen 1848er Revolution in Gestalt des »Manifests der kommunistischen Partei«, das Marx 1847 im Auftrag eines kleinen, in London gegründeten Geheimbunds, des »Bundes der Kommunisten«, verfasste. Doch diese Schrift, bis heute eine der am weitesten verbreiteten auf der Welt, verschwand für ein Vierteljahrhundert in der Vergessenheit. Der zweite Moment, nun schon mit geballtem geschichtlichen Potential, ereignete sich siebzehn Jahre später. Marx formulierte die Inauguraladresse, mit der die Internationale Arbeiter-Assoziation (IAA), später bekannt als Erste Internationale, sich mit einem Paukenschlag auf der geschichtlichen Bühne zu Wort meldete. Dies ist der Geburtsmoment der modernen Arbeiterbewegung, noch nicht des Marxismus.

    Philosophie der Praxis

    Die marxsche Theorie bildet sich aus der Kritik zeitgenössischer Konzeptionen und der in diesen weiterwirkenden historischen Traditionen. Für die Rezeption der marxschen Theorien durch die späteren Marxisten ergibt sich daraus ein Widerspruch, der, solange er unbemerkt wirkt, eine passive Dialektik in Gang setzt und die Schüler von Marx hinter Marx zurückwirft. Kritik ist antithetisch, und die These, der sie sich entgegensetzt ist die des Gegners. Der erste, der auf das Problem hingewiesen hat, ist Antonio Labriola. Er macht es an Engels’ »Anti-Dühring« fest. Dieses Buch entwickle »keine Thesen, es ist vielmehr antithetisch«. Was dabei verloren zu gehen droht, nennt Labriola die »Philosophie der Praxis«, das »Mark des historischen Materialismus«.⁷ Antonio Gramsci wird an diese Einsicht anknüpfen. Unter seinen Zeitgenossen ist es wiederum Brecht, der verstanden hat, was es ferner heißt, dass »die Einwände, die wir den Behauptungen unserer mächtigen Gegner entgegenstellen müssen, aus dem gegnerischen Wort- und Begriffsmaterial zu formulieren sind« (GA 21, 585). Wenn Marx beispielsweise sagt: »Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt« (MEW 13, 9), so ist dieser Gegen-Satz als Antithese von der These bestimmt, die er negiert. Daraus die Lehre zu machen, »das Sein determiniert das Bewusstsein«, bedeutet einen Rückfall in vormarxistische Metaphysik, denn es negiert unwillentlich genau das, worum es marxistisch geht, nämlich die weltverändernde Praxis.

    Der unerkannte Widerspruch erwischt die Marxisten gleichsam auf dem falschen Bein. Die Geschichte des Wortes »Marxist« führt auf den Gegensatz zwischen der marxschen Theorie-Praxis und den im Umfeld der entstehenden Arbeiterbewegung aktiven Gruppierungen. »Marxist« war ein Schimpfwort, das die Gegner von Marx in der Ersten Internationale gegen dessen Anhänger richteten, bis diese einige Jahre später daraus einen Ehrennamen machten. Bei der Gründung der Zweiten Internationale, sechs Jahre nach dem Tode von Marx, bekannten sich alle dort vertretenen politischen Organisationen der Arbeiterbewegung zum Marxismus. »Sie werden darüber verrückt werden, dass sie uns diesen Namen gegeben haben!« schrieb Engels (MEW 37, 235).

    Die Fusion einer wissenschaftlichen Theorie mit einer proletarischen Bewegung gebar den Marxismus als lebendigen Widerspruch. Auf diesen Widerspruch war der Marxismus nicht theoretisch vorbereitet, denn er verfügte im Verständnis der Arbeiterklasse über keinen Begriff für sein unabdingbares intellektuelles – weil wissenschaftliches – Element. Dieser unreflektierte Widerspruch zwischen Wirklichkeit und Selbstverständnis hat ebensoviel Schaden angerichtet wie das Fehlen einer marxistischen Theorie der Führung. Beides erarbeitete erst Antonio Gramsci in faschistischer Haft Anfang der 1930er Jahre, aber seine Texte kamen erst nach dem Zweiten Weltkrieg zum Tragen, weithin sogar erst nach dem Untergang des europäischen Staatssozialismus.

    Ein dritter Widerspruch ergab sich aus der Wechselwirkung des Marxismus mit seiner Umwelt. Die Marxsche Kapitalismustheorie verfügte, so großartig sie die allgemeinen Widersprüche des Kapitalismus und deren Bewegungsformen herausarbeitete, noch über keinen Begriff davon, wie ihr eigenes Praktisch-Werden den Kapitalismus verändern würde. Die dadurch mitbedingte historische Materialität einer sich schnell verwandelnden Welt entfernte die klassischen Texte des historischen Materialismus immer weiter von der aktuellen Realität. Die Revolution von 1917 potenzierte diese Distanz, da ihre Bedingungen den Marxschen Annahmen diametral entgegengesetzt waren. Gramsci nannte sie daher »Revolution gegen das ›Kapital‹«, nämlich im Widerspruch zur Marxschen Theorie. Dass Lenin sich dieser Distanz völlig bewusst ist, zeigt sein Vorwurf an Bela Kun, die Politik der Komintern zu kritisieren »auf Grund von Zitaten aus Marx, die sich auf eine der jetzigen ganz unähnliche Situation beziehen«.⁸ Dagegen bezeichnet Lenin nun »die konkrete Analyse einer konkreten Situation« als »die lebendige Seele des Marxismus«. Sie hat in jeder Epoche die Strategie der Arbeiterbewegung neu zu bestimmen. Auch der Umgang mit diesem Widerspruch kann zur Gefahr werden, wenn bei Stalin unter der »Vorherrschaft des Taktischen vor dem Theoretisch-Prinzipiellen« letzteres »zu einer Garnierung, einem Überbau, einer Verschönerung absinkt«, was den Niedergang beider besiegelte. So begriff es der späte Lukács.⁹

    Bereits der Zusammenschluss von wissenschaftlicher Theorie und Proletariat hatte den praktizierten Marxismus in Gegensatz zum theoretischen gebracht. Rosa Luxemburg hat dies als Rache der »von Marx theoretisch aufgedeckten sozialen Daseinsbedingungen des Proletariats in der heutigen Gesellschaft an den Schicksalen der Marxschen Theorie selbst« bezeichnet (GW 1, 368). Es waren aber die Erfolge, die den Marxismus Ende des 19. Jahrhunderts in seine erste große Krise stürzten, als der Gegensatz zwischen (tatsächlich erreichter) Reform und (ausbleibender) Revolution virulent wurde. In die Politik brechen derartige Widersprüche als Gegensatz zwischen Nahzielen und Fernziel ein. Luxemburg, die in ihrer Polemik gegen Bernstein 1899 diesen Widerspruch eher unreflektiert ausgetragen hatte, insistierte vier Jahre später auf der Notwendigkeit, die auseinanderstrebenden Pole auf eine Weise zusammenzuhalten, die der Realpolitik gibt, was der Realpolitik ist, aber das pragmatisch Nötige auf die Realpolitik hinaustreibenden Ziele hin auszurichten. Sie orientiert auf »revolutionäre Realpolitik«, um den »spannungsreichen Vermittlungszusammenhang zwischen Nah- und Fernziel« aufrechtzuerhalten und zu verhindern, dass die Partei inmitten der Erfolge in der Sozialpolitik ihre Identität verliert. Diese »Spannung zwischen Weg und Ziel«, dem jeweiligen Tag und einer letztlich ungewissen Zukunft, durchzieht die Geschichte des Marxismus.¹⁰

    Chancen des Gelingens

    Widersprüche dürfen nicht mit Fehlern verwechselt werden. Fehler ereignen sich im Behandeln von Widersprüchen. Wenn es, wie Mao sagt, »keine Dinge [gibt], die nicht Widersprüche in sich trügen« (ÜdW, 371), ist das Operierenkönnen mit Widersprüchen eine Bedingung für politisches Gelingen. Widersprüche sind zu fürchten, aber lediglich wie eine Probe, die man bestehen muss, um nicht unterzugehen. Wenn die Widersprüche aufgestauten Veränderungsbedarf anzeigen, stellt die Gefahr zugleich eine Chance dar. Darum gilt die Maxime, die Bertolt Brecht seinem Dreigroschen-Roman voranstellt, nicht nur im Blick auf die Widersprüche der Gegner des Marxismus, sondern auch für diesen selbst: »Die Widersprüche sind die Hoffnungen!« (GA 21, 139) Doch freilich ist die bloße Hoffnung »nur eine unbeständige Lust«, wie Spinoza sagt, weil wir »über den Ausgang in gewisser Hinsicht in Zweifel sind«.

    Wenn die Kunst des Wellenreitens einen lehrt, zur Spitze zu gelangen, ohne von den stets bedrohlich lauernden Widersprüchen herabgerissen zu werden, dann sind Antinomien, im antiken Sinne des Gehorsams gegenüber zwei gleichermaßen bindenden, jedoch einander ausschließenden Normen, widersprüchliche Wellen, die nicht geritten werden können, sondern uns nur herabreißen können. An Antinomien zu zerbrechen, ist das Thema, das dem politischen Drama der griechischen Antike seinen Charakter der Tragödie aufgeprägt hat. Ein vieldiskutiertes Beispiel bietet die Antigone des Sophokles. Antigones Bruder, Polyneikes, hat gegen Kreon, den Herrscher Thebens, sein Schwert erhoben. Er wird besiegt und getötet, die Bestattung seines Leichnams untersagt. Nun machen sich zwei gleichermaßen unantastbare Sittengesetze geltend: Das Staatsgesetz, verkörpert durch den Herrscher, verbietet die Bestattung des Aufrührers nach den Regeln des Kultes. Das kultische Sittengesetz aber verlangt von der Schwester des Toten in gleicher Unbedingtheit die Bestattung. Indem sie diesem Gebot gehorcht, verstößt Antigone gegen das staatliche Verbot und wird »lebendig eingemauert«. Nun zeugt die unversöhnte Antinomie Katastrophe um Katastrophe. Antigone begeht Selbstmord. Ihr folgt ihr Verlobter Haimon, der Sohn des Herrschers, in den Tod, diesem wiederum seine Mutter, Eurydike, die Gattin des Herrschers.

    Die Logik des Operierenkönnens mit Antinomien, die ansonsten Katastrophen nach sich ziehen, wird von Aischylos dem Herakles bei der Befreiung des Prometheus zugeschrieben. Prometheus, für den jungen Marx »der vornehmste Heilige und Märtyrer im philosophischen Kalender«, war lebenslänglich an einen Felsen des Kaukasus »angekettet«. Das war die Strafe dafür, dass er gegen das Verbot des Herrschers der Götter, Zeus, verstoßen und die Menschen im Umgang mit dem Feuer unterrichtet hatte, was der Entwicklung ihrer Kultur zu einem Großen Sprung verhalf. Aischylos zufolge weiß Prometheus, dass Zeus und mit ihm die ganze herrschende Ordnung untergehen werden. Auf Zeus’ Frage, wer diesen Untergang bewirken werde, lässt er den Gefesselten antworten: »Er selbst sich selber, weil die Torheit ihn berät.«

    Vorschein

    Den doppelten Bann bricht Herakles. Er befreit Prometheus auf Schelmenweise, die das Urteil des Herrschers Zeus buchstabengetreu respektiert und dennoch zugleich nicht nur den Gefesselten befreit, sondern auch die herrschende Ordnung und Zeus selbst vor dem Untergang bewahrt: Prometheus muss für alle Zeiten einen Ring tragen, in den ein Stück des kaukasischen Felsens eingelassen ist. Der marxistische deutsch-schwedische Schriftsteller Peter Weiss hat sich in seinem großen, dreibändigen Jahrhundertroman »Die Ästhetik des Widerstands« die herakleische Aufgabe gestellt, eine Erzählweise für die Antinomien des Marxismus im 20. Jahrhundert zu schaffen. Sie macht den Eindruck, er befolge auf literarische Weise Brechts Maxime des Operierenkönnens mit Antinomien, obgleich er sie nicht kennen konnte, da sie erst zehn Jahre nach seinem Tode – er starb bereits 1982, kurz nach Fertigstellung seines Werkes – publiziert worden ist. Peter Weiss lässt historische Exponenten der zerreißenden Gegensätze des damaligen Marxismus auf eine Weise zu Wort kommen, die in ihnen die unaufhebbaren Antinomien respektiert. Dabei taucht der Vorschein eines künftigen Marxismus auf, der gelernt hat, seinen Widersprüchen nicht nur die Stirn zu bieten, sondern ihnen ins Auge zu blicken. Klaus Holzkamp, der Begründer der marxistischen Kritischen Psychologie, hat 1983, in Anspielung an eine berühmte Formulierung von Marx gesagt: »Die Vorgeschichte des Marxismus ist noch nicht zu Ende.«¹¹ Hier nun scheint die Geschichte des Marxismus als die des befreiten Prometheus auf – wenngleich nur als literarisch-imaginäre Antizipation und im Gedenken an so viele Opfer.

    Anmerkungen

    1 Mao Tse-tung: Über den Widerspruch in: Ausgewählte Werke, Bd. I, Peking 1968, 365–408 (zitiert als ÜdW)

    2 Karl Marx u. Friedrich Egels: Marx-Engels Werke, Bd. 1–42, Berlin 1957 ff., hier Bd. 23, S. 118 (zitiert als MEW)

    3 Rosa Luxemburg: Gesammelte Werke, 5 Bde., Berlin 1970–1975, hier Bd. 5, S. 719 (zitiert als GW)

    4 Wolfgang Fritz Haug: Marx’ Lernprozess. Von den Grundrissen bis zu Marx’ französischer Übersetzung von Kapital I«. In: ders.: Dreizehn Versuche, marxistisches Denken zu erneuern, Hamburg 2005, S. 223–235, hier S. 227

    5 Wolfgang Fritz Haug: Für praktische Dialektik, S. 23. In: Das Argument 274, 50. Jg., 2008, H. 1, S. 21–32

    6 Bertolt Brecht: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Frankfurt am Main 1989 ff., hier Bd. 21, S. 579 (zitiert als GA)

    7 Antonio Labriola: Unterhaltungen über Sozialismus und Philosophie (1898). In: ders.: Drei Versuche zur materialistischen Geschichtsauffassung, hg. v. Wolfgang Fritz Haug, Berlin 2018, S. 172–280, hier S. 202 und 206

    8 Wladimir Iljitsch Lenin: Werke, Bd. 31, Berlin 1953, S. 154

    9 Georg Lukács: Gespräche mit Hans Heinz Holz, Leo Kofler und Wolfgang Abendroth (1966), Werke, Bd. 18, Bielefeld 2009, S. 349 f.

    10 Frigga Haug: Revolutionäre Realpolitik. In: dies.: Rosa Luxemburg und die Kunst der Politik, Hamburg 2007, 57–94, hier S. 62

    11 Klaus Holzkamp: »Aktualisierung« oder Aktualität des Marxismus? In: Aktualisierung Marx’, Argument-Sonderband 100, Berlin 1983, S. 53–64, hier S. 64

  • · Hintergrund

    Krise und Revolution

    Der Wirtschaftskrach gehört notwendig zur kapitalistischen Produktionsweise. Über Karl Marx’ Krisentheorie
    Guenther Sandleben
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    Die sogenannte wirtschaftliche Depression ist oft eine Folge von Überproduktion. Aktuell ist es vor allem die asiatische Stahlindustrie, deren Produkte allerorten präsent sind – Arbeiter auf einem Umschlagplatz in Taiwan (19.2.2009)

    Bis heute nimmt die Marxsche Krisentheorie eine einzigartige Stellung ein. Wie in keiner anderen Theorie werden die tieferen Wurzeln der Wirtschaftskrise thematisiert, die bis hinunter zur gewöhnlichen Warenproduktion reichen. Es liege an der modernen Art und Weise des Produzierens, dass es notwendig zu Krisen kommen muss. Mit dieser These rückte Marx den kapitalistischen Akkumulationsprozess mit seinen Produktions- und Verteilungsverhältnissen ins Zentrum der Analyse. Wirtschaftskrisen sieht er als Knotenpunkte. In ihnen konzentrieren sich die Widersprüche und spitzen sich zu, vorübergehend gleichen sie sich aber auch gewaltsam aus. Geld-, Kredit-, Banken- und Finanzmarktkrisen werden als besondere Phasen der Wirtschaftskrise aufgefasst. Wenn aber die Ursachen der Krise im kapitalistischen Kernprozess selbst stecken, kann es keine davon getrennte, äußere Krisenerklärung geben.

    Anders als die Marxsche Theorie gehen die übrigen Konjunktur- und Krisenlehren entweder von äußeren Faktoren aus, oder sie reduzieren das Krisenproblem auf Teilaspekte: auf zu niedrige Löhne (Unterkonsumtionstheorie), auf akkumulationsbedingt zu hohe Löhne (Profitklemmen-Theorie), auf Disproportionen und auf Überakkumulation. Hier ist schon angedeutet, dass selbst solche Krisentheorien, die vorgeben, an den Marxschen Überlegungen anzuknüpfen, nicht die Fülle der Krisenaspekte systematisch zusammenbringen, die Marx ausgeführt, zumindest aber angedacht hat.

    Negative Seite

    Die Einzigartige der Marxschen Krisentheorie besteht zudem darin, dass sie sich nicht auf die Klärung ökonomischer Funktionsmechanismen reduziert. Als Teil einer umfassenden Akkumulationstheorie kehrt sie die geschichtlichen Tendenzen der kapitalistischen Produktionsweise hervor. Die Krise wird als die äußerst problematische, negative Seite des Wirtschaftssystems thematisiert. Als ihr wichtigstes Symptom nennt Marx die Überproduktion: Das Zuviel an Lebensmitteln, Industrieprodukten etc. führe zu Hungersnot und Barbarei. Damit ist die paradoxe Situation ausgerückt, dass Elend nicht nur inmitten des Reichtums entsteht, sondern dass dieser Reichtum eine Masse von Menschen periodisch ins Elend stürzt, dass also das kapitalistische System unfähig ist, seinen Lohnabhängigen selbst eine bescheidene Existenz dauerhaft zu sichern. Produkte und Produktivkräfte würden vernichtet. Solche Zuspitzungs- und Zerstörungsprozesse sind nach Marx Ausdruck einer periodisch eintretenden, von Krise zu Krise weiter wachsenden Empörung der modernen Produktivkräfte gegen die modernen Produktionsverhältnisse, d. h. sie stehen für eine Zuspitzung des Klassenkampfes, der in Richtung Revolution dränge. Die Krisentheorie von Marx ist Teil seiner Revolutionstheorie.

    Eine von der allgemeinen Akkumulationstheorie losgelöste Krisenlehre ist von der Sache her gar nicht möglich, so dass Marx kein eigenständiges Werk über die Krise schreiben konnte. Seine Überlegungen dazu finden sich breit gestreut vor allem in seinen ökonomischen Schriften, wobei ich auf folgende aufmerksam machen möchte:

    – Manifest der Kommunistischen Partei, Marx-Engels-Werke, Bd. 4, S. 467 (Verbindung von Krisen- und Revolutionstheorie)

    – Das Kapital, Bd. I, MEW 23, S. 127 f. u. S. 152 (Möglichkeit der Krise) sowie S. 661 f. (Zyklizität der Krise)

    – Das Kapital, Bd. II, MEW 24, S. 185 f. (Periodizität der Krise)

    – Das Kapital, Bd. III, MEW 25, S. 251–270 (Krisenursachen) sowie S. 493 ff. (Kreditzyklus)

    – Theorien über den Mehrwert, MEW 26.2, S. 492–535 (Krisenbegriff, Möglichkeit und Notwendigkeit von Krisen).

    Nach wie vor diskutiert wird, inwieweit Marx angesichts einer fehlenden Gesamtdarstellung des Krisenprozesses überhaupt eine allgemeine Krisentheorie aufgestellt hat. Wenn man die verschiedenen Passagen zur Krise zusammenträgt, findet man entgegen mancher Bedenken allerdings eine genaue Beschreibung des Krisenzyklus und eine Theorie darüber, warum Krisen möglich sind, worin die Notwendigkeit ihrer Entstehung liegt und weshalb sie eine Periodizität von etwa sieben bis elf Jahren besitzen.

    »Geldhungersnot«

    Die tiefsten Wurzeln der Krise reichen bis hinunter zur Ware, die sich nach Marx von einem Produkt dadurch unterscheidet, dass sie einen Preis besitzt, worin sich die eigentümliche gesellschaftliche Form der Arbeit ausdrückt: Dabei ist der gesellschaftliche Charakter nur mittelbar gegeben als solcher der Privatarbeit, mit der Konsequenz, dass der gesellschaftliche Charakter der Arbeit erst nach deren Verausgabung, also in »geronnenem Zustand, in gegenständlicher Form« (Marx) ausgedrückt wird – in verschleierter Form als Gegenständlichkeit, als Geld. Dieser »Fetischcharakter der Ware« beinhaltet einen Kontrollverlust, da der gesamtgesellschaftliche Produktionszusammenhang unorganisiert und unkontrollierbar wird und koordiniert werden muss durch die »unsichtbare Hand der Märkte«, wie Adam Smith meinte, d. h. durch die Bewegung der Preise. Statt zu kontrollieren, stehen die Menschen unter der Kontrolle dieser Bewegung von Sachen, die sie selbst produzierten.

    Marx fand heraus, dass in diesem Fetischcharakter der Ware die Möglichkeit der Krise steckt. Der Warenproduzent muss sein Produkt, das für ihn keinen Gebrauchswert hat, verkaufen (Angebot), um dann die von ihm selbst gewünschten Waren mit dem erhaltenen Geld zu kaufen (Nachfrage). »Aber keiner braucht unmittelbar zu kaufen, weil er selbst verkauft hat«, hob Marx (MEW 23, S. 127) gegen die Harmonielehre der Klassischen Nationalökonomie hervor, denn die Zirkulation sprenge die zeitlichen, örtlichen und individuellen Schranken des Produktaustauschs.

    Marx erkannte noch eine zweite mögliche Ursache der Krise, die aus der Funktion des Geldes als Zahlungsmittel entspringt: Waren werden unter Geschäftsleuten gewöhnlich auf Kredit verkauft, so dass ein Verhältnis von Gläubiger und Schuldner entsteht. In diesem Fall realisiert die Ware des Verkäufers ihren Preis in einem privatrechtlichen Titel auf Geld, der – wie der Wechsel – zirkulieren kann, wodurch die Verkettung der Verhältnisse von Gläubiger und Schuldner besonders sichtbar wird. Reißt diese Kette von Zahlungen, weil einer der Schuldner pleite ist, fällt die ansonsten unauffällige Saldierung der Schuldenbilanzen fort. Marx nannte diese Störung »Geldkrise«, wie sie »als besondere Phase jeder allgemeinen Produktions- und Handelskrise« (MEW 23, S. 152) vorkommt. Plötzlich benötige jeder Geld als Zahlungsmittel, um seine eigene Schuld zu bezahlen. Das Kreditsystem schlage ins Monetarsystem um. Diese »Geldhungersnot« (Marx), die auch in der großen Krise von 2007/08 ein wichtiges Thema war, ist das auffälligste und dramatischste Phänomen der Krise: »Die Zirkulationsagenten schaudern vor dem undurchdringlichen Geheimnis ihrer eigenen Verhältnisse.« (MEW 13, S. 123)

    Schranken des Marktes

    Die kapitalistische Warenproduktion schafft nicht nur die Möglichkeit der Krise, sie bringt periodisch solche Krisen mit Notwendigkeit hervor. Finanzmärkte haben erst einmal wenig damit zu tun.

    Jede Krise ist zunächst nichts anderes als eine Überproduktionskrise; der Markt ist zu eng für die Produktion, er ist überfüllt. »Hätte«, wie Marx kritisch gegen die Gleichgewichtstheorie der Klassik formulierte, »die Erweiterung des Markts Schritt gehalten mit der Erweiterung der Produktion, there would be no glut of markets, no overproduction (so gäbe es keine Überfüllung des Marktes, keine Überproduktion, G. S.).« (MEW 26.2., S. 525)

    Marx hat den Zusammenhang von Produktions- und Markterweiterung an verschiedenen Stellen seiner Akkumulationstheorie aufgegriffen. Die konzentrierteste Darstellung findet sich im dritten Band des Kapitals (MEW 25, S. 254 f.), wo er im Anschluss an das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate dessen innere Widersprüche thematisiert und dabei auf den Widerspruch zwischen Produktion und Markt eingeht. Hier findet sich eine Skizze zur Notwendigkeit von Wirtschaftskrisen. Im Mittelpunkt steht das Verhältnis von »Konsumtionskraft« (Markt) und »Produktionskraft« (Produktion). Da Markt und Produktion zwei gegeneinander gleichgültige Momente sind, muss die Erweiterung des einen der Erweiterung des anderen keineswegs entsprechen, und Marx führt Gründe an, warum eine Ausdehnung des Marktes rasch von der Produktion überholt wird. Worin bestehen diese?

    Marx wusste natürlich sehr genau, dass kapitalistische Warenproduktion nur stattfindet, wenn Profit erzielt wird. Das Bedürfnis der Gesellschaft spiele in der Produktion nur insofern eine Rolle, als es als zahlungsfähige Kaufkraft zur Realisierung des Warenpreises und damit des Profits auftrete. Wäre hingegen die Befriedigung der Bedürfnisse der Zweck, fielen Produktion und Bedarf keineswegs notwendig auseinander. Denn die von Marx angesprochene »absolute Konsumtionskraft«, d. h. das Bedürfnis der Gesellschaft, würde keine Barriere für die Produktion darstellen.

    Ähnliches würde gelten, wenn die »Konsumtionskraft der Gesellschaft« durch deren »Produktionskraft« bestimmt wäre. Solange die Produktion genügend Bedürfnisse hervorbringen und fortentwickeln würde, hätte sie – von partiellen Störungen abgesehen – immer ihre Abnehmer.

    Wie die Ausführungen von Marx weiter zeigen, kommt die Krise dadurch zustande, dass Produktionskraft und Konsumtionskraft trotz der inneren Einheit gegensätzlich bestimmt werden: Die Produktionskraft sei – hinreichende Nachfrage unterstellt – nur durch die Masse und die Qualität der Produktivkräfte begrenzt. Demgegenüber sei der Umfang der Konsumtionskraft durch die Schranken des Marktes fixiert. Hier nun bringt Marx Restriktionen ins Spiel, die aus der kapitalistischen Art und Weise des Produzierens hervorgehen.

    Die erste Schranke, die Marx anspricht, ist »durch die Proportionalität der verschiedenen Produktionszweige« gesetzt. Diese Schranke ist notwendige Folge eines Akkumulationsprozesses, der, ohne gesellschaftlich organisiert zu sein, nur durch Preisbewegungen gesteuert wird. Ein übermäßig expandierter Produktionszweig wird nach gewisser Zeit die Produktion und mit ihr die Nachfrage nach den eigenen Produktionsvoraussetzungen einschränken. Bis zu unseren Tagen zeigt sich, dass die Produktionsmittelerzeugung im konjunkturellen Aufschwung übermäßig expandiert, um dann besonders stark zu schrumpfen.

    Die zweite von Marx erwähnte Schranke wird durch die »antagonistischen Distributionsverhältnisse« gesetzt. Er versteht darunter, dass Profite nur möglich sind, wenn die Lohnabhängigen mehr Werte schaffen, als sie an Lohn beziehen. Die Profite sind umso höher, je niedriger der Lohn im Verhältnis zum Mehrwert steht.

    In der Marxschen Krisenerklärung sind diese antagonistischen Verteilungsverhältnisse der Dreh- und Angelpunkt. Denn einerseits verengen sie den Spielraum des Marktes, da die Massenkaufkraft durch die Höhe des Lohns begrenzt wird. Dieses Verhältnis besitzt andererseits eine bedeutende Kehrseite, die uns zur dritten Schranke bringt: Ein im Vergleich zum Mehrwert vergleichsweise niedriger Lohn verschafft dem Kapital einen großen Akkumulationsspielraum, der mit der Entwicklung der kapitalistischen Produktion noch zunimmt. Je nachdem, in welchem Umfang er genutzt wird, wächst oder schrumpft die »Konsumtionskraft der Gesellschaft«. Als Schranke für seine vollständige Ausschöpfung nennt Marx in der zentralen Textpassage den »Akkumulationstrieb, den Trieb nach Vergrößerung des Kapitals und nach Produktion von Mehrwert auf erweiterter Stufenleiter« (MEW 25, S. 254). Je nach Existenz profitabler Anlagesphären nimmt der »Akkumulationstrieb« zeitweise zu, dann wieder ab. Die Periodizität spielt hier eine bestimmende Rolle.

    Zwischen Expansion und Kontraktion

    Marx hatte erkannt, dass der Akkumulationsprozess in Zyklen verläuft, die jeweils aus einer Reihenfolge verschiedener Phasen bestehen: Stagnation, Belebung, Prosperität, Überproduktion, Krise, Depression. Nach einem scharfen Rückgang (Depression) stabilisiere sich die Wirtschaft. Eine Belebung würde bald einsetzen, die in eine Phase lebhafter Nachfrage und Produktionstätigkeit (Prosperität) übergehe. Bald aber zeige sich, dass sich der Markt nicht rasch genug für die Produktion ausdehne. Die Phase der Überproduktion gehe in die Krise über, gefolgt von der Phase der Depression, worin Kapital in all seinen Formen massenhaft entwertet und Produktivkräfte stillgelegt oder vernichtet würden.

    Marx fand heraus, dass für die entscheidenden Zweige der großen Industrie ein Zyklus von zusammenhängenden Umschlägen mit einer Länge von etwa zehn Jahren existiere. Darin sah er »eine materielle Grundlage der periodischen Krisen, worin das Geschäft aufeinanderfolgende Perioden der Abspannung, mittleren Lebendigkeit, Überstürzung, Krise durchmacht«. (MEW 24, S. 185 f.)

    Jede Krise, so Marx, sei »Ausgangspunkt einer großen Neuanlage«. Für das Kapital entstehen hierdurch profitable Anlagemöglichkeiten, die den »Akkumulationstrieb« steigern, so dass der Akkumulationsspielraum mehr und mehr ausgeschöpft wird. Erweiterungsinvestitionen, verbunden mit neuen Technologien, eröffnen zusätzliche profitable Märkte. Sobald der Kapitalbedarf in den wichtigsten Produktionszweigen zum Erliegen kommt, schrumpft die entsprechende Nachfrage bei gleichzeitig gestiegener Produktionskraft. Einst profitable Anlagesphären verlieren an Attraktivität und lähmen den »Akkumulationstrieb«. Der Akkumulationsspielraum wird nicht länger genutzt. Absatzstockungen, Krise, Depression sind notwendige Folgen. Vernichtungs- und Entwertungsprozesse stellen das Gleichgewicht vorübergehend wieder her.

    Sobald der Ersatzbedarfzyklus des fixen Kapitals einsetzt, erweitern sich die Grenzen des Marktes, so dass allmählich ein weiterer Akkumulationszyklus in Gang kommt. »Ganz wie Himmelskörper, einmal in eine bestimmte Bewegung geschleudert, dieselbe stets wiederholen, so die gesellschaftliche Produktion, sobald sie einmal in jene Bewegung wechselnder Expansion und Kontraktion geworfen ist«, schrieb Marx mit Blick auf den sich stets wiedererzeugenden Zyklus. »Wirkungen werden ihrerseits zu Ursachen, und die Wechselfälle des ganzen Prozesses, der seine eigenen Bedingungen stets reproduziert, nehmen die Form der Periodizität an.« (MEW 23, S. 662)

    Kredite und Zinsen

    Marx wusste sehr genau, dass »die reale Krisis nur aus der realen Bewegung der kapitalistischen Produktion, Konkurrenz und Kredit, dargestellt werden (kann)« (MEW 26.2., S. 513) und dass der Kredit für die Dynamik des Akkumulationsprozesses eine herausragende Bedeutung besitzt. Denn sobald der »Akkumulationstrieb« durch profitable Geschäftsfelder angestachelt wird, werfen sich große Teile des gesellschaftlichen Kapitals auf diese Geschäftsfelder, ohne abwarten zu müssen, bis quasi in einer Hand genügend Geldkapital vorhanden ist. Da Geld rasch in Leihkapital und dieses für verschiedene Geschäftszwecke in Geldkapital verwandelt werden kann, entsteht eine zusätzliche, vom laufenden Reproduktionsprozess weitgehend unabhängige Nachfrage nach Waren. Marx bezeichnete das Kreditwesen als »die Triebfeder der kapitalistischen Produktion« oder als »Haupthebel der Überproduktion und Überspekulation im Handel«. Indem das Kreditwesen die materielle Entwicklung der Produktivkräfte beschleunigt und den Weltmarkt entfaltet, hilft es, wie Marx hervorhob, die »materielle Grundlagen der neuen Produktionsform bis auf einen gewissen Höhegrad herzustellen« und »die Übergangsform zu einer neuen Produktionsweise zu bilden«. (MEW 25, S. 457)

    Außerdem wäre die ganze Dramatik der Krise ohne Kredit gar nicht denkbar. Bricht der Kredit zusammen, bricht mit ihm auch die Nachfrage nach Waren ein, so dass die Grenzen des Marktes gerade dann besonders eng werden, wenn die Produktionskraft am weitesten entwickelt worden ist. Der Kredit steigert die gewaltsamen Eruptionen der Krise und beschleunigt, so Marx weiter, »die Auflösung der alten Gesellschaft«. (MEW 25, S. 457) Revolutions- und Krisentheorie gehen Hand in Hand.

    Zu Marxens Zeiten waren die Grundformen des Kreditsystems entwickelt, so dass praktisch alles, was er dazu ausführte, auch heute noch von großem Interesse ist. Um die kapitalistische Produktionsweise zu charakterisieren, stellte Marx den »kommerziellen Kredit«, den er als die »naturwüchsige Grundlage des Kreditsystems« bezeichnete, und den in Geldform ausgegebenen Bankkredit heraus. Daneben verwies er auf den »öffentlichen Kredit« und auf den privaten. Die Finanzierung von Unternehmen und Staaten über den Kapitalmarkt erwähnte Marx im Zusammenhang mit dem fiktiven Kapital, das in der Gestalt von Kredit- und Eigentumstiteln bis heute zentrale Bedeutung besitzt. Unter fiktivem Kapital verstand er, wie der Name schon sagt, nicht das in Produktion und Handel steckende wirkliche Kapital (»fungierendes Kapital«), sondern eine »regelmäßige Geldrevenue«, die als Zins erscheine, als läge dem ein wirkliches Kapital zugrunde. Bei der Staatsschuld sei dies offensichtlich, weil eine Schuld positiv als Kapital erscheine. Die Aktie stelle zwar »wirkliches Kapital vor«, das z. B. in Eisenbahngesellschaften angelegt sei, jedoch existiere dies wirkliche Kapital nicht doppelt, es erwecke nur den Schein der Verdoppelung. Und dieser Schein habe seine Grundlage im selbständigen Handel mit zinstragenden Wertpapieren.

    Schwindende Grundlage

    Während der Konjunkturphasen besteht wegen der sich allmählich beschleunigenden Akkumulation größerer Kreditbedarf, der meist reibungslos gedeckt wird, da die Krise inzwischen verdrängt ist und größeres Vertrauen in die Zahlungsfähigkeit besteht. Der Kredit expandiert, anfangs vor allem der kommerzielle, später auch der Bankkredit.

    Bald treten Absatzschwierigkeiten auf. Die Realisierung des Tauschwerts in Geld verzögert sich oder erweist sich gar als unmöglich. Die Geldkrise als Moment der Wirtschaftskrise setzt ein: Das Kreditsystem schlägt ins Monetarsystem um. Die »Geldhungersnot« lässt die Nachfrage nach Bankkrediten explodieren. Da die Bereitschaft der Geschäftsleute schwindet, Waren auf Kredit zu verkaufen, geht in der Krise der kommerzielle Kredit stark zurück. Diese Lücke muss der Bankkredit schließen. Die Nachfrage nach kurzfristigen Krediten lässt die Zinsen nach oben schnellen.

    Das von Marx formulierte allgemeine Gesetz der Krise darf nicht so verstanden werden, als würde das Auf und Ab der Konjunktur immer weiter gehen, ohne das System selbst in Gefahr zu bringen. Das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate verweist auf eine allmähliche Verschärfung der Krisen. Soweit die Profitmasse im Verhältnis zum Lohn zunimmt, erweitert sich der Akkumulationsspielraum, und damit steigt die Wucht, mit der die Ausweitung der Produktion erfolgt, wie umgekehrt die Stockung größer wird, sobald der »Akkumulationstrieb« nachlässt. Diese Elastizität wächst zusätzlich mit der Entwicklung der Produktivkräfte, also mit der anschwellenden Masse an Produktionsmitteln. Das sich immer weiter entwickelnde Kreditsystem verschärft die Bewegung in beide Richtungen, steigert die Überproduktion und damit die Katastrophen der Krise, bildet eine immer brüchiger werdende Grundlage für das Zahlungssystem, dessen Zusammenbruch die gesamte Wirtschaft in eine vorübergehende Schockstarre und die große Masse der Menschen ins Elend versetzen würde. Der Krisenzyklus mit der Krise als besonders dramatischem Höhepunkt erzeugt die Notwendigkeit zur Überwindung der alten und der Schaffung einer neuen Produktionsweise.

  • · Hintergrund

    Schätze und Sätze

    Entgegen allen Unkenrufen lässt sich die Gegenwart mit Karl Marx ganz wunderbar begreifen. Eine Rede zum 200. Geburtstag des Ökonomen und Philosophen
    Dietmar Dath
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    Es ist die Aufgabe der Linken, Marx’ ­Erkenntnisse vor dem Hintergrund der ­eigenen Schwäche durch die schlechten ­Zeiten zu tragen und sie im ­Gebrauch zu halten – Dietmar Dath am 5. Mai 2018 in Berlin

    Wir dokumentieren im folgenden die Rede, die der Schriftsteller Dietmar Dath am 5. Mai auf der jW-Veranstaltung »Karl Marx. Seiner Nützlichkeit wegen« aus Anlass von dessen 200. Geburtstag gehalten hat. (jW)

    Das schöne Programm von Frauke und Gina Pietsch heute abend heißt »Karl Marx. Seiner Nützlichkeit wegen«. Für alle, die keine großen Aktienpakete von Weltkonzernen, keinen umfangreichen Immobilienbesitz und überhaupt keine Gewalt über die Arbeit anderer ihr eigen nennen, könnte es auch heißen: »Seiner Notwendigkeit wegen.«

    Die Frage ist nämlich längst nicht mehr, ob die Sätze wohl Schätze sind, die wir von Karl Marx geerbt haben, ob sich darin Weisheiten und gar Wahrheiten entdecken lassen. Dass das so ist, wissen nämlich sowieso alle, auch die ihm feindlichst gesonnenen Wirtschaftswissenschaftler oder politischen Propagandakünstler, und die Besitzenden sowieso – die wissen es instinktiv, die brauchen ihn nicht zu studieren. Diejenigen zum Beispiel, die in diesem Land wie Drohnen über Städten kreisen, um aus der Abstraktionshöhe demographischer und ökonomischer Kenndatensätze, wie sie etwa die Bertelsmann-Stiftung im Projekt »Wegweiser Kommune« ermittelt hat, abzuschätzen, ob es sich lohnt, im sogenannten Speckgürtel der Metropolen Spekulationsgeschäfte mit Wohn- oder Wirtschaftsraum anzuzetteln, verhalten sich ganz selbstverständlich marxistisch, nämlich schlauer als die Sozialdemokratie, die immer noch so tut, als wären die politische Ökonomie und ihre Kritik ohne Verständnis- und Kampfkraftverlust auf den Stummelbegriff »Arbeitsplätze« zusammenzustreichen, während doch in Wirklichkeit das Privateigentum an den Lebensgrundlagen und die Gewalt über die Arbeit anderer das Thema ist.

    Kein Unbekannter

    Marx hat den Sozialdemokraten (und allen anderen, nicht nur Linken) gerade dies immer wieder erklärt, auch in direkter Konfrontation mit ihren programmatischen Verlautbarungen, in der 1875 geschriebenen »Kritik des Gothaer Programms« etwa. Dort setzt er das Grundeigentum und das Kapitaleigentum auf dem seinerzeitigen Stand so glasklar zueinander in Beziehung, dass sogar die heutige SPD oder die häuslebauenden baden-württembergischen Dunkelgrünen es sollten verstehen und die Verlängerung ins Heute denken können. Aber sie bleiben (oder sie stellen sich) dumm. Statt dessen, wie gesagt, sind es die Kapitalisten und Grundeigentümer, die sich verhalten, wie’s bei Marx steht, weil sie einfach wissen, dass das stimmt, was da steht – genau wie das, was der historische Materialismus über Ursachen und Chancen von Kriegen herausgekriegt hat, weshalb es ohne viel Aufhebens Eingang gefunden hat ins Denken und Handeln der Leute, die Kriege planen (oder, wie sie uns immer wieder glauben machen wollen, entgegen ihrem allerbesten Willen in Kriege schliddern).

    Wer immer heute Besitz und Privileg verteidigt oder räuberisch vermehrt, führt sich in zunehmendem Maße geradezu vulgärmarxistisch auf, hält sich also, weniger wertend formuliert, mit bemerkenswerter Treue an Einsichten und Aussichten, die Marx zuerst formuliert hat. Wenn man die Literatur auch nur überfliegt, die Besitzende und Bevorrechtigte für sich sprechen lassen, ihre populären Medien und gelehrten Abhandlungen, findet man immer wieder, dass sie oder zumindest ihre besser bezahlten Vor- und Nachdenkfabrikbeschäftigten Marx kennen, ja: dass sie ihm, so zwischen Krieg und Krise, nicht selten zwischen ihren Schlag- und Zischzeilen gerade das glauben, was ihren offiziellen Erklärungen für ihr abscheuliches Treiben am deutlichsten widerspricht.

    Wir verdanken diesem Mann zunächst die moderne Ideologiekritik, also die Erkenntnis, dass die durchschnittliche Geräuschkulisse einer Gesellschaft sehr genau weiß, wer in ihr die Musik bestellt und bezahlt. Wir verdanken ihm und seinem Freund und Förderer Friedrich Engels ferner überhaupt den schon erwähnten historischen Materialismus, das heißt die Wahrheit, dass sich die Menschheitsgeschichte nicht nach Ideen richtet, weder nach falschen noch nach richtigen, und dass man das wissen muss, wenn man sie neu organisieren und nach den richtigen Ideen fortsetzen will. Als Übersetzung von Annahmen über die Ideengeleitetheit der Weltereignisse in Taten kamen ja, bevor Marx für diese Übersetzung ein revolutionäres Wörterbuch anlegte, schon die wichtigsten bürgerlichen Errungenschaften in die Welt, zum Beispiel die heutzutage so gern als Propagandawerkzeug missbrauchten Menschenrechte: Erst glaubte man, theologisch, diese Rechtsform hafte den empirischen Menschen per himmlischem Dekret als evidente Gottesebenbildlichkeit an; dann sah man ein, dass das weder im Dschungel noch auf der Straße, auf Plätzen und in Gebäuden gilt, dann beschloss man, es wenigstens in der menschengemachten Welt durchzusetzen und veranstaltete zu diesem Zweck schließlich die Revolution, zunächst die Französische – Marx hat das, was da geschah, verallgemeinert, sein Materialismus ist ein über sich selbst aufgeklärter Idealismus, einer mit Zähnen, einer, der beißt, wenn man ihn reizt. Die Geschichte der Lehre von Marx ist die Geschichte der Überwindung des Missverständnisses von Geschichte überhaupt als Ideengeschichte.

    Ich will die Reihe der Grundverdienste des Jubilars nicht so lange fortsetzen, bis sie euch und mich erschöpft, verwiesen sei nur noch darauf, dass er den Irrtum des bürgerlichen Individualismus kritisch auflöste, »das Individuum« (was immer das sei) stehe im primordialen Gegensatz zur Gesellschaft. Marx wies statt dessen nach, dass jedes Individuum, sofern überhaupt eins existiert, von ganz bestimmten Gesellschaften erreicht, erzeugt, geformt und mit Raum zur Selbsterziehung oder Selbstverhunzung beschenkt wird, darunter der kapitalistischen, die man deshalb studieren muss, wenn man das vorhandene durchschnittliche Individuum eher mangelhaft findet und in den allermeisten Fällen einen armen Hund, dem es besser gehen und der besser (freier, reicher, klüger, offener) sein könnte.

    Marx hat seinen eigenen Rat beherzigt und diese Gesellschaft studiert. So gelang es ihm offenzulegen, wie sie ausbeutet, unterdrückt, ausgrenzt, einschließt, wie sie Menschen vereinzelt, vereinsamt, sie verkommen lässt. Weil man so nicht leben kann, hat Marx sich außerdem Gedanken darüber gemacht, wie eine andere, eine im Sinn des verwirklichten und entfalteten menschlichen Potentials eingerichtete Gesellschaft aussehen könnte, und dabei einen Kommunismus skizziert, der nicht fertig aus dem Backofen springt und den man auch nicht downloaden kann.

    Dieser Kommunismus hat unter anderem eine niedere Stufe, deren Aufgabe es ist, nach bestimmten, vernünftigen Regeln die Produktivkräfte und die Produktionsverhältnisse so zu entwickeln, dass eine höhere Stufe dieses Kommunismus möglich wird, worin dann »die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist«. Auf ihr wird dann auch praktisch der Widerspruch zwischen Einzelperson und Gemeinwesen aufgelöst, den Marx zuvor schon kritisch aufgelöst hat.

    Es stecken folglich, wie man sieht, anwendbare und tiefgreifende Wahrheiten in den Sätzen des Jubilars, und es stecken Weisheiten drin. Das kann man wissen, das fragt sich nicht. Was sich aber fragt, ist, wie viele und welche von diesen Wahrheiten und Weisheiten wir mit den derzeit schwachen Kräften aller, die überhaupt noch eine Welt ohne Ausbeutung, Unterdrückung, Ausgrenzung, Einkerkerung, Entfremdung und Asozialität wollen, durch diese blöden und bösen Zeiten tragen können, wie viele und welche wir weitergeben und was damit sonst geschehen soll.

    Eine einfache und, wie ich aus eigener Praxis bezeugen kann, sehr effektive Methode, die Wahrheiten und Weisheiten im Gebrauch zu halten, die wir Marx verdanken, ist die, sich ohne falsche Scheu an Leute zu wenden, die gerade an einem konkreten Fall (und am besten nicht passiv erleidend, sondern im Kampf) etwas für sie Neues über Ausbeutung, Unterdrückung, Ausgrenzung, Einkerkerung, Entfremdung und Asozialität gelernt haben, und ihnen dann zu zeigen, dass diese jeweilige Neuigkeit schon seit mehr als hundert Jahren bei Marx steht und auf sie wartet.

    »Schön, dass ihr doch noch gekommen seid«, ist ja der Standardgruß, der aufrichtigen Linken immer wieder aus diesen Texten winkt.

    Schrankenlose Verfügung

    In Hollywood zum Beispiel, wo der Bewusstseinsstand traditionell tief unterm technisch illusionistischen State of the Art dahinsiecht, hat man neuerdings mit Staunen und Augenreiben strukturelles Unrecht entdeckt, das heißt seltsame Phänomene zwischen Vergütungsgefälle und menschlicher Ekelhaftigkeit, zwischen Rassismus, Sexismus und anderen Arten der Verletzung bürgerlicher Gleichheitsgrundsätze.

    Da wundern sich dann ehrliche Gleichheitsbegeisterte, etwa Schauspielerinnen und Schauspieler, öffentlich darüber, dass etwas offenbar gar nicht stimmt, was diese Gesellschaft von sich verbreiten lässt, nämlich die Behauptung, Arbeits- und sonstige Sozialverhältnisse seien in ihr nicht mehr solche der persönlichen Machtausübung wie in der Sklaverei oder der Leibeigenenwirtschaft, sondern unterm Vorzeichen des Verkaufs von Arbeitskraft schön vertraglich geregelt, nicht mehr mit Peitsche und Halseisen, sondern mit dem Handy und dem Beeper, ganz versachlicht, in gerechtem Tausch, zum Beispiel: Schönheit und Talent gegen Reichtum, Drogenabhängigkeit und Ruhm.

    In Wirklichkeit ist die ganze schöne Pantomime von der Objektivität der Transaktion und dem Tod der subjektiven Willkür ein Ablenkungsmanöver, weil in dieser Gesellschaft schon die Definition dessen, was überhaupt sinnvolle, produktive Tätigkeit sei, ohne die Menschen ja gar nicht leben könnten, einer grauenhaften Wahnvorstellung gehorchen muss, nämlich dem Gebot, dass (bei allem Gelaber von flachen Hierarchien, Teams und gemeinsam erfüllten Aufgaben) immer nur diejenigen Arbeitsresultate als produktiv gelten, die irgendeinem Idioten mit Besitztitel (oder wenigstens einem Unteridioten mit verbrieftem Mandat von so einem Oberiditioten) Profit einbringen. Dass diese Gesellschaft zwischen beruflichem Verhältnis und sexueller Belästigung (bis hin zur Vergewaltigung) ein Kontinuum der schrankenlosen Verfügung gewisser Menschen über andere Menschen eingerichtet hat, steht wortwörtlich bei Marx in den »Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie«, die er 1857 und 1858 schrieb, und zwar in der stellenweise obszönen Sprache, die dem obszönen Sachverhalt entspricht, nämlich da, wo er von den modernen Wirtschaftsgelehrten sagt, sie hätten sich zu solchen Liebedienern des abstrakten besitzenden Schweinerkerls (ob das nun ein Fabrikant oder ein Filmproduzent ist, bleibt sich gleich) gemacht, dass sie, und nun wörtlich Marx: »demselben weismachen wollen, es sei produktive Arbeit, wenn einer ihm die Läuse auf dem Kopf suche, oder ihm den Schwanz reibe, weil etwa die letztre Bewegung ihm den dicken Kopf – blockhead – den nächsten Tag aufgeräumter für das Comptoir machen werde. Es ist daher ganz richtig – zugleich aber auch charakteristisch – dass den konsequenten Ökonomen die Arbeiter z. B. von Luxusshops produktive Arbeiter sind, obgleich die Kerls, die solche Gegenstände verzehren, ausdrücklich als unproduktive Verschwender kastigiert werden. Das fact ist, dass diese Arbeiter, indeed, produktiv sind, as far as they increase the capital of their master; unproductive as to the material result of their labour. In fact ist ja dieser ›produktive‹ Arbeiter gerade ebenso interessiert an dem Scheißdreck, den er machen muss, wie der Kapitalist selber, der auch den Teufel nach dem Plunder fragt.«

    Wer jemals die Luxusunternehmer, die Figuren, von denen er da redet, in Venedig auf dem Filmfest getroffen hat, weiß, dass das alles stimmt, inklusive Desinteresse an den Uhren und Klamotten, denen sie vordergründig ihr Vermögen verdanken.

    Geplantes Schliddern

    Wir hier dagegen, heute abend und hoffentlich darüber hinaus, sind sehr interessiert – nicht an Scheißdreck, aber doch an Schätzen, an Sätzen von Marx, die wir reproduzieren müssen, wo sie passen.

    Welche werden wir wie weitertragen, weitergeben können?

    Das hängt unter anderem davon ab, ob wir das überleben, was auf uns zukommt, nicht zuletzt die Kriege, mit denen jetzt gerechnet wird – einerseits von Investigativdenkern, die glauben, derartige Kriege würden kühl geplant, andererseits von immer wieder neu aus heiterem Himmel entsetzten Medienmenschen, die ganz ungekünstelt für wahr halten, was die Monopolbourgeoisien der vorhandenen paar souveränen Staaten und überstaatlichen Bündnisse erzählen lassen, nämlich, ich sagte es schon, dass sie in Kriege immer nur hineinschliddern. Die Wahrheit liegt, auch das wissen wir von Marx, zwischen Plan und Schliddern, aber nicht platt irgendwie in der Mitte, sondern dialektisch vermittelt: Diese Verbrecher planen kühl, bei Gelegenheit zu schliddern, mehr Plan brauchen sie nicht.

    Axel Springers Welt hat das vor rund einem Jahr, am 25. Mai 2017, aus gegebenem Anlass wieder einmal fein bestätigt: »Die Staats- und Regierungschefs der NATO haben 2014 gemeinsam Ziele für ihre Verteidigungsausgaben festgelegt. Das wichtigste von ihnen lautet, dass alle Länder darauf abzielen sollen, spätestens von 2024 an zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für Rüstung und Militär auszugeben. Das sogenannte Zwei-Prozent-Ziel wurde unter dem Eindruck der Ukraine-Krise beschlossen.«

    Der reine Feinsinn: »unter dem Eindruck«, wie ein Poet was dichtet, wenn er zum ersten Mal die Alpen gesehen hat.

    In der Woche, die jetzt direkt hinter uns liegt, erfreute uns die »Tagesschau« der ARD mit einer Zwischenmeldung auf dem Schlidderplanweg: »Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen fordert in der derzeitigen Legislaturperiode zwölf Milliarden Euro mehr für die Bundeswehr. Damit ist der finanzielle Mehrbedarf, den die CDU-Politikerin in den laufenden Haushaltsverhandlungen angemeldet habe, mehr als doppelt so hoch wie im Entwurf von Finanzminister Olaf Scholz vorgesehen.«

    Was machen wir mit diesen ekelhaften Auskünften, wenn wir Marx gelesen haben? Über seine Haltung zu Kriegen ist viel verwirrtes Geschwätz im Umlauf. Waren er und Engels nicht gegen Russland und für einen preußisch-deutschen Angriff aufs Zarenreich? War er nicht auch irgendwann einmal gegen oder für Frankreich? War er nicht für die Union und gegen die Sezession im amerikanischen Bürgerkrieg, der Sklaverei wegen? Und heißt das alles nicht, dass man, wenn man Marx folgen will, der gewiss kein Gesinnungspazifist war, ab und zu auch Kriegsanstrengungen befürworten könne, ja müsse? Nun ja, die Rote Armee gegen die Wehrmacht, selbstverständlich, das ist nicht schwierig, da braucht man aber keinen Marx, das geht mit dem kleinsten Messerspitzchen Verstand und Gewissen. Diejenigen allerdings, die für imperialistische Kriege das Wort ergreifen und es wagen, dabei auf marxistischen Gründen herumzukauen, sollen sich hüten, so zu tun, als wären Stellungnahmen zu Kriegen Fußballwetten und als dürfe man sich die sympathischere Mannschaft aussuchen, um mit gutem Gewissen vom Ergebnis zu profitieren.

    Engels hat Marx nämlich ganz richtig verstanden, als er nach dem Tod des Freundes die Arbeiterbewegung als größte Feindin imperialistischer Kriege ansprach und auch sonst unmissdeutbar beschrieb und erläuterte, wie sozialistisches Denken und Handeln im Zusammenhang mit den Kriegen der Besitzenden aussehen – doch, Engels, genau, denn ich werde doch hier keinen Marx-Vortrag halten und diesen Mann nicht oft genug erwähnen, obwohl, nein: gerade weil es eine der übelsten Sitten der bürgerlichen Marx-Entstellerei ist, Engels von Marx zu trennen, etwa, um Marx ins 19. Jahrhundert abzuschieben, über das hinaus Engels so unübersehbar in die Arbeiterbewegung gewirkt hat, oder um Marx in die Philosophie abzuschieben, die für Engels eher von nachrangigem Interesse war, und jedenfalls: um Marx zu isolieren, damit er nicht am Ende noch mit Lenin in Kontakt kommt, dazu gleich mehr.

    Engels also, um zu ihm zurückzukehren, hat spät im Leben, lange nach dem Tod des Freundes, ein neues Vorwort zu einer von Marxens wichtigsten kürzeren, eingreifenden Schriften verfasst, den »Klassenkämpfen in Frankreich 1848 bis 1850«.

    Politisch vermittelte Ökonomie

    Der Nachlasstreuhänder stellte gleich zu Beginn seines späten Vorworts klar, was diese Arbeit so wichtig macht: »Die hiermit neu herausgegebene Arbeit war Marx’ erster Versuch, ein Stück Zeitgeschichte vermittelst seiner materialistischen Auffassungsweise aus der gegebenen ökonomischen Lage zu erklären. Im ›Kommunistischen Manifest‹ war die Theorie in großen Umrissen auf die ganze neuere Geschichte angewandt, in Marx’ und meinen Artikeln der Neuen Rheinischen Zeitung war sie fortwährend benutzt worden zur Deutung gleichzeitiger politischer Ereignisse. Hier dagegen handelte es sich darum, im Verlauf einer mehrjährigen, für ganz Europa sowohl kritischen wie typischen Entwicklung den inneren Kausalzusammenhang nachzuweisen, also, im Sinn des Verfassers, die politischen Begebenheiten zurückzuführen auf Wirkungen von in letzter Instanz ökonomischen Ursachen.«

    Beim Ersterscheinen waren der Schrift die Sätze vorangestellt: »Mit Ausnahme einiger weniger Kapitel trägt jeder bedeutendere Abschnitt der Revolutionsannalen von 1848 bis 1849 die Überschrift: Niederlage der Revolution! Was in diesen Niederlagen erlag, war nicht die Revolution. Es waren die vorrevolutionären traditionellen Anhängsel, Resultate gesellschaftlicher Verhältnisse, die sich noch nicht zu scharfen Klassengegensätzen zugespitzt hatten – Personen, Illusionen, Vorstellungen, Projekte, wovon die revolutionäre Partei vor der Februarrevolution nicht frei war, wovon nicht der Februarsieg, sondern nur eine Reihe von Niederlagen sie befreien konnte. Mit einem Worte: Nicht in seinen unmittelbaren tragikomischen Errungenschaften brach sich der revolutionäre Fortschritt Bahn, sondern umgekehrt, in der Erzeugung einer geschlossenen, mächtigen Konterrevolution, in der Erzeugung eines Gegners, durch dessen Bekämpfung erst die Umsturzpartei zu einer wirklich revolutionären Partei heranreifte. Dies nachzuweisen ist die Aufgabe der folgenden Blätter.«

    Für uns, die wir die Zerstörung der sozialistischen Staatenwelt erlebt haben, ist hier eine unschätzbar wichtige Wahrheit aufbewahrt: Die Niederlage und ihre Analyse sind der Lehre von Marx nicht nur nicht fremd, sie gehören im Innersten zu ihr, soll sagen: Sie haben ihr dazu verholfen, überhaupt so gründlich und so wahr zu werden, wie sie ist, eben weil die Niederlagenanalyse eines der wichtigsten Momente jeder Theorie sein muss, die es unternimmt, »die politischen Begebenheiten zurückzuführen auf Wirkungen von in letzter Instanz ökonomischen Ursachen«.

    Die Kräfteverhältnisse zwischen Frankreich und anderen Staaten waren für die Analyse, die Marx 1850 schrieb, solche ökonomischen Ursachen, aber in politischer Vermittlung, als relativer Stand des Klassenkampfes nämlich, als Zustand der beiden nationalen Bourgeoisien und als Metrik des Spielraums für ihre Gegner. Das Modell, das Marx davon gebaut hatte, bestätigte sich in den Jahrzehnten danach, wie Engels in seinem späten Vorwort ausführt, schlagend und glänzend: »Nach dem Kriege von 1870/71 verschwindet Bonaparte vom Schauplatz, und Bismarcks Mission ist vollendet, so dass er nun wieder zum ordinären Junker herabsinken kann. Den Abschluss der Periode aber bildet die Kommune von Paris. Ein heimtückischer Versuch von Thiers, der Pariser Nationalgarde ihre Geschütze zu stehlen, rief einen siegreichen Aufstand hervor. Es zeigte sich wieder, dass in Paris keine andere Revolution mehr möglich ist als eine proletarische. Die Herrschaft fiel der Arbeiterklasse nach dem Sieg ganz von selbst, ganz unbestritten in den Schoß. Und wiederum zeigte sich, wie unmöglich auch damals noch, zwanzig Jahre nach der in unserer Schrift geschilderten Zeit, diese Herrschaft der Arbeiterklasse war. Einerseits ließ Frankreich Paris im Stich, sah zu, wie es unter den Kugeln Mac-Mahons verblutete; andererseits verzehrte sich die Kommune im unfruchtbaren Streit der beiden sie spaltenden Parteien, der Blanquisten (Majorität) und der Proudhonisten (Minorität), die beide nicht wussten, was zu tun war. Ebenso unfruchtbar wie 1848 die Überrumpelung, blieb 1871 der geschenkte Sieg.

    Mit der Pariser Kommune glaubte man das streitbare Proletariat endgültig begraben. Aber ganz im Gegenteil, von der Kommune und vom Deutsch-Französischen Krieg datiert sein gewaltigster Aufschwung. Die totale Umwälzung des gesamten Kriegswesens durch die Einrangierung der ganzen waffenfähigen Bevölkerung in die nur noch nach Millionen zu berechnenden Armeen, durch Feuerwaffen, Geschosse und Explosivstoffe von bisher unerhörter Wirkungskraft machte einerseits der bonapartistischen Kriegsperiode ein jähes Ende und sicherte die friedliche industrielle Entwicklung, indem sie jeden anderen Krieg unmöglich machte als einen Weltkrieg von unerhörter Greuelhaftigkeit und von absolut unberechenbarem Ausgang. Andrerseits trieb sie durch die in geometrischer Progression steigenden Heereskosten die Steuern zu unerschwinglicher Höhe und damit die ärmeren Volksklassen in die Arme des Sozialismus. Die Annexion von Elsass-Lothringen, die nächste Ursache der tollen Konkurrenz in Kriegsrüstungen, mochte die französische und deutsche Bourgeoisie gegeneinander chauvinistisch verhetzen; für die Arbeiter beider Länder wurde sie ein neues Band der Einigung. Und der Jahrestag der Kommune von Paris wurde der erste allgemeine Festtag des gesamten Proletariats.«

    Richtmaß: Umsturz

    Was hier klargestellt ist, kann man gar nicht oft genug sagen: Die Partei, zu der Marx hielt, war schlicht in jedem Land diejenige, die antrat, die Klassenherrschaft der Besitzenden zu stürzen. An ihr und sonst an nichts richtet er seine Einschätzung auch jeder militärischen Lage aus, vor dem Krieg, nach dem Krieg, im Krieg. Wer ihm das nicht nachtun will, soll sich auf was und wen immer berufen – nicht auf Marx.

    Diese Umsturzpartei ist heute vergleichsweise schwach. Man stellt ihr nach, wo sie sich zu erkennen gibt, sie wirkt von abseits her, man muss sie manchmal suchen. Aber das gab’s schon früher, sagt Engels mit bösem Witz in seinem Vorwort zu den »Klassenkämpfen in Frankreich«:

    »Es sind nun fast aufs Jahr 1.600 Jahre, da wirtschaftete im Römischen Reich ebenfalls eine gefährliche Umsturzpartei. Sie untergrub die Religion und alle Grundlagen des Staates; sie leugnete geradezu, dass des Kaisers Wille das höchste Gesetz, sie war vaterlandslos, international, sie breitete sich aus über alle Reichslande von Gallien bis Asien und über die Reichsgrenzen hinaus. Sie hatte lange unterirdisch, im verborgenen gewühlt; sie hielt sich aber schon seit längerer Zeit stark genug, offen ans Licht zu treten. Diese Umsturzpartei, die unter dem Namen der Christen bekannt war, hatte auch ihre starke Vertretung im Heer; ganze Legionen waren christlich. Wenn sie zu den Opferzeremonien der heidnischen Landeskirche kommandiert wurden, um dort die Honneurs zu machen, trieben die Umstürzlersoldaten die Frechheit so weit, dass sie zum Protest besondere Abzeichen – Kreuze – an ihre Helme steckten. Selbst die üblichen Kasernenschurigeleien der Vorgesetzten waren fruchtlos. Der Kaiser Diokletian konnte nicht länger ruhig zusehen, wie Ordnung, Gehorsam und Zucht in seinem Heere untergraben wurden. Er griff energisch ein, weil es noch Zeit war. Er erließ ein Sozialisten-, wollte sagen Christengesetz. Die Versammlungen der Umstürzler wurden verboten, ihre Saallokalitäten geschlossen oder gar niedergerissen, die christlichen Abzeichen, Kreuze etc. wurden verboten wie in Sachsen die roten Schnupftücher. Die Christen wurden für unfähig erklärt, Staatsämter zu bekleiden, nicht einmal Gefreite sollten sie werden dürfen. Da man damals noch nicht über so gut auf das ›Ansehen der Person‹ dressierte Richter verfügte, wie Herrn von Köllers Umsturzvorlage sie voraussetzt, so verbot man den Christen kurzerhand, sich vor Gericht ihr Recht zu holen. Auch dies Ausnahmegesetz blieb wirkungslos. Die Christen rissen es zum Hohn von den Mauern herunter, ja sie sollen dem Kaiser in Nikomedien den Palast über dem Kopf angezündet haben. Da rächte sich dieser durch die große Christenverfolgung des Jahres 303 unserer Zeitrechnung. Sie war die letzte ihrer Art. Und sie war so wirksam, dass siebzehn Jahre später die Armee überwiegend aus Christen bestand, und der nächstfolgende Selbstherrscher des gesamten Römerreichs, Konstantin, von den Pfaffen genannt der Große, das Christentum proklamierte als Staatsreligion.«

    Man muss die letzte Stufe nicht erobern wollen. Es gibt Schöneres als Staatsreligionen, zum Beispiel sozialistische Staatsmacht.

    Unsere Zeichen

    Wir, die wir die Schätze und Sätze, die Wahrheiten und Weisheiten von Marx im Gebrauch und am Leben halten wollen, haben allerdings auch unsere Zeichen, wenn schon nicht das Kreuz, das der Herr Söder jetzt wieder in die Amtsgebäude hängen will. Wir haben zum Beispiel Hammer und Sichel, wir haben Zirkel und Ährenkranz, das sind keine schlechten, keine schwachen oder mehrdeutigen Symbole, man weiß ganz gut, was sie bedeuten, wofür sie stehen. Auch sie sind verboten worden, etwa in Lettland, Ungarn, Polen, also unter anderem da, wo der Imperialist Donald Rumsfeld im Jahr 2003 das von ihm so genannte Neue Europa heraufziehen sah, als der reiche Westen Europas einmal nicht gar so viel Lust hatte, für ihn im Nahen Osten die Weltordnerei zu versuchen.

    Auch in Deutschland hat man gefordert, unsere Zeichen zu verbieten – es stand am 15. Mai 2014 in der Taz, in dem Jahr also, als die NATO beschloss, deutlich mehr Geld für Rüstung vom Mehrwert abzuzweigen: »Sollte die Verwendung des Symbols der Freien Deutschen Jugend genauso bestraft werden wie die des SS-Totenkopfs? Ist ein roter Stern ebenso schwer erträglich wie ein Hakenkreuz? Sind die Uniformen der Ernst-Thälmann-Pioniere so abstoßend wie jene der Wehrmacht? Und muss Energie Cottbus sein Stadion der (deutsch-sowjetischen) Freundschaft umbenennen? Ginge es nach Hubertus Knabe, Leiter der Gedenkstätte Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen, und seiner ideologischen Mitstreiter, wäre die Antwort ein eindeutiges Ja.«

    Es wird nicht der letzte Versuch gewesen sein, etwas wenigstens symbolisch ungeschehen zu machen, was die Besitzenden und Befehlenden der heutigen Weltordnung selbst im Rückblick kaum ertragen können.

    Es gibt indes einen Unterschied zwischen dem Kruzifix auf der einen, den sozialistischen Symbolen auf der anderen Seite: Wir kennen niemanden mehr, der bei Golgatha dabei war. Aber es wissen noch Leute, von wem Hitler aufgehalten wurde, oder wo die Hauptstadt der DDR sich befand. Das ist ein Wissen, das nicht weniger wichtig ist als die Kenntnis der Schätze und Sätze, der Wahrheiten und Weisheiten von Karl Marx, ohne den es die Macht, die Hitler aufhielt, und die Hauptstadt der DDR, in der Hitlers – von ihm verfolgten, aber nicht besiegten – Feinde regierten, nie gegeben hätte.

    Es hat sie gegeben, und das wird nicht umsonst gewesen sein.

  • · Hintergrund

    Grobe Allerweltsformel

    Der »Bonapartismus« in der Theorie von Karl Marx taugt wenig, um die aktuellen Phänomene autoritärer Herrschaft zu beschreiben. Eine Kritik
    Dieter Boris
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    Die Typisierung einer Herrschaftsform des 19. Jahrhunderts, wie sie Napoleon III. (Aufnahme von etwa 1860) etablierte, ist nicht anwendbar auf bestimmte Verhältnisse der Gegenwart, etwa auf die Präsidentschaft Donald Tumps in den USA

    »Denn eben, wo Begriffe fehlen,

    Da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein.

    Mit Worten lässt sich trefflich streiten,

    Mit Worten ein System bereiten,

    An Worte lässt sich trefflich glauben,

    Von einem Wort lässt sich kein Iota rauben.«

    (Johann Wolfgang Goethe: Faust, Erster Teil)

    Das Verhältnis von sozialer Wirklichkeit zu den Begriffen, die sie verständlich und erklärbar machen sollen, wird und kann nie ein anderes sein als ein auch von Spannungen, Inkongruenzen und Lücken gekennzeichnetes. Denn immer ist die empirische Mannigfaltigkeit größer als die Eindeutigkeit und Trennschärfe vorgebenden Begriffe, und immer sind – durch die sich stets verändernden Konstellationen von Zeit und Raum – die gesellschaftlichen Objektbereiche in mehr oder minder starkem Maße von den sie bezeichnenden Begriffen verschieden. Geschichtliche Entwicklung, Kumulierung von Ereignissen, qualitative Veränderungen nötigen einer Erfassung dieser Prozesse auch immer Modifikationen, vielleicht sogar Neuschöpfungen, d. h. neue Begrifflichkeiten auf. Vor diesem Dilemma steht jede Analyse zeitgenössischer Verhältnisse, die nach Erklärung neuer Phänomene verlangen, die auf einen Wendepunkt in der bisherigen Entwicklung hindeuten: z. B. die Stärkung rechtspopulistischer Kräfte in Europa und in den USA, die Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA, die sich verstärkenden Barrieren für eine Fortsetzung der neoliberalen Globalisierung, die wachsende Zahl der Flüchtlinge und keineswegs zuletzt: der islamistische Terrorismus. All dies sind Phänomene, die es einzeln oder in möglichen Zusammenhängen zu erklären gilt.

    Theoriebedarf

    Es ist verständlich, wenn seitens der Linken angesichts dieser Weltsituation, von der man annehmen kann, dass mit ihr eine Zäsur erreicht ist, das Begriffs- und Theoriearsenal durchmustert wird, um zu überprüfen, ob von dort nicht neue Impulse für ein besseres Verstehen der gegenwärtigen Konstellationen ausgehen können. In diesem Zusammenhang sind einige auf das Konzept des »Bonapartismus« gestoßen, das von Karl Marx 1851/52 entwickelt wurde, um die quasi-putschistische Machteroberung und den plebiszitär gestützten Machterhalt von Charles Louis Napoleon Bonaparte III. (einem Neffen des ursprünglichen Kaisers Napoleon) zu verstehen und zu interpretieren.

    Das Konzept des Bonapartismus könnte in gewissem Maße für ein besseres Verständnis der Gegenwart hilfreich sein, wenn einige Vorsichtsmaßregeln beachtet werden. Eine Hauptfrage dabei ist, ob Begriffe, die auf bestimmte politische Mechanismen abzielen und im Kontext konkreter ökonomischer, sozialstruktureller, politischer und kultureller Zusammenhänge entstanden sind, auf Gesellschaften übertragen werden können, die 170 Jahre älter sind und eine gänzlich andere Klassenkonstellation aufweisen, ganz zu schweigen vom ökonomischen Entwicklungsstand und den völlig gewandelten internationalen Verhältnissen.

    Prüfen wir zunächst, welche Elemente der historische Bonapartismus – laut den Ausführungen von Marx – umfasst. Es sind dies, sehr schematisiert und verkürzt, in systematischer Reihenfolge mindestens fünf:

    1. Gescheiterter Ansturm bzw. Revolutionsversuch des (Pariser) Proletariats, der – nach blutiger Niederschlagung – Schrecken bei der Bourgeoisie und dem Kleinbürgertum hinterlassen hat.

    2. Die Bourgeoisie des betreffenden Landes (ursprünglich Frankreich) kann nicht (nicht mehr) Hegemonie ausüben bzw. ist zur Vereinheitlichung der Klassenfraktionen (innerhalb und außerhalb der Bourgeoisie) nicht mehr fähig.

    3. Daher wird die republikanisch-demokratische, im Parlament ausgeübte politische Herrschaftsform, eine mehr oder minder direkte politische Herrschaft der Bourgeoisie, nicht mehr möglich. (Sie wäre angesichts der Kräfteverhältnisse zu prekär, denn damit würde die ökonomisch-soziale Macht aufs Spiel gesetzt.) Daher sieht sich die Bourgeoisie genötigt, ihre politische Herrschaft einer verselbständigten Exekutivgewalt (mehr verselbständigt als ohnehin üblich) zu überlassen, mit dem Hauptziel, dadurch ihre ökonomisch-soziale Macht zu bewahren.

    4. Die wesentliche soziale Basis der neuen, verselbständigten Exekutivgewalt (in Gestalt Napoleons III.) ist die Masse der städtischen und vor allem ländlichen Kleinbürger (die »Parzellenbauern«), die sich politisch (aufgrund mangelnden Zusammenhalts, fehlender Kommunikation untereinander und abwesenden Klassenbewusstseins etc.) nicht selbst vertreten können, sondern von anderen (der Exekutivgewalt) vertreten lassen müssen.

    5. Allerdings handelt die verselbständigte Exekutive nicht primär im Interesse der kleinbürgerlichen und bäuerlichen Basis, sondern vor allem in Interesse der Großbourgeoisie und der Ausbreitung und Vertiefung der kapitalistischen Produktionsweise. Mit gewissen Ersatzbefriedigungen, ideologischen Formeln, chauvinistischen Eroberungsversprechen, nationalistischen Symbolen etc. wird die Basis zufriedengestellt bzw. in Zaum gehalten. – Das Personal der Exekutivgewalt setzt sich überwiegend aus politischen Abenteurern und Karrieristen, gescheiterten Existenzen sowie Deklassierten, Kriminellen und Lumpenproletariern zusammen, die sich zuvor in der sogenannten Dezemberbande zusammengefunden hatten.

    Vorbehalte

    Wenn man davon ausgeht, dass es zum politischen Einmaleins linker Theorie gehört, dass die kapitalistische Gesellschaft sich u. a. durch den konstitutiven Widerspruch von ökonomisch-sozialer Ungleichheit (durch bedeutenden Produktionsmittelbesitz einerseits, durch Besitzlosigkeit an solchen Produktionsmitteln andererseits) und politischer sowie rechtlicher Gleichheit andererseits auszeichnet, und wenn man weiterhin davon ausgeht, dass innerhalb der kapitalistischen Entwicklung (je nach Kumulierung gesellschaftlicher Konflikte) die herrschenden Kräfte immer wieder auf tendenzielle Entdemokratisierung und autoritäre Herrschaftsformen drängen, dann kann diese generelle Tendenz nicht mit einer sehr spezifischen Konstellation wie der des Bonapartismus begriffen werden. Oder anders gesagt: Der Bonapartismus war nur eine besondere, konkrete Ausprägung dieser allgemeinen Tendenz in einem bestimmten Land mit einem bestimmten sozialstrukturellen und ökonomischen Entwicklungsstand.

    Das bedeutet für eine über den ursprünglichen Fall hinausgehende Verwendung dieses Begriffs, dass deutlich zwischen einzelnen Elementen und Mechanismen, die beim Bonapartismus eine Rolle spielen, unterschieden werden muss. So hat etwa August Thalheimer bei der Entfaltung seiner faschismustheoretischen Konzeption auf bestimmte Mechanismen der Bonapartismustheorie von Marx zurückgegriffen, zugleich aber deutlich auf die großen Unterschiede zwischen Frankreich 1851 und Italien und Deutschland in den 1920er und 1930er Jahren hingewiesen.¹

    Wolfgang Abendroth, der von Thalheimers theoretischen und politischen Positionen stark beeinflusst war,² hat diese These von der Ähnlichkeit und Verschiedenheit des Bonapartismus mit bzw. gegenüber dem deutschen Faschismus weiter verfeinert, modifiziert und die Unterschiede stärker betont. Im Faschismus erfolge, schreibt Abendroth, »eine unmittelbare Verschmelzung von Staatsapparat und permanent aufrechterhaltener faschistischer Massenorganisation, eine Entwicklung, die deshalb etwas qualitativ völlig anderes darstellt als der Bonapartismus Napoleons III.«³ Er hebt überdies hervor, dass die Eingriffe der öffentlichen Gewalt in den konjunkturellen Prozess gleichfalls nur dem Faschismus des 20. Jahrhunderts zukommen, keinesfalls dem »klassischen Bonapartismus«. Darüber hinaus neu sei das Gewicht einer faschistischen Partei – verbunden mit ihren quasi militärischen Terrororganisationen (vorwiegend aus den Mittelschichten rekrutiert und mobilisiert) –, die »in Zusammenarbeit mit der traditionalen Staatsorganisation die Unterdrückungsfunktion der öffentlichen Gewalt gegenüber den Unterklassen generalisierten und extrem verstärkten und sie in derart erheblichem Maße permanent gestalten konnten, wie sie die bonapartistische Staatsmacht weder in dieser Intensität noch in dieser Dauerhaftigkeit herstellen konnte. Die zweite Folge dieser neuen Situation bestand darin, dass die Rechtsstaatlichkeit zwar nicht gänzlich aufgelöst werden konnte, weil sie als Parallele der Marktgesellschaft in bestimmten Relationen erhalten bleiben musste, aber durch einen nicht rechtsstaatlichen, sondern unverhüllt dezisionistisch-repressiven Teil staatlicher Tätigkeit weithin verdrängt wurde. Drittens führte diese Situation zu einer relativ permanenten Symbiose von Monopolwirtschaft und Staat im Zeichen eines auch nach außen aggressiven Rüstungskapitalismus.«⁴

    Die notwendige Vorsicht im Gebrauch oder Nichtgebrauch des Konzepts des Bonapartismus bzw. seiner mehr oder minder deutlichen Relativierung scheint bei aktuellen Veröffentlichungen offenbar ins Wanken zu geraten. Wenn man z. B. den Titel einer angekündigten Publikation liest, in welcher mit Bonapartismus Trump, Orban, Erdogan etc. »erklärt« werden sollen, kommen doch erhebliche Zweifel auf.⁵

    Trump-Bonaparte?

    Um das politische Phänomen Donald Trump zu »verstehen«, ist man mit der Bonapartismustheorie denkbar schlecht bedient. Kein einziges der fünf aufgezählten Elemente trifft auf die US-Situation vor der Wahl Trumps zu. Weder gab es einen vorherigen gescheiterten Revolutionsversuch des US-amerikanischen Proletariats, noch hat die US-Großbourgeoisie (es traten lediglich »normale« Differenzen zwischen einzelnen Kapitalfraktionen auf) ihre überaus gefestigte Hegemonie eingebüßt, noch gab es meines Wissens nach eine völlige Entmachtung des Kongresses – eine »verselbständigte Macht der Exekutivgewalt«, wie es bei Marx heißt (MEW 8, 204). Außerdem existieren in den USA keine Parzellenbauern oder eine vergleichbare gesellschaftliche Schicht, die sich nicht hätte selbst politisch vertreten können. Dass letztlich eine ziemlich direkte Politik für das Kapital, besonders für das sehr große Kapital, verfolgt wird, darüber kann kein Zweifel bestehen. Das ist gewissermaßen »normal«, gleichgültig, welche politische Herrschaftsform gerade gilt. Dass das Kabinett von Trump quasi die zeitgenössische »Dezemberbande« (aus Deklassierten, Lumpenproletariern, notorischen Kriminellen etc.) sei, lässt sich angesichts der besonderen Häufung von Multimillionären, Milliardären und hohen Militärs in diesem Kabinett auch schwer behaupten. Was also hat Trump mit Napoleon III. zu schaffen?

    Darüber gibt Ingar Solty, Mitautor der erwähnten Neuerscheinung, folgende Auskunft: »Donald Trump hat heute eine Regierung des Kapitals, durch das Kapital und für das Kapital etabliert. Und seine Politik macht die Demokratie (…) dem Erdboden gleich. In der von Marx ausgehenden Bonapartismus- und Faschismustheorie war die Diskussion des Stellenwerts der direkten Herrschaft des Kapitals ein zentraler Angelpunkt. Wie ertragreich diese Unterscheidung von direkter und indirekter Kapitalherrschaft ist, sei einmal dahingestellt. Selbstverständlich sind die USA unter Trump kein faschistischer Staat. Es finden weiterhin allgemeine Wahlen statt. Aber der Neoliberalismus hat bessere Wege gefunden, die Demokratie auszuhebeln, ohne die Wahlen abzuschaffen – nämlich so, dass zwar gewählt wird, aber die Regierungen, die gewählt werden, keine demokratische Politik im Interesse der Mehrheit mehr tätigen können.«⁶

    Hier stellt sich eine Reihe von Fragen. Um beim letzten Satz zu beginnen: Was ist in einer kapitalistischen Gesellschaft so außergewöhnlich daran, dass nicht »Politik im Interesse der Mehrheit« gemacht wird? Was ist – besonders in den USA – daran so brandneu, dass minimale Voraussetzungen von demokratischer Mitwirkung längst außer Kraft gesetzt sind (siehe: Wahlbeteiligung, Abhängigkeit der Kandidaten von Millionenspenden, extremer Lobbyismus etc.). Wenn aber alles Ausdruck einer direkten Regierung bzw. Herrschaft des, durch, für »das Kapital« ist, was bedeuten die immerhin nicht unbeträchtlichen Differenzen zwischen verschiedenen Kapitalfraktionen, die gegenüber der Vorwahlzeit nicht geringer, eher größer geworden sind? Was bedeutet dann noch »Verselbständigung der Macht der Exekutivgewalt« im Sinne von Marx, oder fällt die totale Rücknahme jeglicher Verselbständigung unter die nette Formulierung von einem »Soft-Bonapartismus« (Solty)?

    Frank Deppe geht in seinem Nachwort zu dem Buch »Die neuen Bonapartisten« etwas differenzierter zu Werke. Trotz gewissen Vorbehalten gegenüber dem Unternehmen gelangt er schließlich am Ende zu einer diplomatisch-versöhnlichen Einerseits-andererseits-Formel: »Die Tendenz zum autoritären Kapitalismus im frühen 21. Jahrhundert bringt vielfältige Erscheinungen der Entdemokratisierung hervor, die auch als ›Bonapartismus‹ bezeichnet werden können. Aufgrund der gewaltigen Unterschiede zwischen dem Entwicklungsniveau der kapitalistischen Produktionsweise um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Frankreich und dem globalen Finanzmarktkapitalismus der Gegenwart sollte jedoch mit der quasi metahistorischen Verallgemeinerung Marxscher Erkenntnisse über den Zusammenhang von Demokratie und Kapitalismus sowie über die Hegemoniefähigkeit der Bourgeoisie im politischen Feld einer demokratischen Verfassung sehr vorsichtig umgegangen werden.«⁷ Allerdings hält Deppe selbst sich nicht allzu lange an diese Vorsichtsmaßregel. Nur eine Seite weiter heißt es bei ihm ziemlich verallgemeinernd: »Die bonapartistischen Tendenzen und die damit verbundenen Tendenzen zur Barbarei sind überall in der Welt mit demokratischen Gegenbewegungen – mit unterschiedlicher Reichweite und Macht – konfrontiert«.⁸

    Kein Universalschlüssel

    Werner Mackenbach hatte schon 1995 im »Historisch-Kritischen Wörterbuch des Marxismus« diese Tendenz, den Begriff und das Konzept des Bonapartismus zu einer nichtssagenden »Allerweltsformel« zu degenerieren, kritisiert.⁹ Anscheinend kehrt diese Neigung von Zeit zu Zeit immer wieder, denn es scheint wesentlich leichter zu sein, alte Formeln, zumal von Klassikern, zu bemühen, als den eigenen Kopf wirklich anzustrengen.

    Schon Marx selbst hat diese Neigung in bezug auf den früher sehr verbreiteten Begriff des »Cäsarismus« scharf gegeißelt, just im Vorwort zur zweiten Auflage (1869) seiner zentralen Bonapartismusschrift »Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte«. Wenn man heute im nachfolgenden Zitat »Cäsarismus« durch »Bonapartismus« ersetzen würde, käme man meines Erachtens zu Marxens Ansicht über die inflationäre Benutzung bzw. den Missbrauch dieses Begriffs als Universalschlüssel. Er beendet das Vorwort mit den Worten: »Schließlich hoffe ich, dass meine Schrift zur Beseitigung der jetzt namentlich in Deutschland landläufigen Schulphrase vom sogenannten ›Cäsarismus‹ beitragen wird. Bei dieser oberflächlichen geschichtlichen Analogie vergisst man die Hauptsache, dass nämlich im alten Rom der Klassenkampf nur innerhalb einer privilegierten Minorität spielte, zwischen den freien Reichen und den freien Armen, während die große produktive Masse der Bevölkerung, die Sklaven, das bloß passive Piedestal (Sockel, Untersatz, D. B.) für jene Kämpfer bildete. Man vergisst Sismondis bedeutenden Ausspruch: Das römische Proletariat lebte auf Kosten der Gesellschaft, während die moderne Gesellschaft auf Kosten des Proletariats lebt. Bei so gänzlicher Verschiedenheit zwischen den materiellen, ökonomischen Bedingungen des antiken und des modernen Klassenkampfs können auch seine politischen Ausgeburten nicht mehr miteinander gemein haben als der Erzbischof von Canterbury mit dem Hohepriester Samuel.« (MEW 8, 560)¹⁰

    Anmerkungen:

    1 So auf die teilweise von der Bourgeoisie betriebene Aushöhlung des bürgerlich-parlamentarischen Regimes, damit »sie sozial ›gerettet‹ und politisch vergewaltigt werden kann« (durch Herstellung einer offenen Diktatur). Gleichzeitig hat er betont, dass die gewaltigen Unterschiede zur ursprünglichen Konstellation zu beachten seien (geschichtliche Traditionen, Klassenkonstellation, ökonomischer Entwicklungsstand etc.). August Thalheimer: Über den Faschismus. In: Wolfgang Abendroth (Hg.): Faschismus und Kapitalismus. Theorien über die sozialen Ursprünge und die Funktion des Faschismus, Frankfurt am Main 1967, S. 38 u. 34 ff.

    2 Wolfgang Abendroth: Ein Leben in der Arbeiterbewegung. Gespräche, hg. v. Barbara Dietrich u. Joachim Perels, Frankfurt am Main 1981, S. 118 ff.

    3 Ebd., S. 120

    4 Wolfgang Abendroth: Das Problem der sozialen Funktion und der sozialen Voraussetzungen des Faschismus. In: Das Argument 12 (1970), H. 58, S.251–257; hier: S. 254

    5 Martin Beck/Ingo Stützle (Hg.): Die neuen Bonapartisten: Mit Marx den Aufstieg von Trump und Co. verstehen. Dietz Verlag, Berlin 2018 (im Erscheinen)

    6 Ingar Solty: Eine Regierung des Kapitals, durch das Kapital und für das Kapital. In: Sozialismus (2018), H. 2, S. 28–32; hier: S. 31

    7 Frank Deppe: Nachwort: Bonapartismus reloaded? In: Die neuen Bonapartisten, a. a. O., S. 253

    8 Ebd., S. 254

    9 »Elemente der B-Theorie (Bonapartismus, D. B.) von Marx und Engels sind wiederholt zur Analyse einer Fülle von politischen Regimen und historischen Situationen herangezogen worden, z. B. in bezug auf das Spanien Francos, Argentinien unter Perón, Castros Rolle auf Kuba, de Gaulle und den Pariser Mai, die portugiesische Revolution, um nur einige zu nennen. Dabei droht die B-These zur Allerweltsformel zu werden, durch deren schematische Übertragung sehr unterschiedliche gesellschaftliche Realitäten und politische Herrschaftsformen gleichgesetzt werden. Die B-These darf die konkrete Analyse einer konkreten Situation nicht ersetzen und nur als erste Annäherung an die komplexe gesellschaftliche Realität, als erstes Begreifen des Kräfteverhältnisses der Klassen verstanden werden.« Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 2, Hamburg 1995, S. 290

    10 Wer sich gründlich über die Bonapartismustheorie von Marx und Engels informieren möchte, sei auf folgende, ältere, aber immer noch unübertroffene Studie verwiesen: Wolfgang Wippermann: Die Bonapartismustheorie von Marx und Engels, Stuttgart 1983.

  • · Hintergrund

    Denken und Handeln

    Über die Bedeutung von Karl Marx’ »Thesen über Feuerbach« für die Parteitheorie von Hans Heinz Holz
    Jürgen Lloyd
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    Theorie und Praxis – Arbeiter bei einer Demonstration im spanischen Pamplona während eines Generalstreiks (11.3.2012)

    Wir dokumentieren im folgenden den Vortrag »Marx’ ›Thesen über Feuerbach‹ und ihre Bedeutung für die Parteitheorie von Hans Heinz Holz«, den Jürgen Lloyd am vergangenen Sonnabend bei der jährlichen Tagung zu Ehren des am 26. Februar 1927 geborenen und am 11. Dezember 2011 verstorbenen kommunistischen Philosophen Hans Heinz Holz gehalten hat. Jürgen Lloyd ist Mitherausgeber der Zeitschrift Theorie und Praxis. (jW)

    Zur Formulierung ihres Parteiverständnisses beziehen sich Kommunistinnen und Kommunisten traditionell auf W. I. Lenin und dessen 1902 veröffentlichte Schrift »Was tun?«. Dort entwickelte Lenin eine Bestimmung sowohl der Aufgaben einer kommunistischen Partei als auch ihrer diesen Aufgaben angemessenen Organisationsform. Das erfolgte nicht dogmatisch aus einer vorgegebenen »Theorie der Partei«, sondern anhand zeitgenössischer Auseinandersetzungen.

    Gestritten wurde schon damals über zwei unterschiedliche Linien: einerseits die Orientierung auf eine Bewegung, die sich auf Gegenwartsinteressen beschränkt, oder andererseits eine darüber hinausgehende »Organisation von Revolutionären«, die nach Lenin die notwendige Form einer kommunistischen Partei darstellt. Ausgehend von ihrer Einschätzung, die Rolle des objektiven oder spontanen Elements müsse als Prinzip der gesellschaftlichen Entwicklung höher bewertet werden, betrieben die Anhänger der einen Linie – so Lenin – die Wandlung der Partei von einer »der sozialen Revolution zu einer demokratischen Partei der sozialen Reformen«. (LW 5, 362) Gegen diese Auffassung war Lenins Diktum gerichtet, dass es ohne revolutionäre Theorie auch keine revolutionäre Bewegung geben könne. Die Rolle der Spontaneität der Massen wurde von ihm dabei nicht geleugnet. Daraus entstehende Streikaktionen bezeichnete er als »Keimformen des Klassenkampfs«. Sie »kennzeichneten das Erwachen des Antagonismus zwischen den Arbeitern und den Unternehmern, aber den Arbeitern fehlte – und musste auch fehlen – die Erkenntnis der unversöhnlichen Gegensätzlichkeit ihrer Interessen zu dem gesamten gegenwärtigen politischen und sozialen System« (ebd., 385). Um revolutionär zu sein und nicht lediglich als »Partei der sozialen Reformen« zu enden, bedarf es eines Bewusstseins, das über die partiellen Gegenwartsinteressen und die daraus erwachsenden Konflikte hinausgeht. Dieses Bewusstsein und die Erkenntnis der Unversöhnlichkeit der Interessen gegenüber dem bestehenden System vermitteln sich aber nicht spontan aus den unmittelbaren Erfahrungen, sondern bedürfen der bewussten organisierten Aneignung einer Theorie. Daraus schließt Lenin: Letzteres zu bewirken, ist Aufgabe der kommunistischen Partei.

    Einzelnes und Ganzes

    Nicht nur innerhalb der Gesellschaft, sondern auch innerhalb der Arbeiterklasse besteht eine Vielfalt individueller und partikularer Interessen, die sich, so scheint es, immer weiter aufspalten, was gängig als Individualisierung bezeichnet (und von interessierter Seite befördert) wird. Wie aber kann es dann angesichts dieser Heterogenität der Einzel- und Gruppeninteressen zu einem gesamtgesellschaftlichen Bewusstsein des herrschenden Systems kommen?

    In seiner Schrift »Kommunisten heute« gibt Hans Heinz Holz darauf eine Antwort, die durchaus in Übereinstimmung mit der steht, die Lenin in »Was tun?« gegeben hat. Holz berücksichtigt dabei allerdings noch einen weiteren Aspekt, den er aus den Marxschen »Thesen über Feuerbach« herausarbeitet. Das Leninsche Parteiverständnis soll dabei jedoch nicht, um ein Missverständnis zu vermeiden, korrigiert werden. Explizit hat Holz die Konzeption von Lenin als fortgeschrittene Weiterentwicklung des Parteientwurfs bei Marx und Engels benannt: »Nicht so, als ob nicht schon in den klassischen Programmschriften seit dem Kommunistischen Manifest der Grundriss dieser Architektur entworfen gewesen wäre. Wohl aber gewinnen in der Ausgestaltung des Gebäudes nun einzelne Elemente, bedingt durch die zugespitzte politische Aufgabenstellung, ein neues Gewicht.« (Einheit und Widerspruch III, S. 481) Um in diesem Bild zu bleiben: Der Blick auf einen Bestandteil dieses »Grundrisses« in den Feuerbachthesen hat weder die Intention noch das Potential, die Bauarbeit Lenins zu revidieren. Was anscheinend bei den politischen Aufgabenstellungen für Lenin bei seiner »Ausgestaltung des Gebäudes« keine so elaborierte Hervorhebung erforderte, wie für Marx und Engels bei ihrem Weg hin zur Aufhebung und Verwirklichung der Philosophie, ist die Frage des Verhältnisses von Theorie und Praxis.

    Wie ist Einheit denkbar?

    »Und das ganze sozialistische Prinzip ist wieder nur die eine Seite, welche die Realität des wahren menschlichen Wesens betrifft. Wir haben uns ebensowohl um die andre Seite, um die theoretische Existenz des Menschen zu kümmern, also Religion, Wissenschaft etc. zum Gegenstande unserer Kritik zu machen. […] Es fragt sich, wie ist das anzustellen?« (MEW 1, 344) So artikuliert Marx 1844 in den »Deutsch-Französischen Jahrbüchern« die Problemstellung, sowohl die praktische Änderung der bestehenden Zustände, als auch das – mit diesen bestehenden Zuständen verbundene – Bewusstsein zu ändern. Hier zeigt sich Marx als Dialektiker, bleibt aber dennoch dem Denkmodell Feuerbachs verhaftet: »Die Reform des Bewusstseins besteht nur darin, dass man die Welt ihr Bewusstsein innewerden lässt, dass man sie aus dem Traum über sich selbst aufweckt, dass man ihre eignen Aktionen ihr erklärt. […] Unser Wahlspruch muss also sein: Reform des Bewusstseins nicht durch Dogmen, sondern durch Analysierung des mystischen, sich selbst unklaren Bewusstseins, trete es nun religiös oder politisch auf.« (S. 346) Hier sind Theorie und Praxis zwar gleichermaßen zu bearbeitende Seiten der Realität, aber sie bleiben getrennt – nämlich als isoliert zu bearbeitende Aufgaben.

    Ein Jahr später hat Marx seine Antwort auf die beiden Veränderungsforderungen weiterentwickelt, so dass er eine einheitliche Antwort auf die Forderungen nach praktischer Veränderung der Welt und nach Änderung der theoretischen Seite – also des Bewusstseins über die Welt – geben kann und damit zur Aufgabenstellung kommt, Theorie und Praxis zu einer Einheit zu vermitteln. Sein Schlüssel hierzu findet sich in den »Thesen über Feuerbach« im Begriff der »revolutionären Praxis«. In der dritten These konstatiert Marx: »Das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung kann nur als revolutionäre Praxis gefasst und rationell verstanden werden.«

    Wie expliziert Hans Heinz Holz nun die Möglichkeit zur Vermittlung von Theorie und Praxis zu einer Einheit? Im Heft 27 (2007) der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Topos findet sich in einem Aufsatz über die »Philosophisch-politischen Perspektiven des Marxismus heute« eine hilfreiche Formulierung. Holz schreibt dort: »Der Marxismus stellt – als politische Handlungsanleitung – die Einheit von Theorie und Praxis her. Das heißt nicht einfach, dass jede Praxis von theoretischen Erwägungen begleitet und geleitet wird; in diesem trivialen Sinne gilt das für jedes Handeln, zumal für jede Politik. Vielmehr durchdringen sich im Marxismus philosophische Theorie und politische Praxis in der Weise, dass jede theoretische Konzeption als ein Moment der Praxis, als eine Position innerhalb der Fronten des Klassenkampfs definiert wird.« (Hervorhebung J. L.) Innerhalb des Klassenkampfs eine Position zu bestimmen, ist ein ebenso theoretisches wie praktisches Unterfangen. Und zwar nicht nur ein gleichzeitig – also zur gleichen Zeit und vielleicht auch noch am gleichen Ort – stattfindendes, aber dennoch je anderes Unterfangen, sondern es ist identisch. Positionsbestimmung im Klassenkampf ist ein Verhalten zur und in der Welt, eine Reflexion über die eigene Stellung in der geschichtlich gewordenen und geschichtlich sich fortentwickelnden Welt, welches nie anders denn als Einheit von Theorie und Praxis möglich ist.

    Für die kommunistische Partei, die auf dem Marxismus gründet, bedeutet dies, dass sie ihren Charakter als Ort der Vermittlung von Theorie und Praxis dann erfüllen kann, wenn sie ihrer Theorie und ihrer Praxis stets den Charakter zukommen lässt, Positionsbestimmung im Klassenkampf zu sein. (Und die Beschreibung der KP als Partei der Arbeiterklasse ist in der doppelten Bedeutung des Genitivs »Partei der Arbeiterklasse« ein Ausdruck dieser Positionsbestimmung.) Was folgt daraus – über die Definition des Charakters der Partei hinaus – für deren Arbeitsweise?

    Theorie ist nicht ein Fundus von Ansichten und Einsichten, den wir erwerben und besitzen, um ihn dann – in einem zweiten, separaten Schritt – zur Gestaltung unserer Praxis in Anwendung zu bringen. Das wäre Dogmatismus, würde darauf hinauslaufen, was Marx in der dritten Feuerbachthese als Problem beschreibt, wenn Veränderung der Umstände und Selbstveränderung nicht im Begriff der »revolutionären Praxis« als zusammenfallend gedacht werden: Dann muss die Gesellschaft in zwei Teile – von denen der eine über ihr erhaben ist – getrennt erscheinen. Dass es keinen solchen – dogmatisch bestimmten – Fundus an fixen Theorieinhalten gibt, gilt für jede einzelne Aussage des Marxismus, von der Erklärung des Werts einer Ware über die Einsicht in die Rolle von Klassenkämpfen in der Geschichte menschlicher Gesellschaft, bis zur Aufgabenstellung kommunistischer Bündnispolitik im Kampf gegen den Faschismus. Wenn es nicht möglich ist, die jeweilige theoretische Einsicht als Bestimmung einer Position im Klassenkampf zu fassen und dadurch auch deren – praktische – Notwendigkeit festzulegen, haben wir den Boden des Marxismus verlassen und landen bei dogmatischen Abstraktionen und voraussichtlich in den Fängen des Opportunismus und der bürgerlichen Ideologie. Das gilt selbst für diese Charakterisierung des Marxismus: Nur weil und nur wenn der Marxismus sich selbst als Reflexion über die eigene Position im Klassenkampf begreift und sich nicht außerhalb der Geschichte stellt, ist er in der Lage, die Kritik der Feuerbachthesen zu bestehen.

    Hans Heinz Holz hat diese Bedingtheit in seinen »Thesen über die Zukunft des Marxismus« 1991 in die Formulierung gefasst: »Die marxistische Theorie – als die einzige, die die historische Notwendigkeit, die Struktur und die Entstehung von Klassenbewusstsein reflektiert und damit Klassenbewusstsein erzeugt – ist ein unentbehrliches Moment des geschichtlichen Fortschritts, das heißt der Emanzipation.« (These 4, Zukunft des Marxismus, 1995, S. 60)

    Doppelbestimmung der Partei

    Um diese Überlegungen auf etwas einfacher Fassbares herunterzubrechen und als Anwendungsbeispiel eine Konsequenz aufzuzeigen: Die Bildungsarbeit einer Kommunistischen Partei muss dem hier herausgearbeiteten Verhältnis der Kommunistinnen und Kommunisten zur Theorie entsprechen. Sie verfehlt ihre Aufgabe, wenn es ihr nicht gelingt, ihre Inhalte als ein »Moment der Praxis, als eine Position innerhalb der Fronten des Klassenkampfs« zu vermitteln. Die bloße Verkündung von Einsichten, die zuvor von noch so klugen Vordenkern theoretisch errungen wurden, genügt dem nicht. (Wiewohl die Einordnung eigener Einsichten in eine ganze Tradition theoretischer Arbeit ein wichtiger Bestandteil marxistischer Weltanschauung bleibt.) Marxistische Bildungsarbeit ist an die Voraussetzung gebunden, dass die Genossen ein praktisches Interesse an der Veränderung der Welt – so wie sie ist – haben und sich dieses Interesses auch bewusst sind. Dieses Interesse konstituiert dabei eine Position im Klassenkampf, deren weitere theoretische Entfaltung Gegenstand der marxistischen Bildung sein muss. In der bedeutenden Funktion der Arbeiterbildungsvereine für die Herausbildung der Arbeiterbewegung war dieser Zusammenhang präsent, und auch in den Schriften und Materialien eines so herausragenden Repräsentanten marxistischer Bildungsarbeit wie Hermann Duncker findet sich dieser Ansatz wieder.

    Doch nicht nur für die Theorie, auch für die Praxis einer KP ist es von Bedeutung, dass sie als Moment der Positionsbestimmung im Klassenkampf ausgeübt wird. Ohne Bezug auf die Konstellation der unterschiedlichen und in einer Klassengesellschaft auch gegensätzlichen Interessen und den jeweiligen Bedingungen, unter denen diese um ihre Durchsetzung ringen, bleibt eine politische Praxis der beherrschten Klasse zwingend erfolglos. Lenin hat 1913 in seiner Schrift über die »Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus« davor gewarnt: »Die Menschen waren in der Politik stets die einfältigen Opfer von Betrug und Selbstbetrug, und sie werden es immer sein, solange sie nicht lernen, hinter allen möglichen moralischen, religiösen, politischen und sozialen Phrasen, Erklärungen und Versprechungen die Interessen dieser oder jener Klassen zu suchen.« Die vielfältigen Kämpfe gegen die Zumutungen des kapitalistischen Systems (Kampf um besser ausgestattete Schulen, gegen Kriege, um ausreichende Entlohnung, gegen Aufmärsche faschistischer Gruppierungen, um Verkürzung der Arbeitszeiten, gegen die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen der Menschen etc.) bleiben Kämpfe um Gegenwartsinteressen von Individuen oder Gruppen von Individuen. Sie bleiben als solche dem Prinzip kapitalistischer Konkurrenzgesellschaft subsumierbar, können gegeneinander ausgespielt, umgelenkt und zur Systemstabilisierung genutzt werden. Hier liegt die ständige Gefahr begründet, dass Reformkämpfe in einer opportunistischen Einbindung der Arbeiterklasse in das System bürgerlicher Herrschaft enden können. Erst durch ihre Einordnung in den Zusammenhang des Kampfs zur Überwindung dieses Systems erlangen Reformkämpfe eine Perspektive jenseits der »Handwerklerei« und des allgegenwärtigen »Betrugs und Selbstbetrugs«. Die Fähigkeit, diese Perspektive aufzuzeigen und zu begründen, unterscheidet die revolutionäre KP von anderen Parteien. Im »Manifest der Kommunistischen Partei« arbeiten Marx und Engels deren besondere Wesensart als parallele Bestimmung in Theorie und Praxis heraus: Die Kommunisten »haben theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus.« (MEW 4, 474, Hervorhebung J. L.) Praktisch sind sie »der entschiedenste, immer weitertreibende Teil der Arbeiterparteien aller Länder« (ebd.). Und diese doppelte Bestimmung erfüllen sie, weil sie »in den verschiedenen Entwicklungsstufen, welche der Kampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie durchläuft, stets das Interesse der Gesamtbewegung vertreten« (ebd.). In genau diesem Sinn spricht Holz von der Einnahme einer »Position innerhalb der Fronten des Klassenkampfs« als Realisierung der Einheit von Theorie und Praxis. Und in genau diesem Sinn, wie Marx und Engels es im Kommunistischen Manifest bestimmen, gibt Holz die kommunistische Partei als den Ort dieser Einheit an.

    Theorie-Praxis-Einheit

    Die in Marx’ Feuerbach-Thesen als Fortschrittsnotwendigkeit eingeforderte Theorie-Praxis-Einheit führten Marx und Engels konsequent zum drei Jahre später verfassten »Manifest der Kommunistischen Partei«. Auf dem Weg dorthin lag die polemische Auseinandersetzung mit den »wahren Sozialisten«, von denen Engels 1847 in »Der Status quo in Deutschland« schrieb: »Aber unsre wahren Sozialisten sind keine Parteimänner, sondern deutsche Theoretiker. Es handelt sich für sie nicht um praktische Interessen und Resultate, sondern um die ewige Wahrheit. Die Interessen, die sie zu vertreten streben, sind die ›des Menschen‹, die Resultate, denen sie nachjagen, beschränken sich auf philosophische ›Errungenschaften‹.«

    Die Frage der Theorie-Praxis-Einheit stellt sich so als die Seite der Entwicklung von Marx und Engels von den Feuerbach-Thesen hin zur Ausarbeitung des Manifests dar, die als theoretische Notwendigkeit zu dieser Entwicklung drängt. Gleichzeitig existiert ein zweiter Strang, der die Seite der Möglichkeit dieser Entwicklung wiedergibt. Hans Heinz Holz beschreibt diese in seinem ersten Band zur »Aufhebung und Verwirklichung der Philosophie« im Kapitel zum Manifest: »Erst Marx und Engels haben den Münchhausen-Akt der Selbsterzeugung des Subjekts der Geschichte und seiner Fortzeugung auf immer neuen Stufen ohne einen logischen Salto mortale zu erhellen vermocht.« (S. 223) Mit der in den Feuerbach-Thesen artikulierten Wende vom bloß »anschauenden« zum dialektischen Materialismus öffnet sich der Weg zu einem neuen Geschichtsverständnis (zu dem, wie Holz schreibt, das Manifest dann den »Grundriss« gibt). In der »Deutschen Ideologie« gaben Marx und Engels bereits die wirkliche Voraussetzung für alle Geschichte an, nämlich die Voraussetzung, dass die Menschen »imstande sein müssen zu leben, um ›Geschichte machen‹ zu können«. (MEW 3, 28) Die Produktion des materiellen Lebens ist deswegen die »erste geschichtliche Tat«. Und die Bedingungen, unter denen die Menschen ihr Leben produzieren und reproduzieren (die Marx dann in seiner Beschäftigung mit der Ökonomie genauer analysiert und als Produktionsverhältnisse einer Epoche fasst), sind damit zugleich die Bedingungen, unter denen die Menschen »Geschichte machen« können. »Alles gesellschaftliche Leben ist wesentlich praktisch«, heißt es in der achten Feuerbachthese, und die Mysterien »finden ihre rationelle Lösung in der menschlichen Praxis und in dem Begreifen dieser Praxis«.

    Ort der Verschmelzung

    Ein Geschichtsverständnis, das Theorie und Praxis zu einer Einheit vermittelt, zielt dabei auf eine Partei, die sich nicht nur als Organisation zur alleine den Erfolg ermöglichenden, also notwendigen, Zusammenfassung der Unterdrückten zum Kampf gegen die gegebene Klassenherrschaft versteht (obwohl die Partei dies zwingend auch sein muss). Die Partei muss in der Lage sein, als »Kampfgemeinschaft von Gleichgesinnten« den Genossinnen und Genossen ein Ort zum (nicht nur gedachten oder gefühlten – sondern wirklichen) Überschreiten des herrschenden, eine gemeinsame Praxis verunmöglichenden, Konkurrenzsystems zu sein.

    Dazu bedarf es der kommunistischen Partei, die sich eben nicht im Versuch, das Bestehende zu verbessern, selbigem anpasst und sich dabei opportunistisch verrennt. Es bedarf einer Partei, die tatsächlich Theorie und Praxis als Einheit verkörpert, die also nicht ihr Scheitern an dieser Aufgabe bereits dadurch demonstriert, dass sie in der Praxis eine Reformpolitik anstrebt (was an sich berechtigt sein kann), aber jegliche darüber hinausgehende Perspektive in die – von der Praxis losgelöste – Sphäre »weitergehender Ideen« verbannt, die sie sich dann nur noch als bloße Theorie zu propagieren vorbehält. Das wäre das Gegenteil der Einheit von Theorie und Praxis und würde das im Manifest betonte »Interesse der Gesamtbewegung« und die Einsicht in die das bestehende System überschreitenden »Resultate der proletarischen Bewegung« nicht als Moment der Praxis behandeln, sondern als isolierte – also »rein scholastische« (MEW 3, 5) – Theorie abtrennen.

    Notwendig ist eine Partei, die die eigene Praxis als reflektierte Praxis entwickelt, also die Reflexion zur Bewegungsform der Praxis macht, die daher ohne jedes Schaudern in der Lage ist, die »weitergehenden Ideen« in der aktuellen politischen Praxis zu denken und stets auch die gegenwärtige Praxis als Bewegungsform der »weitergehenden Ideen« konstruiert. Mithin also eine Partei, die dem in den Feuerbachthesen gefassten Gedanken der Einheit von Theorie und Praxis einen Ort in der Wirklichkeit gibt. D. h. einen Ort in der bürgerlichen Klassengesellschaft, in dem das Zusammenfallen von Ändern der Zustände und Selbstveränderung konkret erfahrbar ist.

    Das ist es, was Hans Heinz Holz seinen Genossinnen und Genossen als zu verwirklichende Aufgabe zuschreibt. Er macht das im Rückgriff auf das Philosophisch-politische Programm von Marx und Engels, welches sich in Marx’ »Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie« (1843) und in den »Ökonomisch-philosophischen Manuskripten« (1844) anbahnte, mit der »Heiligen Familie« (1844) und der »Deutschen Ideologie« (1845/46) in polemischer Form ausgebildet wurde, in den »Thesen über Feuerbach« (1845) eine zur Essenz konzentrierte Formulierung fand und sich schließlich im »Manifest der Kommunistischen Partei« (1848) in der doppelten Feststellung niederschlägt, was die Kommunisten – in Theorie und Praxis – in ihrer besonderen Existenz in der bürgerlichen Gesellschaft kennzeichnet.

    Literatur:

    Hans Heinz Holz: Thesen über die Zukunft des Marxismus, in Domenico Losurdo (Hrsg.) Zukunft des Marxismus, Köln 1995

    Hans Heinz Holz: Kommunisten heute. Die Partei und ihre Weltanschauung, Essen 1995

    Hans Heinz Holz: Dialektik. Problemgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart, Bd. 5, Darmstadt 2011

    Hans Heinz Holz: Philosophisch-politische Perspektiven des Marxismus heute, in: Topos 27, Berlin 2007

    Hans Heinz Holz: Aufhebung und Verwirklichung der Philosophie, Bd 1, Die Algebra der Revolution. Von Hegel zu Marx, Berlin 2010

    Wladmir I. Lenin: Werke, 40 Bde., hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus, Berlin 1961–1975 (LW)

    Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, 42 Bde., hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus, Berlin 1981–1983 (MEW)

  • · Hintergrund

    Marx als Produkt

    Welche Wandlungen erfuhr das Denken des vor 200 Jahren geborenen Philosophen und Kritikers?
    Georg Fülberth
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    Nach dem Ende der sozialistischen Staaten waren jene, die sich auf Marx (5.5.1818–14.3.1883) beriefen, ziemlich weit unten angekommen. Ohne Beachtung von dessen Einsichten wird aber die notwendige Veränderung der Weltverhältnisse nicht zu machen sein (Graffito in Berlin)

    Am vergangenen Sonnabend sprach Georg Fülberth im Anschluss an die Jahresmitgliederversammlung der Marx-Engels-Stiftung in Wuppertal zum Thema »200 Jahre Karl Marx«. Wir dokumentieren von dieser Rede den zweiten Teil. Das vollständige Referat wird im Heft 3/2018 der Marxistischen Blätter, das Ende April/Anfang Mai erscheint, veröffentlicht werden. (jW)

    Marx und Engels haben einen großen Fundus von Einschätzungen hinterlassen, die auf ihren eigenen Erfahrungen beruhten. Die nächste Generation von Marxistinnen und Marxisten konnte sich der von ihnen entwickelten Methode bedienen, aber ihre eigene Politik konnte sie nur gemäß der sich weiter wandelnden kapitalistischen Wirklichkeit betreiben. Es bildete sich dabei eine Orthodoxie heraus, bei der von Marx und Engels überkommene Denkfiguren dazu benutzt wurden, eigene neue Sichtweisen zu legitimieren.

    Rosa Luxemburg befand, dass die von Marx hypothetisch vorgenommenen harmonischen Austauschverhältnisse zwischen Produktionsmittel- und Konsumgüterindustrie entgleisen müssten, sobald man einige Variabeln wirklichkeitsnäher änderte, und gelangte schließlich zu dem Ergebnis, dass Kapitalismus Überakkumulation bedeute. Dies traf sich mit ihrer Beobachtung des zeitgenössischen Imperialismus mit seinem Waren- sowie Kapitalexport und der daraus resultierenden Tendenz zum Krieg. Erst infolge dieser Wahrnehmung, kombiniert mit Beibehaltung und Modifikation der Marxschen Reproduktionsschemata, schrieb sie ihr Buch »Die Akkumulation des Kapitals« von 1913. Um es mit einer Formulierung des ganz jungen Marx zu sagen: Die Wirklichkeit drängte zum Gedanken.

    Anders ging der Kinderarzt Rudolf Hilferding mit dem Verhältnis von Empirie und Theorie um. In seinem Buch »Das Finanzkapital« von 1910 schilderte er die jüngere ökonomische Entwicklung, wie sie immerhin schon Engels in Ansätzen hatte kommen sehen: Monopolisierung von Industrie und Bankkapital, deren wechselseitige Durchdringung zum Finanzkapital. Das waren Tatsachen. Sie stimmten mit dem überein, was Hilferding in Marx’ Ausführungen über die Zentralisation des Kapitals, über die Aktiengesellschaften und – im dritten Band des »Kapital« – über das Geldhandlungskapital und das fiktive Kapital gefunden hatte. Diese Vitalisierung von Marxschen Überlegungen wäre ohne die korrekt aufgefasste Evidenz zeitgenössischer Erscheinungen wohl nicht erfolgt – und umgekehrt wäre ihm deren Interpretation ohne Marx gewiss auch nicht gelungen.

    Zeitalter der Katastrophen

    Diese neue Wirklichkeit, die Hilferding und Luxemburg beschrieben, war das, was mehrere Jahrzehnte später Eric Hobsbawm als das Zeitalter der Katastrophen (1914–1945) bezeichnete: zwei Weltkriege, einer von ihnen ein Vernichtungskrieg mit dem Versuch der Ausrottung der jüdischen Bevölkerung Europas, eine Weltwirtschaftskrise, Faschismus. Es war aber nicht nur ein Zeitalter der Katastrophen, sondern auch des Versuchs der Abwehr dieser Katastrophen: die russische Oktoberrevolution, die Entstehung des Staatssozialismus. Hier haben wir eine ganz andere gesellschaftliche Realität als in der Zeit von Marx und Engels. Für die Marxisten dieses neuen Zeitalters blieben materialistische Geschichts- und Gegenwartsauffassung zwar leitend, in ihrer politischen Praxis trat aber nun die Kritik der politischen Ökonomie hinter die Theorie der Politik zurück.

    Es gab eine Ausnahme: Dass Henryk Grossmanns Buch »Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems« ausgerechnet 1929, im Jahr des Beginns der Weltwirtschaftskrise, erschien, mag ein Zufall gewesen sein. Es war schon vorher erarbeitet worden, und zwar wieder einmal in Auseinandersetzung mit den Reproduktionsschemata des zweiten Bandes des »Kapital«. Aber es passte in die Zeit und hatte den Untertitel: »Zugleich eine Krisentheorie«. Eine operative politische Bedeutung hatte es nicht. Es war die Zeit der politischen, nicht in erster Linie der ökonomischen Analyse und Praxis.

    Der italienische Kommunist Antonio Gramsci bezeichnete die Oktoberrevolution sogar als »eine Revolution gegen das ›Kapital‹« – gemeint war das Marxsche Buch. Die Revolution war nicht in einem hochentwickelten kapitalistischen Land ausgebrochen, in Russland bildete nicht das Proletariat, sondern die Bauernschaft die Mehrheit der Bevölkerung. Und Mitte der 1920er Jahre begann der lange Prozess der chinesischen Revolution, zwar geführt von einer Kommunistischen Partei, aber mit der Massenbasis unter den Bauern. Alle erfolgreichen großen Revolutionen – von der englischen 1640–1688 über die französische 1789 ff. bis zur russischen und chinesischen – hatten Analphabeten als Massenbasis, was den unmittelbaren Einfluss gedruckten aufwieglerischen Gedankenguts wohl relativieren dürfte.

    Mao hat Marx und Engels weniger zitiert als die chinesischen philosophischen Klassiker. Lenin bezog sich in seiner Schrift »Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus« (1917) nur indirekt, über Hilferding, auf Marx, empirisch aber auf einen Sozialliberalen, John A. Hobson. Dagegen revitalisierte er gleich anschließend die Auffassungen von Marx und Engels zur Theorie des Staates und der Notwendigkeit seiner Zerschlagung: in seiner 1917 verfassten, 1918 veröffentlichten Schrift »Staat und Revolution«. Auf den ersten Blick liest sie sich wie die philologische Arbeit eines Schriftgelehrten: Lenin hatte alle Äußerungen von Marx und Engels über den Staat gesammelt. Dass er diese Rekonstruktion ihrer älteren Auffassungen vornahm, hatte aber einen aktuellen Anlass: Sie waren gleichsam der Anhang zu seinen Aprilthesen von 1917, in denen er die Beendigung der Doppelherrschaft von Provisorischer Regierung und Räten zugunsten der letzteren forderte.

    Lenins Aktualisierung der Staatstheorie von Marx und Engels lenkte die Aufmerksamkeit auf die Notwendigkeit, das umzuwälzen, was diese beiden den »Überbau« genannt hatten. Dazu gehörte nicht nur der Staat, sondern auch die Gesamtheit der Bewusstseinsformen, einschließlich der Philosophie. »Marxismus und Philosophie«: Dies war der Titel einer Schrift von Karl Korsch aus dem Jahr 1923, in der er mit der eher behäbig beschreibenden Form des historischen Materialismus nach dem Tod von Marx und Engels brach und dessen Dynamisierung nach dem Vorbild und in Fortbildung der revolutionären Schriften dieser beiden Theoretiker aus den 40er und frühen 50er Jahren des 19. Jahrhunderts zurückkehren wollte. Gramsci entwickelte eine Theorie nicht der Ökonomie, sondern der Politik, Georg Lukács eine Theorie des Klassenbewusstseins. Ernst Blochs Schrift über Thomas Müntzer nahm das Thema von Friedrich Engels’ Schrift über den deutschen Bauernkrieg von 1850 wieder auf. Mit Bloch, Korsch und Lukács äußerten sich bisher bürgerliche Intellektuelle, die durch den Ersten Weltkrieg erschüttert, durch die Oktoberrevolution zu Revolutionsenthusiasten geworden waren und sich dadurch auf Schriften von Marx und Engels verwiesen sahen, die in einer früheren revolutionären Situation entstanden waren. Die Empirie ihrer Zeit machte sie zu Marxisten.

    Beim Aufbau des Sozialismus in Sowjetrussland gab es dagegen kaum die Möglichkeit eines solchen Rückgriffs auf bereits vorliegende Theoriestücke. Ökonomisches von Marx und Engels, woran man hätte anknüpfen können lag hier kaum vor, sieht man von Marx’ Kritik des Gothaer Programms sowie einigen Nebenbei-Bemerkungen über geplante Wirtschaft ab. Hier musste Neuland beschritten werden. Die sowjetischen Ökonomen taten dies und konnten sich dabei letztlich auf die Marxsche Arbeitswertlehre in der von ihm hinterlassenen unfertigen Form nicht in der Weise stützen, dass daraus ausreichende praktische Konsequenzen hätten gezogen werden können – ein Grund unter mehreren anderen für das Scheitern dieses Sozialismustyps. Unter Stalin wurden Marx und Engels immer wieder genannt und zitiert, aber dies hatte ausschließlich ideologiepolitischen Charakter zur Legitimierung eines nicht abgebauten, sondern neu errichteten starken Staats.

    In der Selbstrechtfertigung der sozialistischen Länder wurde viel von der Diktatur des Proletariats geredet. Der Begriff stammte ursprünglich nicht von Marx und Engels. Sie hatten ihn nur gelegentlich benutzt: als Metapher für das Ende bürgerlicher Herrschaft. Das war bei ihnen ein kritischer Begriff gewesen: die Negation des bürgerlichen Staates. Jetzt wurde er affirmativ: eine Legitimierung der Herrschaft des Apparats. Marx und Engels hätte das gewiss nicht gepasst. Der 1927 begonnene erste Versuch einer Marx-Engels-Gesamtausgabe ist unter Stalin abgebrochen worden, der Herausgeber Dawid Rjasanow und andere Mitarbeiter an diesem Unternehmen wurden ermordet.

    Unter dem Eindruck der Perversion des Sozialismus im Stalinismus und der faschistischen Katastrophe der Zivilisation unternahm das aus Frankfurt am Main in die USA vertriebene Institut für Sozialforschung u. a. mit Theodor W. Adorno und Max Horkheimer eine Art Entmaterialisierung der dialektischen Theorie: als eine Kritik des Bestehenden ohne die Aussicht auf eine aktuelle praktische Umwälzung. Das war in gewisser Weise eine Rückkehr zum Linkshegelianismus ohne zentrale Stellung des Proletariats und ohne linearen Fortschrittsoptimismus, man kann auch sagen: unter Verzicht auf eher bedenkliche Teile des Erbes von Marx und Engels. Der Begriff, der sich hierfür durchsetzte, hieß Kritische Theorie. Sein Preis war allerdings auch das Fallenlassen der elften These über Feuerbach: Philosophen interpretierten die Welt und waren erschrocken über die Ergebnisse kontraproduktiven Handelns, die zu Inhalten ihrer Erfahrung wurden.

    Mit der Ausdehnung des sowjetischen Einflussbereiches bis nach Mitteleuropa, der chinesischen Revolution, der einsetzenden Entkolonisierung und einer Teilplanung auch im Kapitalismus, zunächst in den Kriegswirtschaften 1914–1918 und 1939–1945 hatten Umwälzungen aber tatsächlich stattgefunden. Nun begann eine neue Periode.

    Kalter Krieg und Wohlfahrtsstaat

    In dieser Zeit erreichte das Werk von Marx und Engels weltweit seinen höchsten Bekanntheitsgrad, dies allerdings in sehr verschiedenen Formen: In den Ländern des sowjetischen Einflussbereiches, aber auch in China war der Marxismus-Leninismus Legimitationsideologie der bestehenden Staatsmacht. Soweit er ein Instrument der Kritik war, geschah dies auf zweierlei Art und Weise: erstens in der offiziellen staatlichen Propaganda als Waffe in der Auseinandersetzung mit dem kapitalistisch gebliebenen Teil der Welt. Zweitens haben sozialistische Dissidentinnen und Dissidenten Marx auch gegen die Praxis der Länder, in denen sie lebten, zu wenden versucht. Ein Aspekt der staatlichen Praxis im Osten war aber immerhin auch, dass seit den 70er Jahren zum zweiten Mal eine historisch-kritische Marx-Engels-Gesamtausgabe zu erscheinen begann, organisiert von den Instituten für Marxismus-Leninismus bei den Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Aus der DDR kamen außerdem die blauen Bänden der Marx-Engels-Studienausgabe (MEW).

    In den Entkolonisierungbewegungen war neben dem Nationalismus oft auch ein antiimperialistischer Bezug auf den Marxismus wirksam – als eine Legitimationsideologie ihres Kampfes. Gleiches gilt für die chinesische, die kubanische und die vietnamesische Revolution.

    Das Bildungswesen mancher hochentwickelter kapitalistischer Länder förderte die Kenntnis des historischen Materialismus im Zuge einer Art von Feinderkundung. In den USA und in der Bundesrepublik wurde er erforscht, Schul- und akademischer Unterricht sollten vor ihm warnen und machten ihn dadurch oft erst bekannt. Besondere Aufmerksamkeit richtete sich auf die Marxschen Frühschriften. Sie schienen geeignet, gegen den Staatssozialismus gewendet werden zu können. Die Hoffnung junger Intellektueller im Westen, dass sie ein Potential enthielten, mit dem die kapitalistischen Verhältnisse durch den jungen Marx zum Tanzen gebracht werden könnten, schreckte die offizielle bürgerliche Kulturpolitik nicht: Die Evidenz eines stabilen Wohlfahrtskapitalismus erschien ihr – wie einst Eduard Bernstein – eine Widerlegung des ökonomischen Marx und seiner Revolutionstheorie durch Erfahrung.

    Von Marx blieb die Wertform-Analyse, deren Rekonstruktion sich, von Adorno ermutigt, Hans Georg Backhaus widmete. Die strukturalistische »Kapital«-Lektüre von Louis Althusser entsprach der – scheinbaren oder tatsächlichen – Bewegungslosigkeit der gesellschaftlichen Situation. Gleiches gilt für das Anwachsen des Einflusses der Kritischen Theorie des nach Frankfurt am Main zurückgekehrten Instituts für Sozialforschung.

    Eine Weiterentwicklung der Kritik der Politischen Ökonomie stellte die von der DDR und der Französischen Kommunistischen Partei (hier vor allem von Paul Boccara, 1932–2017) ausgehende Theorie des Staatsmonopolistischen Kapitalismus dar. Sie erklärte die Ursachen der relativen Stabilität der bürgerlichen Gesellschaft in den am weitesten entwickelten kapitalistischen Ländern, reagierte also auf die gleichen Umstände wie die Neue Marx-Lektüre Althussers und die Frankfurter Kritische Theorie. Dagegen ging der trotzkistische Theoretiker Ernest Mandel in seiner Analyse des krisenträchtigen Kapitalismus von dessen fortbestehender revolutionärer Erschütterbarkeit aus.

    In der Intellektuellenrebellion von 1968 schien sich dies zu bestätigen. Sie bezog sich teilweise auf Marx, aber auch auf Bakunin. Die Streikkämpfe vom Ende der 1960er und in der ersten Hälfte der 70er Jahre schienen dem klassischen Arbeiterbewegungsmarxismus zu entsprechen. »Kapital«-Lesekreise vor allem von Studierenden suchten Erklärungen für das unmittelbar Wahrgenommene. Die Einführungen von Wolfgang Fritz Haug in Marx’ Werk waren einflussreich.

    Mit dem Erlöschen der Arbeiterkämpfe in den Metropolen ab 1975 sah sich der französische Sozialtheoretiker André Gorz veranlasst, den »Abschied vom Proletariat« auszurufen. Einen anderen Abschied oder Teilabschied formulierten marxistische Feministinnen – in Deutschland wohl zuerst Christel Neusüß –, deren Meinung nach das Geschlechterverhältnis außerhalb der Marxschen Kritik der Politischen Ökonomie blieb. Die Kritik des Patriarchats in Engels’ Schrift »Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats« von 1884 hätte einer kritischen Fortschreibung aufgrund neuer Forschungsergebnisse und der Situation am Ende des 20. Jahrhunderts bedurft, was vorerst unterblieb.

    Gleiches galt für folgendes Problem: »Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.« (MEW 23: 529/530.) Das hier schon von Marx angesprochene Mensch-Natur-Verhältnis war jetzt zu einem allgemein als drängend wahrgenommenen Problem geworden, wurde aber erst ansatzweise historisch-materialistisch bearbeitet.

    Wir beobachten hier Phänomene der Abwendung und Ermüdung, die nichts mit den Texten von Marx und Engels oder ihrer Denkweise zu tun haben, sondern mit einem mittlerweile eingetretenen gesellschaftlichen Kräfteverhältnis, das deren Rezeption und Weiterentwicklung als aus der Zeit gefallen erscheinen ließ. Auch die Rehabilitation der seit dem Erscheinen des »Kapital« hoch umstrittenen Marxschen Arbeits- und Mehrwerttheorie durch das 1983 erschienene Buch »Laws of Chaos« von Emmanuel Farjoun und Moshé Machover war in dieser Situation für die Katz.

    Wenn in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts von einer Krise des Marxismus die Rede war, konnte dies zweierlei bedeuten: Krankheit zum Tod oder Neubeginn. Der Untergang des Staatssozialismus ab 1989 veränderte die Szenerie, bevor über diese Alternative in den Metropolen des Kapitalismus entschieden war. Damit sind wir dicht an die Gegenwart herangekommen.

    Nach 1989

    Jetzt erschien Marx in einigen ehemals sozialistischen Ländern als ein verbotswürdiger Irrlehrer, in den manchmal milder gestimmten altkapitalistischen Metropolen eher als ein abgetaner Theoretiker des 19. Jahrhunderts, dessen Werk allenfalls als ein interessantes und ungefährliches Produkt behandelt werden konnte. Hierher gehören die Entscheidung der UNESCO von 2013, das »Manifest der Kommunistischen Partei« und den ersten Band des »Kapital« zum Weltkulturerbe zu erklären – wie die Himmelsscheibe von Nebra – und der Film »Der junge Karl Marx« von 2017.

    Einer solchen Verharmlosung ist es immerhin auch zu verdanken, dass die historisch-kritische Marx-Engels-Gesamtausgabe gerettet werden konnte: Sie erscheint mit staatlicher finanzieller Förderung der Bundesrepublik weiter. Bedingung war eine Akademisierung ihres Gegenstandes, der vielleicht wie eine Flaschenpost wirken kann, die sich in Zukunft wieder entkorken lässt.

    Es könnte scheinen, als habe diese Zukunft bereits begonnen. Mit dem Ende des Staatssozialismus sind Marx und Engels ausschließlich wieder an ihrer alten Wirkungsstätte positioniert: im höchstentwickelten Kapitalismus. Dessen Zustand spiegelt sich darin, dass ganz bestimmte Aussagen ihres Werks hochaktuell erscheinen. Die sogenannte Globalisierung wird bereits im »Manifest der Kommunistischen Partei« beschrieben, die Krisentheorie bereits in den »Umrissen zu einer Kritik der Nationalökonomie« von Engels, vollends aber im »Kapital«, und ist durch die vielfältigen Wirtschaftskrisen nach 1989 bestätigt, der finanzmarktgetriebene Kapitalismus lenkt die Aufmerksamkeit auf die Analyse des zinstragenden Kapitals im dritten Band. Und selbst der Sturz des Staatssozialismus kann als Bestätigung einer Marxschen These gelesen werden, nämlich der Aussage im Vorwort von »Zur Kritik der Politischen Ökonomie« von 1859, dass Produktivkräfte Produktionsverhältnisse sprengen können, die zu eng für sie geworden sind. Allerdings handelte es sich um bisherige staatssozialistische, nicht kapitalistische Verhältnisse – wieder einmal Erfahrungstatsachen, die nicht gegen, sondern für Marx sprachen.

    Nach dem von Farjoun und Machover 1983 erzielten Durchbruch erschienen mehrere logisch stringente und empirisch belegte Bestätigungen und Weiterentwicklungen der Arbeits- und Mehrwertlehre von Karl Marx. Sie verwarfen das Konstrukt der Durchschnittsprofitrate im dritten Band des »Kapital«, hielten dagegen die Argumentation des ersten Bandes für ausreichend. W. Paul Cockshott und Allin Cottrell haben unter dem Titel »Alternativen aus dem Rechner« auf dieser Grundlage einen Vorschlag »für sozialistische Planung und direkte Demokratie« unterbreitet. Anders als Marx verfügten sie zwar über 1. eine Mathematik, die es erlaubte, den Arbeits- und Mehrwert korrekt zu modellieren, 2. weitaus umfangreicheres statistisches Material, 3. Instrumente einer digitalisierten Planung. Solange aber das Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse fehlt, das die Realisierung eines solchen Projekts unabdingbar macht, bleibt es eine Kopfgeburt wie einst die Entwürfe Wilhelm Weitlings – wie denn überhaupt die jetzt aktuell gewordene Rehabilitation utopischer Vorstellungen als eine Art Umkehrung eines einst von Friedrich Engels bezeichneten Weges erscheint: anstelle seiner »Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft« geht der Weg nun von einer als nicht ausreichend wahrgenommenen Realisierung von der Wissenschaft hin zur Utopie. Gleiches gilt für den Versuch Paul Masons, das »Maschinenkapitel« aus Marx’ »Grundrissen der Kritik der Politischen Ökonomie« (1857/1858) für seinen Entwurf einer digitalen postkapitalistischen Gesellschaft heranzuziehen.

    Solange kein Subjekt der Umwälzung auftritt, lässt sich aus dem Buch »Das Kapital« nicht lernen, wie der Kapitalismus aufgehoben wird, sondern wie er funktioniert. Dies erklärt wohl die gegenwärtige Hegemonie der reinen Wertformanalyse der »Neuen ›Kapital‹-Lektüre«, die, wie gezeigt, zwar schon in den 1960er Jahren (bei Althusser und Backhaus) begonnen hatte, nach 1989 aber innerhalb des marxistischen Segments der Rest-Linken erst so richtig vorherrschend wurde, in Deutschland vor allem durch Michael Heinrich: Das Kapitalverhältnis steht zentral, die Bewegungen von Menschen sind marginal. Dies erscheint gegenwärtig als realistisch.

    Wenn für Marx und Engels neue Problemlagen Metamorphosen ihres jeweils erreichten Theoriestandes zur Folge hatten, so kann das auch für Gegenwart und Zukunft gelten. In einer radikalen Weise führten Margarete Tjaden-Steinhauer und Karl Hermann Tjaden eine solche Auseinandersetzung: mit ihrer Untersuchung der ausbeutenden Verfügungsgewalt nicht nur im Verhältnis von Kapital und Arbeit, sondern auch im Patriarchat und in den Beziehungen der menschlichen Spezies zu ihrer natürlichen Umwelt – bis hin zu einer Zivilisationskritik, in die der von Marx und Engels nie in Frage gestellte Produktivkrafttyp und die auf ihn bezogenen ideokratischen Denkformen einbezogen sind. Damit wird einerseits der von den beiden Begründern des historischen Materialismus gezogene Rahmen überschritten, andererseits rücken bisher weitgehend außerhalb historisch-materialistischer Analyse gebliebene Sachverhalte ins Zentrum.

    Jetzt andersherum

    Bislang wurde davon gesprochen, wie der Kapitalismus 200 Jahre lang den Marxismus hervorgebracht und immer neu gewandelt hat. Danach müsste darüber geredet werden, was der Marxismus 200 Jahre lang mit dem Kapitalismus gemacht hat, ob dieser unter dem Einfluss der Arbeiterbewegung sich gewandelt hat. Wer das bejaht, wird zu weiteren Fragen geführt, zum Beispiel: Waren diese etwaigen Wandlungen positiv oder negativ? Welchen Einfluss darauf hatten in beiden Fällen die einzelnen Richtungen der Arbeiterbewegung, von denen die marxistische nur eine von mehreren ist? Letztlich: Hat der Philosoph Marx die Welt wirklich verändert oder doch nur interpretiert? Versuch einer Antwort: Die Welt hat sich verändert – seit dem Beginn der industriellen Revolution um 1780, seit 1818. Daran haben mitgewirkt: die Produktivkräfte, die Produktionsverhältnisse, das Kapital, die Volksmassen einschließlich der Arbeiterklasse. Das Kapital hat sich im wesentlichen so verhalten, wie Marx es »interpretiert« hat. Ein Teil der Volksmassen (wenngleich ein kleiner), die an der Veränderung der Welt mitwirkten und noch mitwirken, beruft sich auf Marx. Dieser Karl Marx hat an der Veränderung der Welt zu seinen Lebzeiten sowie postum teilgehabt und wird auch noch zukünftig daran teilhaben in dem Maß, in dem Volksmassen gemäß seiner Theorie handeln und Produktivkräfte, Produktionsverhältnisse, Kapital und politisches Personal darauf reagieren, weil sie darauf reagieren müssen. Mehr sollte man einem Philosophen gar nicht erst zutrauen, und es ist ganz schön viel.

    Es bleiben aber ein paar Probleme:

    1. Ungleichheit national und international – zwischen Arm und Reich, Zentren, Semiperipherien und Peripherie, Männern und Frauen, unverändert Herrschaft des Kapitals über die Arbeit;

    2. die Verwüstung der natürlichen Lebensgrundlagen;

    3. Kriege und Kriegsgefahr.

    Das gab es schon zwischen dem 5. Mai 1818 und dem 14. März 1883, in den 135 Jahren nach Marx’ Tod. Irgendwann muss dies aber geändert werden, zumal einige dieser Probleme sich immer mehr verschärfen, vielleicht bis hin zu einem Point of no return. Ohne Beachtung der Einsichten von Marx wird das wohl kaum zu schaffen sein.

  • · Hintergrund

    Von der Wut zum Wissen

    Wie Personen, Gesellschaften und Texte in Bewegung kommen. Über Karl Marx
    Dietmar Dath
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    Zwischen heißer und kalter Wut: »Prometheus«-Art Déco von Rene Paul Chambellan am Chanin Building, New York

    Im März erscheint im Reclam Verlag in der Reihe »100 Seiten« der Band »Karl Marx« von Dietmar Dath. Wir veröffentlichen daraus vorab mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag einen redaktionell gekürzten Auszug aus dem ersten Kapitel. (jW)

    Der beste Freund, den Karl Marx und seine Lehre jemals hatten, war Friedrich Engels. Was dieser Fabrikantensohn, Soldat, Lebenskünstler und Zukunftsdenker für Marx und dessen Arbeit getan hat, passt in kein Buch. Zehn Bücher könnten es nicht fassen. Warum hat Engels sich so heftig und ausdauernd engagiert? Was hat die Theorie, für die er so viel leistete, umgekehrt für ihn geleistet? 1880, knapp drei Jahre vor dem Tod des Geförderten und Bewunderten, gab der Freund jenem die Begründung seiner Unterstützung schriftlich, im Titel und in den Ausführungen einer Arbeit, die zusammenfassen sollte, was Marx erreicht hatte: »Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft«.

    Was das Wort »Wissenschaft« bedeutet, ist klar: eine gesellschaftliche Veranstaltung, bei der man Aussagen über Sachverhalte mittels Beobachtung, Folgerungen, hypothesengeleitetem Experiment und Gegenproben ermittelt. Wissenschaft zeigt uns die Welt nicht so, wie wir sie gerne hätten oder wie wir fürchten, dass sie schlimmstenfalls sein könnte, sondern so, wie sie mit uns wechselwirkt.

    Was aber bedeutet »Utopie«? Beim Gebrauch dieses Wortes gehen Optimismus, Pessimismus (dann oft unter dem Stichwort »Dystopie«) und freie Teilchen realistischer Tatsachenabbildung durcheinander. Das Bedeutungsfeld des Begriffs war stets gleichsam verschmiert: Wo er benutzt wird, weiß man nie sofort, ob ein literarischer Text aus dem 16. oder 20. Jahrhundert gemeint ist, ein politisches Wunschprogramm junger Leute, die den Platz vor einer Bank blockieren, oder eine komplizierte Idee, in deren Zeichen der Philosoph Ernst Bloch (1885–1977) versuchte, alles, was ihm irgendwie sympathisch war, von der Bergpredigt bis zur Forschungsfreiheit, unter einen begrifflichen Hut zu zwingen.

    Geist der Utopie

    Mit 14 war ich Utopist, ohne zu wissen, was das ist. Ich wollte, dass nichts mehr so sein sollte wie da, wo ich leben musste. Alles sollte anders sein, am besten so, wie es noch nie irgendwo gewesen war, nur am Nicht-Ort des Denkens, was die wörtliche Bedeutung der griechischen Wortfügung »Ou Topos« ist. Mit 15 war ich schon kein Utopist mehr. Das lag aber nicht, wie man vielleicht vermutet, weil das ein naheliegender Dreh für die Einleitung eines kleinen Büchleins über Marx wäre, an Marx und seinen Schriften.

    Wenn man jung ist, verschafft man sich Bewegung, wo man kann. Das Leben wird interessanter, wenn auch nicht bequemer, sobald man sich auf Anstrengungen einlässt, ein neues Gesellschaftssystem durchzusetzen: »Sozialismus«, das klang konkreter als der Nicht-Ort. Bald wurde ich Zeuge einer spektakulären Niederlage jener Anstrengungen: Große Staaten, die sich auf Marx berufen hatten, ließen das fortan bleiben und lösten sich in unübersichtliche Verhältnisse auf.

    Für mich persönlich war es zu spät, abzuspringen, Marx hatte mich schon überzeugt. Ein Kommunist schrieb mir neulich eine E-Mail, weil ich mit ihm und anderen eine Diskussion darüber angefangen hatte, wie und warum sich verschiedene Leute zu verschiedenen Zeiten unter verschiedenen Umständen von Marx überzeugen ließen. Der Kommunist seufzte schriftlich, das habe oft nicht nur mit Inhalten zu tun, sondern mit der »Heroisierung von gewesenen Kämpfen«, der »Ikonisierung unserer Heldinnen und Helden usw.«, also mit linker Romantik. Der Genosse bekannte: »Die meisten von uns sind nicht Kommunisten geworden, weil sie den 18. Brumaire gelesen haben, sondern weil sie sich über die Menschenschinderei und den Schlachthof Geschichte aufgeregt haben.«

    Die Anspielung auf den »18. Brumaire« bezieht sich auf ein Buch von Marx über ein seinerzeit aktuelles Ereignis: Am 2. Dezember 1851 hatte ein Verwandter des toten Kaisers Napoleon, der »Rechtspopulist« (wie man heute sagen würde) Louis Bonaparte, sich in einem Staatsstreich Frankreich unter den Nagel gerissen, ein Ergebnis der revolutionären Unruhen, die ganz Europa um 1848 erfasst hatten.

    Vergleicht man die Schrift, die Marx dieser Neuigkeit widmete, mit der Art, wie solche Ereignisse rund 150 Jahre später in politischen Kommentaren diskutiert werden, fallen starke Unterschiede auf – ein inzwischen schon wieder aus dem Weltmedienbewusstsein verschwundener Vorgang kann das verdeutlichen: Der Putschversuch in der Türkei im Sommer 2016 war für die meisten Menschen, die mit Hilfe elektronischer Massenmedien im Minutentakt auf den neuesten Stand gebracht wurden, eine Art Zuschauersportereignis, bei dem man Wetten darüber abschließen kann, wie es ausgehen wird. Wenn die Militärs gewinnen, wird die islamistische Tendenz im Land dann vielleicht schwächer, mit der Präsident Erdogan kokettiert? Wenn Erdogan gewinnt, wird dann wenigstens eine stabile Ordnung einkehren?

    Dies war genau die Art von Gedanken, die Marx sich nicht machte, als Louis Bonaparte die Macht ergriff. Für ihn ging es nicht um Wettquoten, sondern ums Ganze, um seine eigene Sache und das Schicksal der politischen Bewegung, der er angehörte.

    Das Ende der französischen Republik, das da in die Diktatur mündete, war in der Perspektive dieser Bewegung nur der scheußliche Höhepunkt einer Reihe von reaktionären Taten der besitzenden Klassen in Frankreich. Noch 60 Jahre früher, in der berühmten großen Französischen Revolution, waren aus den Reihen des dortigen Bürgertums die entschiedensten Denker und Anstifter der Abschaffung des Feudalismus und der Monarchie hervorgegangen.

    Was Marx die »absteigende Linie« seit jener Revolution nannte, analysierte er im »18. Brumaire des Louis Bonaparte « schon im Titel als Bestandteil eines Epochenzusammenhangs: Die Revolution hatte einen neuen Kalender geschaffen, und der 18. des Monats Brumaire im Jahr acht dieses neuen Kalenders (nach der vorher und nachher geltenden Rechnung also der 9. November 1799) war der Tag gewesen, an dem Napoleon Bonaparte, der Onkel des späteren Putschisten, den nicht mehr regierungsfähigen Resten der revolutionären Staatsgewalt die Macht entrissen hatte. Marx macht mit seinem Titel einen bösen Witz: Was Napoleon getan hatte, war noch ein Akt der Größe gewesen, Schicksalsmoment einer grandiosen sozialen Umwälzung, mit dem verglichen der Regierungsantritt des Neffen aussah wie eine Karikatur neben einer Helden­büste. Dies, urteilte Marx, lag daran, dass jenes revolutionäre Bürgertum einen Niedergang hinter sich hatte, an dessen Tiefpunkt ein Gauner wie dieser Louis Bonaparte mit seinen letzten Resten spielend fertig wurde.

    Marx war fest entschlossen, andere dazu zu bewegen, Konsequenzen aus seiner Analyse zu ziehen. Das allein schon hebt seinen Stil und seine Herangehensweise deutlich davon ab, wie heute öffentliche Erörterungen von Tatsachen wie »Es wurde da oder dort geputscht« oder »Ein Tyrann im arabischen Raum ist gestürzt worden« aufgebaut sind. Kommentare beziehen Ereignisse heutzutage selten auf ihre Voraussetzungen im Bereich der Absichten und Interessen, ein schlüssiges Gesellschafts- und Geschichtsbild wird nicht vorausgesetzt, derlei gilt als ideologisch verbohrt. Marx setzte ein solches Bild aber voraus. Ihm war klar: Gesellschaftliche, menschengeschaffene Sachverhalte bestehen zu einem nicht geringen Teil gerade aus Hoffnungen und Ängsten der Beteiligten. Sie sind das, was unsere Handlungen miteinander vermittelt, einen Zusammenhang zwischen ihnen herstellt.

    In der E-Mail meines kommunistischen Bekannten wird eine Unterscheidung angedeutet, die nahelegt, es gäbe auf der einen Seite Empörung, Verurteilung der schlechten Welt, und auf der anderen Seite das Lesen und Denken sowie die Schriften, die zu beidem einladen. Diese zwei Seiten aber stehen ein­an­der in Wirklichkeit nicht getrennt gegenüber, es gibt den Unterschied nur als gewaltsam fixierten. Gerade der »18. Bru­maire« zum Beispiel, so knapp und klar er ist, lebt von Empörung und Verurteilung der Vorgänge, die er erklären will. Marx hat auf erfreuliche wie schlechte Nachrichten häufig mit dem Verfassen von Gebrauchstexten für politische Organisa­tio­nen reagiert, etwa den Bund der Kommunisten oder die Erste Internationale Arbeiterassoziation. Es galt in solchen Momenten, unter Zeitdruck Übersicht herzustellen, damit man wusste, in was man sich einmischen sollte. (…)

    Zweierlei Wut

    Kann jemand, der Aufstände begrüßt, eine Diktatur fordert, Philister erschreckt und sich nicht scheut, die seit Urzeiten bestehende gesellschaftliche Wirklichkeit als »die ganze alte Scheiße« zu beschimpfen, eine Wissenschaft begründen, sei es nun die des Sozialismus oder sonst eine? Mein kommunistischer Bekannter hat ja recht: Es sind nicht Texte von Marx, sondern Unzufriedenheiten, die Menschen normalerweise in den Denk- und Handlungshorizont linker Überzeugungen schleudern – manchmal zum Anarchismus, manchmal zum Kommunismus, manchmal zu Occupy und manchmal zu einer bescheiden mühsamen Arbeit als Rechtsanwältin für Flüchtlinge ohne Papiere. Selbst bei Marx gab es (…) diese Erregungszustände; seine Arbeit war durchaus Nervensache. Wie hängen diese Nerven aber mit seinen Analysen zusammen? Warum reicht es manchen Menschen nicht, ihr Unbehagen am Gemeinwesen in einer Krawalldemo, einem Songtext, einem Graffito oder einer anderen spontanen Verausgabung der Affekte zu entladen?

    Ich selbst bin von der beschriebenen Affektspannung nicht an der Hand von Karl Marx abgekommen, sondern aus einem anderen Grund. So, wie Marx auffiel, dass es unter angeblich seit 1789 gleichgestellten Menschen, die allesamt keine Adligen sind, zwei verschiedene Sorten Teilnahme an der Produktion der gesellschaftlich benötigten Güter und Dienstleistungen gibt, so gibt es, lernte ich mit etwa 16 Jahren, nicht nur eine, sondern mindestens zwei Sorten Wut, die heiße und die ­kalte.

    Menschen werden wütend, wenn ihnen etwas Unlust bereitet oder eine erhoffte Lust verwehrt. Manchmal reicht schon die Befürchtung, dass es so kommen könnte. Dass wir Menschen bei Unlust, verwehrter Lust oder Angst vor einem von beidem wütend werden, ist für Hordentiere wie uns ein von der Evolution nützlich eingerichteter Umstand.

    Wenn es andere unseresgleichen sind, die uns Unlust bereiten oder Lust verweigern, können Aggression und das aggressive Gebaren, das aus Wut entsteht, die Verursacher unserer Unlust oder Angst zur Korrektur ihres Verhaltens zwingen. Wenn wir Pech haben, entsteht daraus allerdings wieder Wut bei jenen; das Resultat ist im schlimmsten Fall die berühmte Gewaltspirale, auch als Teufelskreis bekannt.

    Mit 14 Jahren, als ich die Begeisterung für Utopien gerade verlor, war ich an Schultagen zwischen 8 und 14 Uhr oft genug wütend. Das lag außer an pubertätstypischen Stimmungsschwankungen an besonderen Umständen, durchaus objektiv messbaren, die auch Eltern und anderen Leuten auffielen, die meine Schule nicht besuchten. Wir hatten es da mit einer im Umlandvergleich überproportional hohen Anzahl von problematischen Lehrerinnen und Lehrern zu tun, Al­koholikern, Depressiven, Cholerikern, Esoterikern, die mangelnde Lernerfolge bei den ihnen anvertrauten jungen Menschen als persönliche Beleidigungen empfanden. Ihre Vergeltungsmaßnahmen schonten die Kinder vermögender oder einflussreicher Eltern mit nachtwandlerischer Sicherheit. Bei denen, die nicht geschont wurden, kam daher Wut auf; zunächst heiße.

    Heiße Wut ist Erregung, die zwar die Quelle des Übels erkennt, das sie reizt, aber nicht weiter denken kann als bis zum unmittelbaren Gegenschlag. Heiße Wut war das, was uns dazu aufstachelte, im Unterricht Lärm zu schlagen, das verhasste pädagogische Personal bei Zufallsbegegnungen in der Stadt zu verhöhnen, seine Autos oder Fahrräder zu beschädigen und ähnliche alberne bis ernsthaft destruktive Angriffe mehr zu riskieren, die natürlich ständig mit Niederlagen endeten, nämlich Strafen, Schwierigkeiten zu Hause, Schadensersatz usw. Wenn die Wut nicht abebbte (wie sollte sie, die Anlässe bestanden weiter), konnte das zu folgenreich verpfuschten Erziehungslaufbahnen führen, zum Sitzenbleiben beispielsweise, zu Schulverweisen und anderen Erlebnissen, die das Leiden verlängerten und verschärften.

    Schreien und lernen

    Wut, die zwischen unartikulierbarem Groll und unpräzisen Gegenschlägen hin und her schwingt, kannte auch Karl Marx, nicht nur in Jugendjahren (die bei ihm vergleichsweise behütet und sorgenfrei waren).

    Als linker Oppositioneller im Mitteleuropa des 19. Jahrhunderts musste er harte Schläge einstecken, von der unmöglich gemachten akademischen Karriere, zu der ihm auch seine offensichtliche intellektuelle Begabung nicht verhelfen konnte, über Zensurmaßregeln gegen Zeitungen, bei denen er schrieb, weil er nicht Professor werden konnte, bis hin zu erzwungenen Wohnungswechseln wegen staatlicher Verfolgung, die ihn erst nach Paris jagte, wo ihn die preußische Regierung anschwärzen ließ, dann nach Brüssel, wo er blieb, bis ihn auch Belgien auswies, so dass er zurück nach Paris und endlich nach London übersiedelte, wo er an seinem Hauptwerk arbeitete, bis er starb.

    Auf seinem teils krummen, teils gezackten Weg musste Marx mit seiner Familie, also Frau und Töchtern, ein finanziell unsicheres und gesundheitsschädigendes Leben führen, das ihm unter anderem Karbunkel (die aus Haarwurzelproblemen und Furunkeln entstehen) bescherte.

    Dieses spezielle körperliche Leiden befeuerte seine Wut auf die herrschenden Gewalten, denen er die Schuld an seiner prekären Existenz gab, so sehr, dass er mit grimmigem Humor im Juni 1867 an Engels schreiben konnte: »Jedenfalls hoffe ich, dass die Bourgeoisie ihr ganzes Leben lang an meine Karbunkeln denken wird. Welche Schweinhunde es sind, jetzt wieder neue Probe!«

    So arg die heiße Wut in solchen Momenten in ihm geglüht haben muss, die kalte lag ihm näher. »Kalte Wut« nenne ich einen Zustand der Unzufriedenheit über Leiden und ausbleibendes Vergnügen, der zum kühlen, auf langfristigen Erfolg angelegten Plan aushärtet, statt sich in spontanen Eruptionen zu verausgaben.

    Persönlich begegnet bin ich dieser kalten Wut das erste Mal bei Freundinnen und Freunden an der unerfreulichen Schule, von der ich schon berichtet habe. Die machten sich klar: Arrest, schlechte Noten und Sitzenbleiben verbessern die Situation nicht. Besser war der Zusammenschluss mit anderen, um einander bei Laune zu halten, oder ein Überlebensplan (etwa: die Schule wechseln, zu Verwandten anderswo ziehen). Am besten war strategisches Handeln: Herausfinden, ob die Gegenseite irgendwelche Regeln befolgte, die man gegen sie nutzen konnte. Tatsächlich muteten sich die Problemlehrerinnen und -lehrer zum Beispiel ungern selbst die Zusatzarbeitszeit der Arrestüberwachung zu, was sich ausnutzen ließ, oder sie lagen untereinander in Streit, den man für Schaukelpolitik instrumentalisieren konnte, und dergleichen mehr.

    Die Lehre lag auf der Hand: Heiße Wut beißt und schreit wider das Übel, kalte lernt und versteht, um das zu ändern oder abzuschaffen, was sie provoziert hat. Nicht alle vollzogen diesen Schritt mit. Ich erinnere mich an einen nicht unsympathischen Mitschüler, der nie bereit war, seine Wut abkühlen zu lassen. Er fand, dass jeder Versuch, die Beweggründe der Gegenseite zu verstehen, letztlich darauf hin­aus­laufen müsse, ihr bis zu einem gewissen Grad zu ver­geben. Diskussionen auf dem Pausenhof, die zum Beispiel um die Unterscheidung zwischen Verrückten, Alkoholikern und Überforderten kreisten, sabotierte er mit Worten wie: »Ich will nicht wissen, ob der Typ ein Alkoholiker ist, er ist ein Drecksack!«

    Das beleidigende Wort brachte denselben Furor zum Ausdruck, der die Formulierung »Schweinhunde« im Brief von Marx an Engels ausgelöst hat. Aber es ignoriert, was ich damals nur spürte und nicht artikulieren konnte: Wenn wir wissen, dass ein Lehrer ein Alkoholiker ist, und Beweise dafür finden, die wir unseren Eltern vorlegen können, haben wir einen Hebel gegen ihn gefunden.

    Verständnis muss nicht versöhnlich gemeint sein. Im Gegenteil, so lernte ich später, sind es oft die allerunversöhnlichsten Gegnerinnen und Gegner eines Missstandes, die sich ums Verständnis der Situation, ihre logische Zergliederung und historische Erklärung die allergrößten Verdienste erwerben, weil kalte, aber große Wut ihnen die Kraft dazu verleiht.

    Zwei der beeindruckendsten Beispiele hierfür (…) fand ich bei einem schwarzen Mann, der heroisch gegen den Rassismus gekämpft hat, und bei einer weißen Frau, die sich zeitlebens auf einem besonders ungemütlichen Terrain gegen männliches Dominanzgehabe behaupten konnte.

    Das Übel verstehen

    Mein erster Beleg stammt von einem der entschlossensten Feinde des rassistischen Unrechts in den USA des 19. Jahrhunderts, Frederick Douglass (1817/18–1895). Diesem schwarzen Bürgerrechtler war eine erschütternd nüchterne Bezeichnung für den Kern dieses Unrechts eingefallen, die Sklaverei: 1864 nannte er sie im Rahmen einer knappen Analyse ihrer Funktion beim Aufstieg der USA zum modernen Staat ein »Baugerüst« der »erhabenen Struktur« dieses Staates. Eine Maschinerie, die ungezählte Leiber zerbrochen, unermessliches Leid verursacht hatte, sollte ein »Baugerüst« sein? Sklaverei, dieses »Scaffolding«, schrieb Douglass, sei eine Vorrichtung, welche die Gründerväter der neuen Nation nicht rasch genug beseitigt hätten, auch wenn ihnen wohl klar gewesen sei, dass dieses Gerüst »beseitigt werden muss, sobald der Bau steht«.

    Eine Unterdrückungseinrichtung mit der Kälte und Ruhe anzusehen, die darin ein »Baugerüst« erkennen kann, dürfte nicht vielen gelungen sein, die im Kampf um die Rechte der Versklavten standen. Douglass bewies damit einen Weitblick, der sich sogar als Vorhersage des historischen Moments im Sommer 2016 auslegen lässt, in dem Michelle Obama, die Gattin des ersten schwarzen Präsidenten der USA, davon sprach, was für sie das deutlichste Sinnbild historischen Fortschritts sei: die Tatsache, dass das Weiße Haus, der repräsentative Sitz des Präsidenten, einerseits einst auch mittels Sklavenarbeit errichtet worden war, und andererseits rund 150 Jahre später im selben Haus jemand das höchste Amt des Staates wahrnahm, in dem er seinerzeit nicht einmal die primitivsten Bürgerrechte hätte genießen dürfen.

    Mit dem Satz vom Baugerüst war indes mehr als eine Prophetie ausgesprochen, nämlich ein Gedanke, der Douglass und andere seiner Geisteshaltung von der Idee Abstand nehmen ließ, die Nachfahren der Menschen, welche die grauenvolle und mörderische Verschleppung überlebt hatten, mit der rechtlose Arbeitskräfte nach Amerika gebracht worden waren, sollten in die Herkunftsländer ihrer Familien zurückkehren. Douglass hielt statt dessen dafür, sie sollten ihr Glück in dem Land machen dürfen, das sie mit aufgebaut hatten. Dessen Reichtum war auf ungerechte Weise entstanden, aber da er nun einmal erwirtschaftet worden war, sollte der Zwang aufhören.

    Notwendige Frustration

    Mein von heißer Wut beherrschter Mitschüler hätte das Wort »Baugerüst« wohl eine obszöne Verharmlosung gefunden. In dem sorgfältig konstruierten Argument, das Douglass vorbrachte, wies das Wort jedoch auf eine historische Entwicklung hin, um klarzustellen, dass Gründe, die ein Unrecht scheinbar rechtfertigen, weil sie es objektiv bedingen, im Verlauf der Geschichte entfallen können, und dass man die Chance, in diesem Moment das Unrecht abzuschaffen, nutzen muss. Nichts anderes meint Friedrich Engels mit seinem berühmten Satz »Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit«: Wer frei sein will, muss die Bedingungen kennen, die eine vorhandene Unfreiheit ermöglicht haben, und dann diejenigen, die nicht (mehr) notwendig sind, von den andern trennen, um das nicht Notwendige abzuschaffen.

    Im selben Jahr, in dem Douglass den Satz vom Baugerüst verfasste, schrieb Marx einen offenen Brief an den amerikanischen Präsidenten Abraham Lincoln (1809–1865). Der musste damals einen Bürgerkrieg zur Bewahrung seines föderalen Flächenstaats führen. Die Herrschenden im Süden wollten ihre Sklaven behalten, während Lincoln im Sinn hatte, jenen Entrechteten mehr (wenn auch längst nicht alle) Bürgerrechte zuzugestehen.

    Der Brief, den Marx dem Präsidenten schrieb, versicherte diesen der Bereitschaft der Arbeiterbewegung in Europa, ihren Teil zu seinem Sieg beizutragen. Marx bot nichts Geringeres an als die Disziplin der kalten Wut dieser Arbeiterbewegung, die Bereitschaft, die Zähne zusammenzubeißen und eigene Nachteile zu ertragen, die der Kampf gegen das Unrecht mit sich bringt, den andere anderswo führen.

    Außer vernünftiger Bestandsaufnahme der Lage und Geduld bei der Arbeit an deren Veränderung verlangt die Abkühlung der Wut ja oft weitere Frustrationen von den kalt Wütenden – vor allem, dass sie nicht nur erkennen, was notwendig ist an ihrer Lage und was nicht, sondern auch aus­halten, was am Übergang vom Schlechten zum Besseren unangenehm, aber nun mal ebenfalls notwendig ist. Im Fall der Solidarität mit den Sklaven hieß das für europäische Ar­beiter zum Beispiel das Ertragen vorübergehender Baumwollknappheit. Billige Baumwolle hatte es für europäische Besitzlose nur gegeben, solange die Sklaven auf den Baumwollplantagen schufteten. Aufgeklärt über diese Zusammenhänge, schrieb Marx an Lincoln also unter anderem zwei wichtige Sätze – einen sehr langen und einen weniger langen.

    Der lange lautet: »Als die Oligarchie der 300.000 Sklavenhalter zum erstenmal in den Annalen der Welt das Wort Sklaverei auf das Banner der bewaffneten Rebellion zu schreiben wagte; als auf dem selbigen Boden, dem kaum ein Jahrhundert vorher zuerst der Gedanke einer großen demokratischen Republik entsprungen war, von dem die erste Erklärung der Menschenrechte ausging und der erste Anstoß zu der europäischen Revolution des 18. Jahrhunderts gegeben wurde; als auf diesem selbigen Boden die Konterrevolution mit systematischer Gründlichkeit sich rühmte, ›die zur Zeit des Aufbaues der alten Verfassung herrschenden Ideen‹ umzustoßen, und ›die Sklaverei als eine heilsame Einrichtung – ja als die einzige Lösung des großen Problems der Beziehung der Arbeit zum Kapital‹ hinstellte und zynisch das Eigentumsrecht auf den Menschen als ›Eckstein des neuen Gebäudes‹ proklamierte; da begriffen die Arbeiter Europas sofort, selbst noch ehe sie durch die fanatische Parteinahme der oberen Klassen für den Konföderiertenadel gewarnt worden, dass die Rebellion der Sklavenhalter die Sturmglocke zu einem allgemeinen Kreuzzug des Eigentums gegen die Arbeit läuten würde und dass für die Männer der Arbeit außer ihren Hoffnungen auf die Zukunft auch ihre vergangnen Eroberungen in diesem Riesenkampfe jenseits des Ozeans auf dem Spiele standen.«

    Der kürzere Satz zieht die Konsequenz aus dem langen: »Überall trugen sie darum geduldig die Leiden, welche die Baumwollkrisis ihnen auferlegte, widersetzten sich voll Begeisterung der Intervention zugunsten der Sklaverei, welche die höheren und »gebildeten« Klassen mit solchem Eifer herbeizuführen suchten, und entrichteten aus den meisten Teilen Europas ihre Blutsteuer für die gute Sache.«

    Unrecht hat Gründe, der Kampf dagegen braucht Verstand, Geduld und die Bereitschaft, für die Abschaffung des Unrechts einen Preis zu zahlen – in diesen beiden Punkten waren Douglass und Marx sich einig. Genauso dachte und schrieb auch die Urheberin meines zweiten Belegs für den politischen Wert der kalten Wut: 1912 verglich Rosa Luxemburg (1871–1919) in ihrem Aufsatz »Frauenwahlrecht und Klassenkampf« die Vorherrschaft des Mannes in der Familie mit der Institution des angeblich von Gott gerechtfertigten und gesegneten Erbkönigtums – eine wechselseitige Auslegung zweier Sachverhalte, die damit keineswegs gerechtfertigt sein sollten: »Das Instrument des Himmels als tonangebende Macht des politischen Lebens und die Frau, die züchtig am häuslichen Herde saß, unbekümmert um die Stürme des öffentlichen Lebens, um Politik und Klassenkampf, sie beide wurzeln in den vermorschten Verhältnissen der Vergangenheit, in den Zeiten der Leibeigenschaft auf dem Lande und der Zünfte in der Stadt. In diesen Zeiten waren sie begreiflich und notwendig.«

    Mein ungestümer Mitschüler hätte sich hier vermutlich über das Wörtchen »notwendig« aufgeregt. Luxemburg meinte es ernst: Notwendig ist ein König da, wo die soziale Welt in Stände gegliedert ist und zum Beispiel der Austausch zwischen den ländlichen Erzeugnissen des Feldes und den handwerklichen der Stadt nur dann stabil vonstatten geht, wenn es eine Instanz über den Landadligen einerseits und den Stadtbürgern andererseits gibt, die verhindert, dass das für alle überlebenswichtige Geschäft in einen Dauerstreit führt, der das Gemeinwesen zerreißt.

    Analog hierzu führt, wo die Gesellschaft so arm ist, dass die Individuen dauernd jagen, säen, ernten, sammeln oder werkeln müssen, damit die Familie nicht verhungert, und daher so rückständig, dass keine verteilte Kinderbetreuung eingerichtet werden kann, weil jede Arbeitskraft fürs Überleben nötig ist, an der Arbeitsteilung zwischen Produktion und Reproduktion aus biologischem Elendspragmatismus nichts vorbei, wohl aber etwas darüber hinaus: die Erzeugung größeren gesamtgesellschaftlichen Reichtums. Allerspätestens der Kapitalismus hat diesen Reichtum hervorgebracht, eben der Kapitalismus, der auf jene »vermorschten Verhältnisse« folgte, indem er sie zunächst ökonomisch zerschlug und dann formaljuristisch beseitigte.

    Nur dann, wenn man versteht, dass Douglass so wenig die Sklaverei entschuldigen wollte wie Luxemburg die Monarchie und das Patriarchat, versteht man ein drittes und ein viertes Zitat, die ich diesen beiden anfügen will, um endgültig zu Marx und seiner Lehre überzuleiten. Zunächst ein scheinbar enthusiastisches Lob der schon angedeuteten fortschrittlichen Mission des Kapitalismus: »Die große Industrie hat den Weltmarkt hergestellt, den die Entdeckung Amerikas vorbereitete. Der Weltmarkt hat dem Handel, der Schiffahrt, den Landkommunikationen eine unermessliche Entwicklung gegeben. Diese hat wieder auf die Ausdehnung der Industrie zurückgewirkt, und in demselben Maße, worin Industrie, Handel, Schifffahrt, Eisenbahnen sich ausdehnten, in demselben Maße entwickelte sich die Bourgeoisie, vermehrte sie ihre Kapitalien, drängte sie alle vom Mittelalter her überlieferten Klassen in den Hintergrund.

    Wir sehen also, wie die moderne Bourgeoisie selbst das Produkt eines langen Entwicklungsganges, einer Reihe von Umwälzungen in der Produktions- und Verkehrsweise ist. Jede dieser Entwicklungsstufen der Bourgeoisie war begleitet von einem entsprechenden politischen Fortschritt. […]

    Die Bourgeoisie hat in der Geschichte eine höchst revolu­tio­näre Rolle gespielt. Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose »bare Zahlung«. Sie hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt.«

    Ein Unterton von Kritik ist vernehmbar, Hochachtung aber unübersehbar – und dann folgen, im selben Text, gar Töne, die man heute, wäre der Kontext unbekannt, vielleicht euro­zen­trisch nennen würde: »Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterte Kommunikation alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation. Die wohlfeilen Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt, mit der sie den hartnäckigsten Fremdenhass der Barbaren zur Kapitulation zwingt. Sie zwingt alle Nationen, die Produktionsweise der Bourgeoisie sich anzueignen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen; sie zwingt sie, die sogenannte Zivilisation bei sich selbst einzuführen, d. h. Bourgeois zu werden. Mit einem Wort, sie schafft sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde.«

    Ich schrieb oben vom »Unterton von Kritik« und meinte damit Wendungen wie »die sogenannte Zivilisation« im letzten zitierten Abschnitt. Den Text, in dem das stand, schrieben Marx und Engels in Brüssel Ende 1847, ein Jahr vor einer revolutionären Erhebung in Europa, deren Scheitern das weitere Leben und Werk von Marx entscheidend prägte. Alles, was Marx vor diesem Text geschrieben hat, liefert die eine Hälfte des Kontextes, der die angeführten Stellen erklärt, und alles, was er danach schrieb, liefert die andere. Beide zu rekonstruieren, damit man das, was ich eben zitiert habe, als eines der größten Dokumente kalter Wut in der Menschheitsgeschichte verstehen lernt, ist der Zweck dieses Büchleins.