Materialismus ohne Natur?
Seit Ende 2017 existiert in Hamburg ein Arbeitskreis »Dialektik & Materialismus«. Er entstand als eine Art Graswurzelinitiative, ist interdisziplinär zusammengesetzt und tagt etwa einmal monatlich. Das Spektrum der bisher behandelten Themen ist vergleichsweise breit (eine unvollständige Auswahl: Dialektik-Einführung, Arbeiterklasse heute, materialistische Behindertenpädagogik, Zufall und Gesetzmäßigkeiten, Dialektik im Marxschen »Kapital«, Materialismuskonzepte, Rolle der Arbeit sowie eine Buchlesung in der Heine-Buchhandlung).
Am vergangenen Samstag fand eine Veranstaltung mit dem emeritierten Münsteraner Philosophieprofessor Kurt Bayertz über sein 2018 erschienenes Buch »Interpretieren, um zu verändern. Karl Marx und seine Philosophie« (Verlag C. H. Beck) statt. Es unterscheidet sich stark von den meisten der in den letzten Monaten zum Marx-Jubiläum erschienenen Publikationen, weil es einen neuen, forschenden Zugang zum Werk von Marx versucht. Die erneute Befassung mit Marx hält Bayertz deshalb für lohnend, weil hier »eine noch nicht abgearbeitete Agenda formuliert« sei. Um dieser auf die Spur zu kommen, gelte es, vor dem Hintergrund der gewaltigen Rezeptionsgeschichte, die sich »wie eine Nebelwand vor die Originaltexte« schiebe, sich noch mal neu auf die von Marx behandelten Theorieprobleme einzulassen und dabei »dem Prinzip der wohlwollenden Interpretation« zu folgen, »ohne dass man Unklarheiten und Inkonsistenzen kaschiert«. Der Schwerpunkt seiner detaillierten Untersuchung liegt auf den philosophischen Voraussetzungen, wobei er sich nicht von dem durch Marx (wie auch Engels) ausdrücklich proklamierten »Abschied von der Philosophie« irritieren lässt, sondern die faktischen philosophischen Theorieelemente aufspürt, insbesondere diejenigen in der Traditionslinie von Hegel, aber auch z. B. von Aristoteles und natürlich von Feuerbach. Vor allem untersucht Bayertz diejenige Materialismusversion, die Marx seiner Konzeption eines »historischen Materialismus« zugrunde legt. Bei aller selbstverständlichen Voraussetzung, dass die Menschen Naturwesen sind und bleiben, interessiere Marx das spezifisch Materialistische in Gesellschaft und Geschichte im Zusammenhang und zugleich im Unterschied zur nichtmenschlichen Natur. Bayertz diskutiert dieses Spezifische des historisch-gesellschaftlichen Materialismus nicht zuletzt in einer kritischen Analyse des berühmten Vorworts zur »Kritik der politischen Ökonomie« von 1859. Durch die Untersuchung etwa der problematischen architektonischen Metapher in der sogenannten Basis-Überbau-Theorie gelangt er zu einem präzisierten Verständnis z. B. solcher Grundbegriffe wie »Produktivkräfte« (mit Akzent auf der Produktivkraft der menschlichen Arbeit statt einer Reduktion auf Technik) und »Produktionsverhältnisse« (deren Kern er in den Eigentumsverhältnissen als faktischer Verfügung über die Produktionsmittel sieht, unabhängig von den juristischen Verhältnissen). So wird etwa dieser für die Analyse der jeweiligen Gesellschaft und ihrer Ökonomie zentrale Begriff unter Rückgriff auf moderne Theoriemittel wie etwa die Systemtheorie und den Emergenzbegriff erläutert. Die politische Ökonomie versteht der Autor nicht als Verabschiedung des Historischen Materialismus, sondern als dessen Konkretisierung. Anders als manche Marx-Interpreten (z. B. Louis Althusser) bestreitet er, dass es einen tiefen Bruch gebe zwischen dem frühen und dem reifen Marx, ohne freilich dessen Entwicklung zu ignorieren. Zentral für das Buch ist der versuchte Nachweis einer spezifischen »Sozialontologie« in Marx’ Gesellschaftstheorie. Er knüpft dabei an der Einsicht von Marx an, dass es sich bei Ware, Wert oder Kapital um – sinnlich nicht direkt wahrnehmbare – soziale Beziehungen oder Verhältnisse handle statt um Dinge. Dies zu erfassen, brauche es Theorien und begriffliche Abstraktionsleistungen, so z. B. die Totalitätskonzeption von Hegel, unbeschadet der ausdrücklichen Ablehnung des Hegelschen Idealismus. Kurz, gerade durch eine erneute theoretisch-philosophische Analyse gelangt Bayertz zu neuen Einsichten bei der Interpretation des Werks von Marx.
Hier setzte nun sein Vortrag in Hamburg ein. Seine zentrale These provozierte eine sehr lebendige, fruchtbare Debatte, die sich vor allem auf sein Verständnis eines spezifischen Marxschen Materialismus konzentrierte, der sich auf Gesellschaft (Kultur) als unterschieden von der Natur beziehe. Das Materialistische in der Gesellschaftstheorie sieht er darin: Entsprechend der Marxschen Formulierung im Vorwort von 1859 gehen die Menschen bei der für ihr Leben notwendigen Produktion zueinander Beziehungen ein, die als ein unbeabsichtigtes Resultat ihres Handelns Verhältnisse (»Produktionsverhältnisse«) hervorbringen, die, weil notwendig sowie ohne Willen und Bewusstsein hervorgebracht, objektiv-real, also »materiell« sind; die Gesamtheit der eingegangenen Beziehungen und Verhältnisse bildet eine jeweils spezifische ökonomische Struktur, eine Ordnung (die jeweilige Produktionsweise), die freilich erst zusammen mit dem politischen, juristischen etc. Überbau und den entsprechenden Bewusstseinsformen zusammen eine Gesellschaft konstituieren. Der Clou der Argumentation, die dann die heftige, kontroverse Diskussion provozierte: die eingegangenen Beziehungen oder »Relationen« der Individuen zueinander seien von Marx ohne »Relata« gedacht, also Beziehungen ohne Bezogenes, die als solche das für die Marxsche Gesellschaftstheorie spezifisch Materielle seien. Bayertz belegte das u. a. durch ein Zitat aus den »Grundrissen«, wonach die Gesellschaft nicht als Summe von Individuen zu verstehen sei, sondern als »die Gesamtheit der Verhältnisse zwischen ihnen« (MEW 42, 189). Es sei dies ein »entstofflichter«, ein »entnaturalisierter« Materialismus.
Dem wurde in der Diskussion heftig widersprochen, indem auf die konstitutive, widersprüchliche (dialektische) Einheit von »Stofflichem« und »Formbestimmtem« bei Marx verwiesen wurde und darauf, dass zwar, wie schon erwähnt, das Neue bei Marx gegenüber der herkömmlichen politischen Ökonomie darin bestand, dass er Wert, Geld und Kapital als ein gesellschaftliches Verhältnis entschlüsselt habe, dass aber der Wert oder Tauschwert nicht ohne Gebrauchswert, also eine‚ »stofflich«-gegenständliche oder »naturbezogene« Seite existiere.