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Marx 200

Marx 200

Am 5. Mai 1818 wurde Karl Marx geboren – gemeinsam mit seinem Freund Friedrich Engels sollte er Weltgeschichte schreiben. Marx lebte in der Zeit des entstehenden Kapitalismus. Die Analyse der Entfesselung der Produktivkräfte bildet sein wissenschaftliches Hauptwerk. Die Überwindung dieser zutiefst unvernünftigen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung war das Hauptinteresse des Politikers und Revolutionärs.

Berichte

  • · Berichte

    Materialismus ohne Natur?

    Eine Veranstaltung zu Marx mit Kurt Bayertz in Hamburg
    Richard Sorg
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    »Noch nicht abgearbeitete Agenda« (Wandgemälde im »Demeure du Chaos«-Museum bei Lyon)

    Seit Ende 2017 existiert in Hamburg ein Arbeitskreis »Dialektik & Materialismus«. Er entstand als eine Art Graswurzelinitiative, ist interdisziplinär zusammengesetzt und tagt etwa einmal monatlich. Das Spektrum der bisher behandelten Themen ist vergleichsweise breit (eine unvollständige Auswahl: Dialektik-Einführung, Arbeiterklasse heute, materialistische Behindertenpädagogik, Zufall und Gesetzmäßigkeiten, Dialektik im Marxschen »Kapital«, Materialismuskonzepte, Rolle der Arbeit sowie eine Buchlesung in der Heine-Buchhandlung).

    Am vergangenen Samstag fand eine Veranstaltung mit dem emeritierten Münsteraner Philosophieprofessor Kurt Bayertz über sein 2018 erschienenes Buch »Interpretieren, um zu verändern. Karl Marx und seine Philosophie« (Verlag C. H. Beck) statt. Es unterscheidet sich stark von den meisten der in den letzten Monaten zum Marx-Jubiläum erschienenen Publikationen, weil es einen neuen, forschenden Zugang zum Werk von Marx versucht. Die erneute Befassung mit Marx hält Bayertz deshalb für lohnend, weil hier »eine noch nicht abgearbeitete Agenda formuliert« sei. Um dieser auf die Spur zu kommen, gelte es, vor dem Hintergrund der gewaltigen Rezeptionsgeschichte, die sich »wie eine Nebelwand vor die Originaltexte« schiebe, sich noch mal neu auf die von Marx behandelten Theorieprobleme einzulassen und dabei »dem Prinzip der wohlwollenden Interpretation« zu folgen, »ohne dass man Unklarheiten und Inkonsistenzen kaschiert«. Der Schwerpunkt seiner detaillierten Untersuchung liegt auf den philosophischen Voraussetzungen, wobei er sich nicht von dem durch Marx (wie auch Engels) ausdrücklich proklamierten »Abschied von der Philosophie« irritieren lässt, sondern die faktischen philosophischen Theorieelemente aufspürt, insbesondere diejenigen in der Traditionslinie von Hegel, aber auch z. B. von Aristoteles und natürlich von Feuerbach. Vor allem untersucht Bayertz diejenige Materialismusversion, die Marx seiner Konzeption eines »historischen Materialismus« zugrunde legt. Bei aller selbstverständlichen Voraussetzung, dass die Menschen Naturwesen sind und bleiben, interessiere Marx das spezifisch Materialistische in Gesellschaft und Geschichte im Zusammenhang und zugleich im Unterschied zur nichtmenschlichen Natur. Bayertz diskutiert dieses Spezifische des historisch-gesellschaftlichen Materialismus nicht zuletzt in einer kritischen Analyse des berühmten Vorworts zur »Kritik der politischen Ökonomie« von 1859. Durch die Untersuchung etwa der problematischen architektonischen Metapher in der sogenannten Basis-Überbau-Theorie gelangt er zu einem präzisierten Verständnis z. B. solcher Grundbegriffe wie »Produktivkräfte« (mit Akzent auf der Produktivkraft der menschlichen Arbeit statt einer Reduktion auf Technik) und »Produktionsverhältnisse« (deren Kern er in den Eigentumsverhältnissen als faktischer Verfügung über die Produktionsmittel sieht, unabhängig von den juristischen Verhältnissen). So wird etwa dieser für die Analyse der jeweiligen Gesellschaft und ihrer Ökonomie zentrale Begriff unter Rückgriff auf moderne Theoriemittel wie etwa die Systemtheorie und den Emergenzbegriff erläutert. Die politische Ökonomie versteht der Autor nicht als Verabschiedung des Historischen Materialismus, sondern als dessen Konkretisierung. Anders als manche Marx-Interpreten (z. B. Louis Althusser) bestreitet er, dass es einen tiefen Bruch gebe zwischen dem frühen und dem reifen Marx, ohne freilich dessen Entwicklung zu ignorieren. Zentral für das Buch ist der versuchte Nachweis einer spezifischen »Sozialontologie« in Marx’ Gesellschaftstheorie. Er knüpft dabei an der Einsicht von Marx an, dass es sich bei Ware, Wert oder Kapital um – sinnlich nicht direkt wahrnehmbare – soziale Beziehungen oder Verhältnisse handle statt um Dinge. Dies zu erfassen, brauche es Theorien und begriffliche Abstraktionsleistungen, so z. B. die Totalitätskonzeption von Hegel, unbeschadet der ausdrücklichen Ablehnung des Hegelschen Idealismus. Kurz, gerade durch eine erneute theoretisch-philosophische Analyse gelangt Bayertz zu neuen Einsichten bei der Interpretation des Werks von Marx.

    Hier setzte nun sein Vortrag in Hamburg ein. Seine zentrale These provozierte eine sehr lebendige, fruchtbare Debatte, die sich vor allem auf sein Verständnis eines spezifischen Marxschen Materialismus konzentrierte, der sich auf Gesellschaft (Kultur) als unterschieden von der Natur beziehe. Das Materialistische in der Gesellschaftstheorie sieht er darin: Entsprechend der Marxschen Formulierung im Vorwort von 1859 gehen die Menschen bei der für ihr Leben notwendigen Produktion zueinander Beziehungen ein, die als ein unbeabsichtigtes Resultat ihres Handelns Verhältnisse (»Produktionsverhältnisse«) hervorbringen, die, weil notwendig sowie ohne Willen und Bewusstsein hervorgebracht, objektiv-real, also »materiell« sind; die Gesamtheit der eingegangenen Beziehungen und Verhältnisse bildet eine jeweils spezifische ökonomische Struktur, eine Ordnung (die jeweilige Produktionsweise), die freilich erst zusammen mit dem politischen, juristischen etc. Überbau und den entsprechenden Bewusstseinsformen zusammen eine Gesellschaft konstituieren. Der Clou der Argumentation, die dann die heftige, kontroverse Diskussion provozierte: die eingegangenen Beziehungen oder »Relationen« der Individuen zueinander seien von Marx ohne »Relata« gedacht, also Beziehungen ohne Bezogenes, die als solche das für die Marxsche Gesellschaftstheorie spezifisch Materielle seien. Bayertz belegte das u. a. durch ein Zitat aus den »Grundrissen«, wonach die Gesellschaft nicht als Summe von Individuen zu verstehen sei, sondern als »die Gesamtheit der Verhältnisse zwischen ihnen« (MEW 42, 189). Es sei dies ein »entstofflichter«, ein »entnaturalisierter« Materialismus.

    Dem wurde in der Diskussion heftig widersprochen, indem auf die konstitutive, widersprüchliche (dialektische) Einheit von »Stofflichem« und »Formbestimmtem« bei Marx verwiesen wurde und darauf, dass zwar, wie schon erwähnt, das Neue bei Marx gegenüber der herkömmlichen politischen Ökonomie darin bestand, dass er Wert, Geld und Kapital als ein gesellschaftliches Verhältnis entschlüsselt habe, dass aber der Wert oder Tauschwert nicht ohne Gebrauchswert, also eine‚ »stofflich«-gegenständliche oder »naturbezogene« Seite existiere.

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    Buch gegen die Ohnmacht

    Gemeinsame Interessen erkennen: SDAJ-Sammelband zum 200. Geburtstag von Karl Marx
    Susanne Knütter
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    Klassenkampf statt »Einzelkämpfertum«: Mitglieder der SDAJ bei Demo gegen den G7-Gipfel in München 2015

    Aus Anlass des diesjährigen 200. Geburtstages von Karl Marx hat die Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ), vertreten durch die beiden Herausgeber Lena Kreymann und Paul Rodermund, ein Buch veröffentlicht: »Eine Welt zu gewinnen. Marx, der Kapitalismus von heute und was wir tun können«. Man will so »mehr Menschen helfen, ihre eigenen gesellschaftlichen Interessen zu erkennen und daran ihr Denken und Handeln zu entwickeln«.

    Warum es hierzu erforderlich ist, sich mit dem Werk von Marx auseinanderzusetzen, umreißt Dietmar Dath im Vorwort des Bandes. In seiner Analyse des »Unrechts« aller bisherigen Gesellschaftssysteme habe Marx herausgearbeitet, dass der gesellschaftliche Reichtum im Kapitalismus den bisher höchsten Stand erreicht hat. Damit sei die Voraussetzung für die »Selbstemanzipation« des Menschen geschaffen. Diese Emanzipation könne jedoch nur erreicht werden, wenn die Unterdrückten die Macht über die Produktion erkämpften. Eine politische Bewegung, welche diese beiden Einsichten nicht hat oder bereit ist, aus ihnen Konsequenzen zu ziehen, wird, so Dath, nicht »die geringste Chance (haben), das Unrecht abzuschaffen«.

    Der Sammelband ist in drei Teile untergliedert. Im ersten Kapitel, geschrieben von Heiko Humburg, wird die Schilderung von Lebensstationen von Karl Marx und Friedrich Engels mit deren zentralen theoretischen Erkenntnissen verbunden.

    Im zweiten Kapitel beschäftigen sich verschiedene Autoren – genannt seien Werner Seppmann, Seta Radin und Patrik Köbele – mit dem »Kapitalismus unserer Zeit«. Dieser sei angesichts der Konzentration des Kapitals, der Veränderung der Arbeit und der Klasse der Lohnabhängigen sowie einer neuen Dimension der internationalen Beziehungen ein anderer als zu Marxens Zeiten. Außerdem werden die ökologische Krise, die Fluchtbewegungen der letzten Jahre und die Rolle Deutschlands marxistisch analysiert

    Ein Blick auf die zentralen Konflikte und widerstreitenden Interessen in jeder Geschichtsepoche hilft, die bisherige gesellschaftliche Entwicklung und die Welt, in der wir leben, zu verstehen. Im dritten Kapitel wird deshalb der Blick auf ausgewählte Klassenkämpfe des 20. Jahrhunderts und ihre geschichtlichen Bedingungen gerichtet. Beate Landefeld, Jürgen Lloyd, Arnold Schölzel und andere widmen sich beispielsweise der Oktober- und der Novemberrevolution, dem Ringen der Kommunisten um eine antifaschistische Strategie am Ende der Weimarer Republik und der unterschiedlichen Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg in der DDR und der BRD. Als Zugabe enthält das Buch Comics, gestaltet vom Berliner Illustrator Toni Püschel, welche die Texte klug und auf gut gemachte Weise ergänzen.

    Das Buch ist für alle, aber in besonderem Maße für diejenigen, »die nichts anderes kennen als die vermeintliche Allmacht des Monopolkapitals, als sich immer weiter verschlechternde Lebensbedingungen«. Damit meint die SDAJ die Generation der unter 30jährigen, die weder die breite Friedensbewegung noch den Kampf der IG Metall um die 35-Stunden-Woche in den 80er Jahren miterlebt hat. »Eine Welt zu gewinnen« will zeigen, dass der gemeinsame Kampf gegen Ausbeutung, Konkurrenz und Krieg so nötig ist wie eh und je und dass er auch gewonnen werden kann. Es will ein Buch gegen Ohnmacht und »Einzelkämpfertum« sein.

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    Versprechen auf Versprechen

    Die neuen Streifzüge verhandeln »Marx«
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    Systemfrage als Überlebensfrage: »Nicht nur die deindustrialisierten und pauperisierten USA, die Trump wieder ›groß machen‹ will, befinden sich in einer tiefgreifenden Krise«, schreibt Tomasz Konicz

    Auch die Wertkritiker äußern sich zum Marx-Jubiläum. Das neue Heft der Wiener Streifzüge ist schlicht »Marx« betitelt und möchte laut Editorial eine Alternative sein zu den anderen Gratulanten zum 200. des Philosophen, die ihn bloß wie »Fast Food«, als »Marx für Eilige« oder schlicht als »Marke« behandeln würden.

    Bei den Streifzügen denkt man gut marxistisch in längeren Zyklen und druckt einen Artikel von Franz Schandl aus dem Jahr 2000 über »Wertrevolutionen oder: Die Krise bei Marx« nach, der damals bezeichnenderweise in der letzten Ausgabe von Weg und Ziel (was für ein Titel!), dem theoretischen Organ der KPÖ (gibt es die überhaupt noch außerhalb der Steiermark?) erschien. Merke: »Das Geschäft ist immer kerngesund und die Kampagne im gedeihlichen Fortgang, bis auf einmal der Zusammenbruch erfolgt«( MEW 25, S. 502). Aber wann denn?

    Gute Frage. Für Schandl war schon zur Jahrtausendwende klar, dass wir »bereits in einer Desintegrationsphase« leben. Einerseits vegetiere die Mehrheit der Menschen unter katastrophalen Zuständen, während andererseits »das Kapital und seine Apologeten unablässig das Märchen der weltweiten Modernisierung hin zu Freedom and Democracy predigen«.

    2018 formuliert Tomasz Konicz »Die Systemfrage als Überlebensfrage«. Das ist zwar nicht neu, aber dringlicher als früher, da bei näherer Betrachtung sich die imperialistischen Blöcke neu formieren, die USA »pauperisieren« und die systemische Überproduktionskrise »Deindustrialisierung, Verschuldung, Finanzblasen, Erosion der Mittelschicht« zeitigt. Das heißt, die Kriegsgefahr wächst jeden Tag, allerdings völlig »unabhängig vom gesellschaftlichen Stand des Massenbewusstseins«. Das ist das alte Problem seit mindestens 1968. Man könnte es auch so sagen: »Der Kapitalismus organisiert sich heute zunehmend von Versprechen auf Versprechen, die wiederum von neuen Versprechen abgelöst werden«, wie Franz Schandl in einer Buchrezension anmerkt. Da geht es um Michael Betancourts »Kritik des Digitalen Kapitalismus«. Verdammt, den gibt es ja auch noch! An anderer Stelle schreiben Schandl und Petra Ziegler: »Die Frage Was tun? ist so gut, wie die vorschnellen Antworten schlecht sind«.

    Eine These am Rande von den beiden: »Das gute Leben kann nie und nimmer Abfallprodukt eines zerstörerischen Wirtschaftens sein. Der Raubbau an Mensch, Tier und Natur ist zu beenden.« Sie meinen: »Dabeisein ist gefährlicher als Dagegensein.« In den nächsten Streifzügen geht es übrigens um »Haben«. (jW)

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    Papakind par excellence

    Eva Weissweilers neue Biographie über »Lady Liberty«, Marx’ jüngste Tochter Eleanor
    Klaus Gietinger
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    »Man fiebert mit ihr«: Eleanor Marx (1855 – 1898)

    Als seine dritte Tochter Eleanor 1855 im Elend von London-Soho zur Welt kam, schrieb Karl Marx seinem Freund Friedrich Engels bedauernd, das Neugeborene sei leider nur vom »Sex par excellence«. Drei Monate später starb der geliebte achtjährige Edgar, genannt Musch. In der engen Zwei-Zimmer-Wohnung herrschte Weltuntergangsstimmung. Marx verhätschelte seine jüngste Tochter, sie wurde zum Papakind par excellence. Ein Jahr später gelang mit Engels’ Hilfe und einer Erbschaft der Aufstieg in ein besseres Viertel. Eleanor, genannt Tussy (was damals noch kein Schimpfwort war), entwickelte sich prächtig.

    Jenny und Karl Marx ließen ihren Töchtern viel Freiheit, unterrichteten sie. Tussy begeisterte sich mit sechs für Abraham Lincoln und die Sklavenbefreiung, bot in einem Brief ihre Hilfe an. Mit 14 besuchte sie Engels, den General, und dessen Lebensgefährtin, die irische Proletarierin Lizzy Burns, in Manchester, begeisterte sich für Lizzys Freiheitskampf, fuhr mit beiden nach Irland, erlebte gewaltige Demonstrationen und Polizeigewalt. Sie war 16, als sie ihrer Schwester Jenny in Bordeaux zu Hilfe kam; deren Mann Charles Longuet fand den Kampf für die Kommune wichtiger als Weib und krankes Kind. Die drei Schwestern flohen, wurden verhaftet, kamen wieder frei. Auf der Überfahrt schäkerte Tussy rauchend mit Matrosen.

    Alle drei Schwestern verliebten sich in Franzosen, Kommune-Kämpfer im Londoner Exil. Marx sah dies gar nicht gern. Als sich Tussy in einen feschen Chronisten der Kommune, Prosper-Olivier Lissagaray, verkuckte, kam es zum Kampf mit dem Vater.

    All das schildert Eva Weissweiler in ihrem kurzweiligen Buch »Lady Liberty«. Die Schriftstellerin, Historikerin und Musikwissenschaftlerin hat ihre 2002 erschienene Tussy-Marx-Biographie umgeschrieben und aktuellste Forschungen aufgenommen, so dass praktisch ein neues Werk entstanden ist. Vieles ist dramaturgisch gestrafft, die Kapitel sind neu strukturiert. Manches ist schärfer, anderes moderater formuliert. Nebenepisoden, besonders aus der irischen und russischen Untergrundszene, sind weggelassen, weil sie den Fluss bremsten.
    Anderes wurde neu eingefügt, die Beziehungstragik zurückgefahren. Tussy spricht mehr als Autorin, Übersetzerin und Politaktivistin. Dabei halfen Weissweiler alte sozialistische Zeitungen, englische und deutsche, die 2002 kaum zu bekommen waren und jetzt online zugänglich sind. Hintergründe des amerikanischen Bürgerkriegs, der Pariser Kommune und der Entstehung des englischen Frauengewerkschaftswesens sind deutlicher herausgearbeitet. Weitere Ergänzungen lieferten Publikationen wie eine von Angelika Limmroth und Rolf Hecker bestens edierte Briefausgabe (»Jenny Marx, Die Briefe«, erschienen 2014 bei Dietz, Berlin) oder die japanisch-englisch-deutsche Dokumentation von Izumi Omura u. a. zur Herkunft Fredericks, »Karl Marx is my father« (Tokio 2011, mit den Testamenten von Engels und Tussy). Ein rundum spannendes Buch auf dem Stand der Forschung. Man fiebert mit Tussy.

    Der Vater nimmt sie 1873 mit zur Kur nach Karlsbad, um sie abzulenken. Tussy versucht sich selbständig zu machen, wird Lehrerin an einem Internat (Boarding-school) für viktorianische Mädchen. Mit 19 fängt sie als Übersetzerin an. Sie wird – nie richtig anerkannt – viele bedeutende Werke, auch das Wichtigste ihres Vaters, übersetzen, als Korrespondentin arbeiten, die Kinder ihrer Schwestern betreuen. Schauspielerin will sie werden, und kämpft gegen die Missachtung der Frauen auch in der sozialistischen Bewegung. Die enge Beziehung zu Old Nick (Papa Marx) ist ihr immer wieder im Wege. Sie lernt George Bernard Shaw kennen, frisst sich, wie ihr Vater, im Reading Room des British Museum fest, leidet unter Ohnmachtsanfällen, Magersucht, Depressionen. Schwester Lauras Kinder sterben, schließlich die Mutter, Schwester Jenny und 1883 der Vater.

    Dann lernt sie Edward Aveling kennen, eine Art Mephistopheles, verheiratet, immer blank, der sie ausnutzt, betrügt und von dem sie nicht loskommt. Sie versucht, das Werk ihres Vaters fortzusetzen, wird zur bejubelten Agitatorin, bewegt die Arbeitermassen, besonders die Arbeiterinnen, bezeichnet sich als Jüdin, reist mit Wilhelm Liebknecht und Aveling in die USA, wo man sie als »Lady Liberty« bewundert, kämpft um das Erbe ihres Vaters, für die Befreiung der Frauen, streitet sich mit Laura und ihrem Ersatzvater Engels, freundet sich mit ihrem verfemten Halbbruder Frederick an und wird doch nicht glücklich.

    Ein faszinierendes, leicht lesbares, nie langweiliges Buch über eine faszinierende Frau, deren Liebe zu ihrem Übervater und zu einem kleinen Teufel neben der Ignoranz auch der sozialistischen Männer die wirkliche Entfaltung ihrer Persönlichkeit verhinderten.

  • · Berichte

    Marx feiern

    Den 200. Geburtstag des Weltveränderers begeht die junge Welt mit Artikeln, Vorträgen und Musik
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    Abschiedskonzert für Daniel Viglietti: Gina und Frauke Pietsch am 21. Februar 2018 in der Berliner Wabe

    Mit dem Nahen des 5. Mai nimmt die Präsenz des sonst totgeschwiegenen Karl Marx auch in den »Qualitätsmedien« regelmäßig sprunghaft zu. Bei seinem 200. Geburtstag geht das nicht. Neue Vereinnahmungstrategien feiern fröhlich Urständ. Als marxistische Tageszeitung sieht sich die junge Welt in der Pflicht, dem Substantielles entgegenzusetzen und Marx auf eine ihm angemessene Weise zu ehren. Journalistisch erfolgt das mittels einer in internationaler Medienkooperation entstandenen Beilage, einer Serie zu marxistischen Grundbegriffen sowie von Themaseiten. Alles im Zeitraum vom 28. April bis 5. Mai.

    Die junge Welt ist mehr als eine Tageszeitung: Das Medienprodukt wird mittlerweile von zahlreichen anderen Aktivitäten ergänzt. Zu diesem gehören die Rosa-Luxemburg-Konferenz, die jW-Ladengalerie und das Magazin für Gegenkultur Melodie&Rhythmus, um dessen Erhalt wir gerade kämpfen. Entsprechend ehren wir Marx auch mit eigenen künstlerischen Angeboten. Dazu gehört insbesondere das am 4. Mai im Chemnitzer »Weltecho« und am 5. Mai in der Berliner »Wabe« stattfindende Festprogramm »Karl Marx. Seiner Nützlichkeit wegen«. Die Künstlerinnen Gina und Frauke Pietsch werden mit ihrem literarisch-musikalischen Programm unterschiedlichste Facetten der Bedingungen, Triebkräfte und Wirkungen des Marxschen Lebenswerks nahebringen. In Berlin wird der Abend mit einer Rede des bekannten Journalisten und Schriftstellers Dietmar Dath eröffnet. Dort werden mittlerweile schon die Karten knapp. In Chemnitz ist die Situation noch nicht ganz so angespannt. Doch lohnt es sich für beide Veranstaltungen, jetzt rasch zu ordern. Darüberhinaus empfehlen wir die zahlreichen Marx-Veranstaltungen befreundeter Organisationen, bei denen jW-Mitarbeiter präsent sind, etwa in Trier. Dort wird am 4. Mai im Bürgerhaus Trier Nord jW-Thema-Chef Daniel Bratanovic im Rahmen der Konferenz »Marx hat Zukunft« seinen Vortrag »Der Marxismus, Wissenschaft des Klassenkampfes« halten.

    Einen Überblick über wichtige Veranstaltungen können Sie sich online über www.jungewelt.de/Marx200 verschaffen.

    Redaktion, Verlag und Genossenschaft

  • · Berichte

    Nicht schon wieder

    Ein italienischer Philosophielehrer hat ein eklektisches Potpourri über Marx geschrieben
    Daniel Bratanovic
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    Grünpflanzen ­wollen sorgsam gepflegt ­werden (aus dem Band Manfred Küchler: Wir Kinder vom Prenzlauer Berg. Fotografien 1970–1995. Bild und Heimat, Berlin 2018)

    Verlage, man hat sich längst daran gewöhnt, loben ihre Bücher in allerhöchsten, oft genug schrillen Tönen. Aus betriebswirtschaftlicher Perspektive ist das verständlich, schafft aber notwendig Gräben zwischen Verheißung und Lektüre. Manchmal klaffen Abgründe. Wenn von einem nicht einmal 100-Seiten-dicken, großzügig bedruckten Bändchen gesagt wird, es liefere »einen neuen Schlüssel zum Verständnis des ›Kapital‹«, sind Zweifel geboten. Wenn dann auch noch der Verfasser des Vorworts meint, »wir brauchen einen von Heidegger vermittelten Marx«, »wir müssen Marx auf Heidegger aufpfropfen«, wäre nach Maßgabe der Freiwilligkeit bereits auf Seite elf der Zeitpunkt erreicht, das Büchlein entkräftet aus der Hand fallen zu lassen. Doch versprochen ist versprochen, eine Rezension soll her.

    Diego Fusaro, den die italienische Tageszeitung La Repubblica als »vielversprechenden« europäischen Nachwuchsphilosophen ausgemacht hat, legt ein Bekenntnis zu Marx ab und findet vage, es könne »durchaus sinnvoll sein, von Marx ausgehend, neu zu beginnen«. Allerdings gibt es da ein Hindernis: »Zwischen uns und Marx steht der Marxismus«. Mit beiden verhält es sich nämlich wie folgt: hier »Kritik, Unvollständigkeit, Offenheit, Nicht-Systematik«, dort »Dogmatismus, Systematik, erklärende Ganzheitlichkeit«. Der Erbsünder heißt Engels, denn der war der »eigentliche Librettist der Oper namens Marxismus«, wie Paulus von Tarsus ein Religionsstifter und Kirchenbauer. Solcherlei Behauptung wird auch nach der hundertsten Wiederholung, sekundiert von der ganzen französischen Heideggerei, nicht besser. Aber einmal angenommen, in diesem Diktum schlummerte womöglich wirklich etwas Wahrheit, wäre schön gewesen, man erführe jenseits abstrakter Begriffe, worin denn nun das tatsächliche Problem am inkriminierten Ismus bestehen soll. Doch nichts davon. Statt dessen zielloses Metagerede.

    Der Philosophielehrer an der Mailänder Universität macht gelegentlich treffliche Feststellungen, kritisiert die Proteste der »Indignados« in Spanien 2011/12 als bloße moralische Empörung, blind gegenüber ökonomischen Fragen, und bezeichnet den westlichen »Wohlfahrtsstaat als aufgezwungene Antwort auf die Sozialpolitik des realen Kommunismus«. Durchzogen wird der Essay (es sind im Grunde zwei voneinander losgelöste Texte) dabei von schiefer Metaphorik und scheiternder Poesie. Wo angesichts der Abscheulichkeiten dieser Zeiten auf seiten der Unterdrückten allenthalben nur »fatalistische Trägheit der Köpfe«, »Gleichgültigkeit der Gedemütigten« und »geistlose Anpassung« anzutreffen ist, durchlebt die Menschheit »den nächtlichen Tag der Weltnacht«, »hat sich der Klassenkampf zum ›Klassenmassaker‹« gewandelt, und das »stumme Leiden der aus dem System Verbannten, das Hegelsche ›namenlose Elende‹, verwandelt in das Blut der Geschichte, die auf eine bloße Metzgertheke reduziert ist, bleiben dauerhaft entschärft und passiv«. Schuld daran trägt eine Linke, die »vom Kampf gegen das Kapital zum Kampf für das Kapital übergelaufen« ist, weil sie die »wahre Natur« ihrer Politik wirksam zu verschleiern vermag: »Das heutige ›soziale Gemetzel‹ (…) beruht auf der Tatsache, dass auf einer roten Metzgerschürze die Blutspritzer der Arbeiter und Rentner, der Leiharbeiter und Arbeitslosen weniger sichtbar sind.«

    Für das Hässliche gibt es den Jargon der Fleischerei, für das Schöne, Zukünftige den der Esoterik: Da ist die Rede von einem alternativen Weltbild, das »Funken« entzündet, von einem »Kernstück des Ideals«, das in einer »sich immer weiter ausdehnenden Wüste« eine »Blume« ist, »die niemals welken wird«, da ist »Streben«, das ein »Hafen« ist, den Erich Fromm die »Stadt des Seins« nennt, »ein unerforschter Kontinent der Zukunft«, der in schönster Tautologie »das unbekannte Land« bleibt, und schließlich ein »Tagtraum von der Emanzipation«, der »auch weiterhin Polarstern des Denkens und Handelns« sein soll. Dazwischen flirren und surren »Sinngebung«, »Pathos«, »Erlösung« und »Reich Gottes« durch den Text.

    Aus dem aphoristischen Geraune erklingen bei aller beschwörenden Eschatologie manchmal Halbsätze von unerwarteter Klarheit, wie etwa das Bekenntnis zu »einer gemeinschaftlichen, klassenlosen Gesellschaft, ohne Ausbeutung des Menschen durch den Menschen«, das allerdings rasch wieder eingetrübt wird. Das Ziel heißt bei Fusaro nicht Kommunismus, der als »realer« ruhmlos untergegangen sei, sondern ominös »kosmopolitischer Kommunitarismus als Wahrheit des gesellschaftlichen Lebens«.

    Dieser anzustrebende Zustand gibt eine Ahnung vom politischen Ort bzw. Nicht-Ort des Autors. Fusaro, in Italien Dauergast des Polittalks, ist Gründer der Kulturvereinigung »Interesse Nazionale«. In deren »Manifest« wird die Empfehlung ausgesprochen, den alten »Gegensatz von rechts und links« zu überwinden und die »rechten Werte« wie die »linken Ideen« anzunehmen: rechts Verwurzelung, Vaterland, Ehre, Treue, Familie und Ethik; links Emanzipation, soziale Rechte, gleiche materielle und formale Freiheit, Würde der Arbeit, demokratischer Sozialismus in Produktion und Vertrieb.

    Derzeit stehen die Werte von rechts wieder höher im Kurs. Fusaro hat ein feines Gespür dafür. In verschiedenen Beiträgen konstatiert er mit Heidegger, dem »verhöhnten und verspotteten Riesen«, die Entwurzelung durch Globalisierung, die »nichts anderes als die Universalisierung des amerikanischen Lebensstils« sei, beklagt den »Schuldkult« der Deutschen und findet, die von den »heimatlosen Herren des Kapitals« gewollte »Massenimmigration«, die viel eher »Massendeportation« heißen müsse, ersetze eine »angestammte Bevölkerung« mit »kultureller Identität« und einem »Gedächtnis für Klassenkonflikte und soziale Errungenschaften«, der mit Hilfe der »Genderideologie« erfolgreich eingeredet worden sei, die Ablösung der Sexualität von ihrer Zeugungsfunktion zu begrüßen, durch ein Heer gedemütigter, postidentitärer und grenzenlos ausbeutbarer Sklaven. So »vielversprechend« präsentiert sich derzeit Italiens Nachwuchsphilosophie.

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    Ideologische Abgründe

    Eine ärgerliche Edition von Vorlesungen Herbert Marcuses zeigt, dass dieser 1974 von Marx schon viel vergessen hatte
    Dirk Braunstein
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    Der Niedergang hat begonnen: Herbert Mercuse bereitete der Spätkapitalismus einiges Kopfzerbrechen (Podiumsdiskussion in Düsseldorf 1976)

    Nachdem 1879 eine neue Transkription der Tagebücher von Samuel Pepys erschienen war, sah sich Robert Louis Stevenson veranlasst, deren Herausgeber mitzuteilen, was er von dessen Eingriffen in die Textgestalt hielt: »Es gehört durchaus nicht zu den Pflichten des Herausgebers eines anerkannten Klassikers, darüber zu entscheiden, ob etwas ›die Geduld des Lesers überstrapazieren‹ könnte oder nicht. Entweder das Buch ist ein historisches Dokument,oder es ist es nicht«.

    Und so klingt das im Band »Kapitalismus und Opposition« mit Vorträgen Herbert Marcuses: »Wo notwendig, wurden unkommentiert einige Änderungen und ergänzende Notizen vorgenommen.« Fast abgesehen vom argen Deutsch: Wo erschien es den Herausgebern denn notwendig, welche Änderungen weshalb vorzunehmen? Welche Notizen wurden ergänzt? (Und was heißt das eigentlich?) »Aus Gründen der Präzisierung wurde ›Amerika‹ bzw. ›amerikanisch‹ durch ›USA‹ oder ›US-amerikanisch‹ ersetzt.« Natürlich nicht »oder«, sondern »bzw.«, aber davon abgesehen: weshalb denn? Ist der eingebildete Leser ein Unmündiger, dem der originale Text nicht zugemutet werden darf, weil er sonst die USA mit Paraguay verwechselte? »Die in den Texten verwendeten geschlechtsspezifischen Bezeichnungen schließen prinzipiell alle unterschiedlichen Geschlechtszuschreibungen ein.« Auch dort, wo Marcuse von der »Opposition in der Emanzipationsbewegung der Frauen« spricht? Die Herausgeber hätten gut daran getan, auf derlei Paternalismen zu verzichten. Stattdessen wählten die Verantwortlichen einen Weg der Rezeptionslenkung, auf dem keiner, der selbst denken und urteilen möchte, recht froh werden dürfte.

    Dass die Publikation kaum plausibel als eigenständige für sich einstehen kann, erhellt aus der Tatsache, dass von übersichtlichen 151 Seiten lediglich 64 den Text jener sieben Vorträge bieten, die der Untertitel – ohne dass die Benennung sich irgendwo und -wie legitimierte – als »Vorlesungen zum eindimensionalen Menschen« ausweist. (Der Rest ist, bis auf ein Interview, Material Dritter.) Tatsächlich hatten die Vorträge, die Herbert Marcuse im Frühjahr 1974 an der Pariser Universität Vincennes hielt, sofern wir die übers Buch verteilten editorischen Hinweise (von »Nachweisen« lässt sich leider nicht sprechen) recht verstehen, weder jeweils noch insgesamt Überschriften. Es wäre, um der Redlichkeit den Lesern gegenüber willen, nicht vollends abwegig gewesen, einen deskriptiven Titel zu wählen – wie mit der Vorlage, der englischen Übersetzung der französischsprachigen Manuskripte, »Paris Lectures«, akkurat verfahren wurde.

    »Persönliche Eindrücke aus Amerika« hätte es übrigens auch getan. Denn was Marcuse seiner Hörerschaft zumutet, sind weniger »Argumente aus den 1960er Jahren und 1970er Jahren, die auch für die heutigen Diskussionen über Kapitalismus und Opposition Anknüpfungspunkte bieten«, wie die Herausgeber wähnen, sondern vornehmlich meinungsstarke Einverständniserklärungen mit dem zeitgenössischen Nonkonformismus. An allen Ecken heißt es: »meiner Meinung nach«, »ich denke«, »ich tendiere dazu«, »ich glaube« und: »Die Vereinigten Staaten, wenn auch das Gesamtbild der US-amerikanischen Gesellschaft heute variiert, repräsentieren für mich die höchste Stufe in der Entwicklung des Monopolkapitalismus. Der ungewöhnlich hohe Grad an sozialer Kohäsion, Integration, der hohe Grad an allgemeiner Unterstützung für das etablierte System. Nicht der Regierung, aber des Systems selbst. Und dieser hohe Grad an sozialer und verbreiteter Kohäsion besteht, während die ökonomischen und politischen Schwierigkeiten des US-Kapitalismus zunehmen.« Allerdings waren ökonomische und politische Schwierigkeiten, wie immer sie auch aussahen, noch nie solche des Kapitalismus als sich selbst erhaltende Gesellschaftsform, sondern menschenvernichtende Geschäftsgrundlage des Ganzen. Marcuse stellt hingegen pseudoverblüfft fest, in den USA gebe es »keine radikale Opposition, fürwahr, auf Massenbasis. Es gibt noch nicht einmal ein Äquivalent zu, sagen wir, der britischen Labour-Party und der sozialdemokratischen Partei in Deutschland.«

    Und über soviel Zutrauen in die Selbsteinhegungskräfte der Gesellschaft in Richtung Kapitalismus mit menschlichem Antlitz haben wir recht herzlich lachen müssen. Doch der Glaube an das Gute im Schlechten hat damit noch kein Ende: »Schlussendlich glaube ich, dass die Revolution des 20. Jahrhunderts, wenn sie kommen sollte, dass diese Revolution die radikalste und umfassendste der gesamten Geschichte sein wird, dass es nicht nur eine politische und ökonomische, sondern auch eine kulturelle Revolution in dem Sinne sein wird, dass sie sie« – steht da so! – »einige der grundlegendsten Werte unserer Gesellschaft transformieren, angreifen wird.« Wenn die Revolution kommt, dann kommt sie; wenn nicht, nicht.

    Die Einseitigkeit, mit dem Marcuse sich dem Kapitalverhältnis nähert, führt zuweilen in ideologische Abgründe. So heißt es gleich im ersten Vortrag mit Blick auf die USA: »Wenn es unmöglich ist, ein Kandidat für die Präsidentschaftswahlen zu werden, ohne das Glück zu haben, eine Million Dollar zu besitzen, ist dies in jedem Fall eine seltsame Form von Demokratie.« – Ganz falsch ist die Aussage freilich nicht; es ist schlimmer: Sie ist insofern halb wahr, als der Verweis auf den immanenten Zusammenhang von Kapitalismus, eigentlich Marcuses Thema, und moderner Demokratie fehlt. Deshalb kann ihr heute jeder AfD-Anhänger zustimmen, um im nächsten Zug Merkel, die kein Kapital mitbringen musste, um Bundeskanzlerin zu werden, bloß unbedingten Gehorsam ihm gegenüber, als »Volksverräterin« gehängt sehen zu wünschen.

    Auf Überraschungen müssen sich die Leser der Vorträge nicht gefasst machen; gegessen wird, was auf den Tisch kommt: »In gewisser Weise partizipieren die Menschen tatsächlich an der Gestaltung der Gesellschaft. Die Menschen können tatsächlich ihren Willen ausdrücken, der aber nicht mehr ihr Wille ist, sondern durch die herrschende Klasse und ihre Werkzeuge zu ihrem Willen gemacht wurde.« Es ließe sich zwar füglich fragen, wessen Willen die herrschende Klasse denn notgedrungen zu dem ihren machen muss, aber immerhin macht sich hier noch so etwas von jener Dialektik im Denken geltend, auf die vollends verzichtet wird, wenn es schließlich mit der Revolution im 20. Jahrhundert hinhauen soll: »Es gibt Anzeichen dafür, dass immer mehr Menschen nicht mehr an das glauben und in Übereinstimmung mit dem handeln, was als systemerhaltende Werte bezeichnet werden kann, auf denen die ununterbrochene Existenz des kapitalistischen Systems basiert. Wenn Menschen nicht mehr an den Werten festhalten, die das System am Laufen halten, hat der Niedergang begonnen.«

    Wenn das mal stimmt! – Mit Marx, auf den sich Marcuse ausführlich bezieht, und mit Kritischer Theorie, als deren Vertreter er weiterhin gilt, hat dieser krud idealistische Glaube an die systemerhaltende Kraft irgendwelcher sogenannten Werte jedenfalls nichts zu tun.

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    Arbeit, Ausbeutung und die Aktualität von Marx: Die neue Z.

    Arnold Schölzel
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    Intensivierung von Arbeit mit Hilfe neuer Technik: Die Digitalisierung ist nichts, was irgendwann in der Zukunft akut wird, sie entfaltet ihre Wirkung längst in der Gegenwart

    Sogenannte Picker sammeln in Amazon-Lagern Waren ein und bringen sie zu den Packstationen. Den Weg zu den Produkten finden sie mit Hilfe von Handscannern, die zugleich Bewegungsprofile von ihnen speichern. Die Arbeitsweise sei »mit mobilen Fließbändern« vergleichbar. Jede »außerplanmäßige Verschnaufpause« wird dem Management angezeigt, dem eröffnet sich so durch die Digitalisierung »die Ausübung betrieblicher Herrschaft in bisher ungeahntem Ausmaß«. Marcus Schwarzbach illustriert mit diesen Zitaten aus einer sozialwissenschaftlichen Studie in der neuen Z. Zeitschrift marxistische Erneuerung, was er »Ausbeutung 4.0« nennt, genauer die Intensivierung von Arbeit mit Hilfe neuer Technik. Die Digitalisierung ist nichts, was irgendwann in der Zukunft akut wird, sie entfaltet ihre Wirkung längst in der Gegenwart.

    Schwarzbachs Beitrag ist einer von sechs zum Heftschwerpunkt »Marx 200: Arbeit und Ausbeutung«. Die Texte gehen der Frage nach, ob die von dem Philosophen und Ökonomen geprägten Begriffe noch aktuell sind, und beantworten sie überzeugend mit ja. So zeigt Klaus Müller unter dem Titel »Ausbeutung und Einkommensverteilung«, dass steigende Profite, erhöhte Mehrwertrate und sinkende Lohnquoten keine Angelegenheit des 19. oder 20. Jahrhunderts sind, sondern der Gegenwart. Er weist darauf hin, dass in der Bundesrepublik der Lohnanteil am jährlichen Volkseinkommen von 1950 bis 1980 stieg und seitdem wieder gesunken ist. So lassen sich fast vier Jahrzehnte im Zeichen der neoliberalen Umverteilung von unten nach oben zusammenfassen. Müller zeigt außerdem, dass die darin zum Ausdruck kommende verstärkte Ausbeutung zugleich vereinbar ist »mit einer Hebung des materiellen Wohlstands der Arbeiter«, auch mit einer Steigerung der Reallöhne.

    Erik Olin Wright legt dar, beim Begriff Ausbeutung handele es sich »um einen besonderen Typ von antagonistischer gegenseitiger Abhängigkeit der materiellen Interessen von Akteuren innerhalb ökonomischer Beziehungen«. Er schlägt vor, davon »nichtausbeuterische Unterdrückung« zu unterscheiden, etwa auf sexuellem und kulturellem Gebiet. Der ökonomische Ausbeuter sei vom Ausgebeuteten abhängig, der sexuelle nicht. Außerdem: Harald Werner untersucht an Hand der Begriffe »Lohnsklave« und »Abeitskraftunternehmer« den strukturellen Wandel kapitalistischer Ausbeutung. Heinz-Jürgen Krug und Rolf Schmucker befassen sich mit deren aktuellen Erscheinungsformen in heutigen Hochtechnologiefirmen.

    In der Rubrik »Arbeitskämpfe« analysieren u. a. Robert Sadowsky und Isa Paape den Tarifkonflikt in der Metallbranche. Paape fordert, gegen das Ansinnen der deutschen Unternehmer auf Verlängerung der gesetzlichen Arbeitszeit über den Gewerkschaftskampf hinaus politisch in die Offensive zu gehen und ein Arbeitszeitgesetz zu verlangen, das etwa die Wochenarbeitszeit auf 40 Stunden und nicht auf 60 Stunden wie jetzt begrenzt. Thomas Kuczynski steuert einen Diskussionsbeitrag zur Weiterentwicklung der Marxschen Werttheorie bei. Historisches, Systematisches und Gegenwärtiges zur Aktualität von Marx sind in diesem Heft in besonders gelungener Weise gebündelt.

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    Gedenken an Karl Marx verfassungsfeindlich?

    Hessischer Geheimdienst bringt neue »Beweise« gegen die Antifaschistin Silvia Gingold vor
    Wiebke Diehl
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    Silvia Gingold am 12. Januar 2017 vor dem Justizzentrum in Wiesbaden. Damals, vor gut einem Jahr hatte sie ihre Klage gegen ihre Überwachung durch den sogenannten Verfassungsschutz eingereicht

    Silvia Gingold wehrt sich gegen ihre Bespitzelung durch Beamte des hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz (LfV) – bislang vergeblich. Im Oktober hatte das Verwaltungsgericht Kassel ihre Klage auf Beendigung ihrer geheimdienstlichen Beobachtung und auf Vernichtung der entsprechenden Aktenbestände abgewiesen (siehe jW vom 11.10.2017). Gingold hat gegen diese Entscheidung Berufung eingelegt. Jetzt hat das LfV in Reaktion darauf neue »Beweise« vorgelegt, um das Gericht zu einer Abweisung des Antrags zu bewegen. Verfahrensmängel habe es selbstverständlich nicht gegeben, legt der Beklagte auf mehreren Seiten dar. Vielmehr könne man in einem etwaigen Berufungsverfahren noch »weitere, die extremistischen Bestrebungen der Klägerin belegende Tatsachen vortragen (…)«. Nur ein Beispiel sei deren Rede auf einer Veranstaltung anlässlich des 199. Geburtstags von Karl Marx im vergangenen Jahr auf einem öffentlichen Platz in Kassel.

    Das LfV wirft Gingold ihre Aussagen über die Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ) auf dieser von dem damaligen Bundestagsabgeordneten Wolfgang Gehrcke (Die Linke) organisierten Veranstaltung vor. Gehrcke hatte die Veranstaltung organisiert. Gingold hatte in ihrer Rede darauf verwiesen, dass die SDAJ aus den sozialen Bewegungen der 68er entstanden sei, Schüler und Lehrlinge »für bessere Bildung und Ausbildung, für demokratische Rechte in Schule und Betrieb sowie für antimilitaristische und antifaschistische Aktionen mobilisiert« habe. Gingold weiter: »Als marxistische Jugendorganisation stritt sie, und sie tut es bis heute, für eine sozialistische Alternative zum kapitalis­tischen System.« Eben diese Aussage bestätige die Einschätzung des Verwaltungsgerichts, wonach sich »eine Zäsur in den Aktivitäten der Klägerin nicht feststellen lasse«, heißt es in der Stellungnahme des Inlandsgeheimdienstes. Und weiter: Die Klageabweisung vom Oktober anzufechten sei keinesfalls erfolgversprechend, denn die Klägerin verkenne, »dass die Bejahung der von ihr ausgehenden extremistischen Bestrebungen nicht allein auf ihre Betätigung für die VVN-BdA (Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten, d. Red.) zurückgeht, sondern auch auf Verhaltensweisen im Kontext weiterer linksextremistischer bzw. linksextremistisch beeinflusster Organisationen wie namentlich der DKP, der SDAJ und der Unsere Zeit«.

    Silvia Gingold ist Tochter der antifaschistischen Widerstandskämpfer Etti und Peter Gingold. Sie engagiert sich seit Jahrzehnten in der Friedensbewegung, gegen Neonazis und Rassismus sowie gegen Berufsverbote, von denen sie selbst betroffen war. Sie werde weiter gegen die Bespitzelung ihrer Person durch das LfV vorgehen und sich nicht durch dessen neue »Beweise« für ihre »linksextremistischen Bestrebungen« einschüchtern lassen. »Dieser Inlandsgeheimdienst, der selbst zutiefst verstrickt ist in die Unterstützung des terroristischen NSU, täte gut daran, gegen die Bedrohung durch den Rechtsterrorismus vorzugehen, anstatt einen immensen Aufwand zu betreiben, Bürgerinnen und Bürger, die sich gegen Rassismus und Nationalismus zur Wehr setzen, zu bespitzeln«, sagte Gingold am Dienstag im Gespräch mit jW.