75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Gegründet 1947 Donnerstag, 21. November 2024, Nr. 272
Die junge Welt wird von 2993 GenossInnen herausgegeben
75 Ausgaben junge Welt für 75 € 75 Ausgaben junge Welt für 75 €
75 Ausgaben junge Welt für 75 €
Marx 200

Marx 200

Am 5. Mai 1818 wurde Karl Marx geboren – gemeinsam mit seinem Freund Friedrich Engels sollte er Weltgeschichte schreiben. Marx lebte in der Zeit des entstehenden Kapitalismus. Die Analyse der Entfesselung der Produktivkräfte bildet sein wissenschaftliches Hauptwerk. Die Überwindung dieser zutiefst unvernünftigen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung war das Hauptinteresse des Politikers und Revolutionärs.

  • · Hintergrund

    Marx als Produkt

    Welche Wandlungen erfuhr das Denken des vor 200 Jahren geborenen Philosophen und Kritikers?
    Georg Fülberth
    94078424.jpg
    Nach dem Ende der sozialistischen Staaten waren jene, die sich auf Marx (5.5.1818–14.3.1883) beriefen, ziemlich weit unten angekommen. Ohne Beachtung von dessen Einsichten wird aber die notwendige Veränderung der Weltverhältnisse nicht zu machen sein (Graffito in Berlin)

    Am vergangenen Sonnabend sprach Georg Fülberth im Anschluss an die Jahresmitgliederversammlung der Marx-Engels-Stiftung in Wuppertal zum Thema »200 Jahre Karl Marx«. Wir dokumentieren von dieser Rede den zweiten Teil. Das vollständige Referat wird im Heft 3/2018 der Marxistischen Blätter, das Ende April/Anfang Mai erscheint, veröffentlicht werden. (jW)

    Marx und Engels haben einen großen Fundus von Einschätzungen hinterlassen, die auf ihren eigenen Erfahrungen beruhten. Die nächste Generation von Marxistinnen und Marxisten konnte sich der von ihnen entwickelten Methode bedienen, aber ihre eigene Politik konnte sie nur gemäß der sich weiter wandelnden kapitalistischen Wirklichkeit betreiben. Es bildete sich dabei eine Orthodoxie heraus, bei der von Marx und Engels überkommene Denkfiguren dazu benutzt wurden, eigene neue Sichtweisen zu legitimieren.

    Rosa Luxemburg befand, dass die von Marx hypothetisch vorgenommenen harmonischen Austauschverhältnisse zwischen Produktionsmittel- und Konsumgüterindustrie entgleisen müssten, sobald man einige Variabeln wirklichkeitsnäher änderte, und gelangte schließlich zu dem Ergebnis, dass Kapitalismus Überakkumulation bedeute. Dies traf sich mit ihrer Beobachtung des zeitgenössischen Imperialismus mit seinem Waren- sowie Kapitalexport und der daraus resultierenden Tendenz zum Krieg. Erst infolge dieser Wahrnehmung, kombiniert mit Beibehaltung und Modifikation der Marxschen Reproduktionsschemata, schrieb sie ihr Buch »Die Akkumulation des Kapitals« von 1913. Um es mit einer Formulierung des ganz jungen Marx zu sagen: Die Wirklichkeit drängte zum Gedanken.

    Anders ging der Kinderarzt Rudolf Hilferding mit dem Verhältnis von Empirie und Theorie um. In seinem Buch »Das Finanzkapital« von 1910 schilderte er die jüngere ökonomische Entwicklung, wie sie immerhin schon Engels in Ansätzen hatte kommen sehen: Monopolisierung von Industrie und Bankkapital, deren wechselseitige Durchdringung zum Finanzkapital. Das waren Tatsachen. Sie stimmten mit dem überein, was Hilferding in Marx’ Ausführungen über die Zentralisation des Kapitals, über die Aktiengesellschaften und – im dritten Band des »Kapital« – über das Geldhandlungskapital und das fiktive Kapital gefunden hatte. Diese Vitalisierung von Marxschen Überlegungen wäre ohne die korrekt aufgefasste Evidenz zeitgenössischer Erscheinungen wohl nicht erfolgt – und umgekehrt wäre ihm deren Interpretation ohne Marx gewiss auch nicht gelungen.

    Zeitalter der Katastrophen

    Diese neue Wirklichkeit, die Hilferding und Luxemburg beschrieben, war das, was mehrere Jahrzehnte später Eric Hobsbawm als das Zeitalter der Katastrophen (1914–1945) bezeichnete: zwei Weltkriege, einer von ihnen ein Vernichtungskrieg mit dem Versuch der Ausrottung der jüdischen Bevölkerung Europas, eine Weltwirtschaftskrise, Faschismus. Es war aber nicht nur ein Zeitalter der Katastrophen, sondern auch des Versuchs der Abwehr dieser Katastrophen: die russische Oktoberrevolution, die Entstehung des Staatssozialismus. Hier haben wir eine ganz andere gesellschaftliche Realität als in der Zeit von Marx und Engels. Für die Marxisten dieses neuen Zeitalters blieben materialistische Geschichts- und Gegenwartsauffassung zwar leitend, in ihrer politischen Praxis trat aber nun die Kritik der politischen Ökonomie hinter die Theorie der Politik zurück.

    Es gab eine Ausnahme: Dass Henryk Grossmanns Buch »Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems« ausgerechnet 1929, im Jahr des Beginns der Weltwirtschaftskrise, erschien, mag ein Zufall gewesen sein. Es war schon vorher erarbeitet worden, und zwar wieder einmal in Auseinandersetzung mit den Reproduktionsschemata des zweiten Bandes des »Kapital«. Aber es passte in die Zeit und hatte den Untertitel: »Zugleich eine Krisentheorie«. Eine operative politische Bedeutung hatte es nicht. Es war die Zeit der politischen, nicht in erster Linie der ökonomischen Analyse und Praxis.

    Der italienische Kommunist Antonio Gramsci bezeichnete die Oktoberrevolution sogar als »eine Revolution gegen das ›Kapital‹« – gemeint war das Marxsche Buch. Die Revolution war nicht in einem hochentwickelten kapitalistischen Land ausgebrochen, in Russland bildete nicht das Proletariat, sondern die Bauernschaft die Mehrheit der Bevölkerung. Und Mitte der 1920er Jahre begann der lange Prozess der chinesischen Revolution, zwar geführt von einer Kommunistischen Partei, aber mit der Massenbasis unter den Bauern. Alle erfolgreichen großen Revolutionen – von der englischen 1640–1688 über die französische 1789 ff. bis zur russischen und chinesischen – hatten Analphabeten als Massenbasis, was den unmittelbaren Einfluss gedruckten aufwieglerischen Gedankenguts wohl relativieren dürfte.

    Mao hat Marx und Engels weniger zitiert als die chinesischen philosophischen Klassiker. Lenin bezog sich in seiner Schrift »Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus« (1917) nur indirekt, über Hilferding, auf Marx, empirisch aber auf einen Sozialliberalen, John A. Hobson. Dagegen revitalisierte er gleich anschließend die Auffassungen von Marx und Engels zur Theorie des Staates und der Notwendigkeit seiner Zerschlagung: in seiner 1917 verfassten, 1918 veröffentlichten Schrift »Staat und Revolution«. Auf den ersten Blick liest sie sich wie die philologische Arbeit eines Schriftgelehrten: Lenin hatte alle Äußerungen von Marx und Engels über den Staat gesammelt. Dass er diese Rekonstruktion ihrer älteren Auffassungen vornahm, hatte aber einen aktuellen Anlass: Sie waren gleichsam der Anhang zu seinen Aprilthesen von 1917, in denen er die Beendigung der Doppelherrschaft von Provisorischer Regierung und Räten zugunsten der letzteren forderte.

    Lenins Aktualisierung der Staatstheorie von Marx und Engels lenkte die Aufmerksamkeit auf die Notwendigkeit, das umzuwälzen, was diese beiden den »Überbau« genannt hatten. Dazu gehörte nicht nur der Staat, sondern auch die Gesamtheit der Bewusstseinsformen, einschließlich der Philosophie. »Marxismus und Philosophie«: Dies war der Titel einer Schrift von Karl Korsch aus dem Jahr 1923, in der er mit der eher behäbig beschreibenden Form des historischen Materialismus nach dem Tod von Marx und Engels brach und dessen Dynamisierung nach dem Vorbild und in Fortbildung der revolutionären Schriften dieser beiden Theoretiker aus den 40er und frühen 50er Jahren des 19. Jahrhunderts zurückkehren wollte. Gramsci entwickelte eine Theorie nicht der Ökonomie, sondern der Politik, Georg Lukács eine Theorie des Klassenbewusstseins. Ernst Blochs Schrift über Thomas Müntzer nahm das Thema von Friedrich Engels’ Schrift über den deutschen Bauernkrieg von 1850 wieder auf. Mit Bloch, Korsch und Lukács äußerten sich bisher bürgerliche Intellektuelle, die durch den Ersten Weltkrieg erschüttert, durch die Oktoberrevolution zu Revolutionsenthusiasten geworden waren und sich dadurch auf Schriften von Marx und Engels verwiesen sahen, die in einer früheren revolutionären Situation entstanden waren. Die Empirie ihrer Zeit machte sie zu Marxisten.

    Beim Aufbau des Sozialismus in Sowjetrussland gab es dagegen kaum die Möglichkeit eines solchen Rückgriffs auf bereits vorliegende Theoriestücke. Ökonomisches von Marx und Engels, woran man hätte anknüpfen können lag hier kaum vor, sieht man von Marx’ Kritik des Gothaer Programms sowie einigen Nebenbei-Bemerkungen über geplante Wirtschaft ab. Hier musste Neuland beschritten werden. Die sowjetischen Ökonomen taten dies und konnten sich dabei letztlich auf die Marxsche Arbeitswertlehre in der von ihm hinterlassenen unfertigen Form nicht in der Weise stützen, dass daraus ausreichende praktische Konsequenzen hätten gezogen werden können – ein Grund unter mehreren anderen für das Scheitern dieses Sozialismustyps. Unter Stalin wurden Marx und Engels immer wieder genannt und zitiert, aber dies hatte ausschließlich ideologiepolitischen Charakter zur Legitimierung eines nicht abgebauten, sondern neu errichteten starken Staats.

    In der Selbstrechtfertigung der sozialistischen Länder wurde viel von der Diktatur des Proletariats geredet. Der Begriff stammte ursprünglich nicht von Marx und Engels. Sie hatten ihn nur gelegentlich benutzt: als Metapher für das Ende bürgerlicher Herrschaft. Das war bei ihnen ein kritischer Begriff gewesen: die Negation des bürgerlichen Staates. Jetzt wurde er affirmativ: eine Legitimierung der Herrschaft des Apparats. Marx und Engels hätte das gewiss nicht gepasst. Der 1927 begonnene erste Versuch einer Marx-Engels-Gesamtausgabe ist unter Stalin abgebrochen worden, der Herausgeber Dawid Rjasanow und andere Mitarbeiter an diesem Unternehmen wurden ermordet.

    Unter dem Eindruck der Perversion des Sozialismus im Stalinismus und der faschistischen Katastrophe der Zivilisation unternahm das aus Frankfurt am Main in die USA vertriebene Institut für Sozialforschung u. a. mit Theodor W. Adorno und Max Horkheimer eine Art Entmaterialisierung der dialektischen Theorie: als eine Kritik des Bestehenden ohne die Aussicht auf eine aktuelle praktische Umwälzung. Das war in gewisser Weise eine Rückkehr zum Linkshegelianismus ohne zentrale Stellung des Proletariats und ohne linearen Fortschrittsoptimismus, man kann auch sagen: unter Verzicht auf eher bedenkliche Teile des Erbes von Marx und Engels. Der Begriff, der sich hierfür durchsetzte, hieß Kritische Theorie. Sein Preis war allerdings auch das Fallenlassen der elften These über Feuerbach: Philosophen interpretierten die Welt und waren erschrocken über die Ergebnisse kontraproduktiven Handelns, die zu Inhalten ihrer Erfahrung wurden.

    Mit der Ausdehnung des sowjetischen Einflussbereiches bis nach Mitteleuropa, der chinesischen Revolution, der einsetzenden Entkolonisierung und einer Teilplanung auch im Kapitalismus, zunächst in den Kriegswirtschaften 1914–1918 und 1939–1945 hatten Umwälzungen aber tatsächlich stattgefunden. Nun begann eine neue Periode.

    Kalter Krieg und Wohlfahrtsstaat

    In dieser Zeit erreichte das Werk von Marx und Engels weltweit seinen höchsten Bekanntheitsgrad, dies allerdings in sehr verschiedenen Formen: In den Ländern des sowjetischen Einflussbereiches, aber auch in China war der Marxismus-Leninismus Legimitationsideologie der bestehenden Staatsmacht. Soweit er ein Instrument der Kritik war, geschah dies auf zweierlei Art und Weise: erstens in der offiziellen staatlichen Propaganda als Waffe in der Auseinandersetzung mit dem kapitalistisch gebliebenen Teil der Welt. Zweitens haben sozialistische Dissidentinnen und Dissidenten Marx auch gegen die Praxis der Länder, in denen sie lebten, zu wenden versucht. Ein Aspekt der staatlichen Praxis im Osten war aber immerhin auch, dass seit den 70er Jahren zum zweiten Mal eine historisch-kritische Marx-Engels-Gesamtausgabe zu erscheinen begann, organisiert von den Instituten für Marxismus-Leninismus bei den Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Aus der DDR kamen außerdem die blauen Bänden der Marx-Engels-Studienausgabe (MEW).

    In den Entkolonisierungbewegungen war neben dem Nationalismus oft auch ein antiimperialistischer Bezug auf den Marxismus wirksam – als eine Legitimationsideologie ihres Kampfes. Gleiches gilt für die chinesische, die kubanische und die vietnamesische Revolution.

    Das Bildungswesen mancher hochentwickelter kapitalistischer Länder förderte die Kenntnis des historischen Materialismus im Zuge einer Art von Feinderkundung. In den USA und in der Bundesrepublik wurde er erforscht, Schul- und akademischer Unterricht sollten vor ihm warnen und machten ihn dadurch oft erst bekannt. Besondere Aufmerksamkeit richtete sich auf die Marxschen Frühschriften. Sie schienen geeignet, gegen den Staatssozialismus gewendet werden zu können. Die Hoffnung junger Intellektueller im Westen, dass sie ein Potential enthielten, mit dem die kapitalistischen Verhältnisse durch den jungen Marx zum Tanzen gebracht werden könnten, schreckte die offizielle bürgerliche Kulturpolitik nicht: Die Evidenz eines stabilen Wohlfahrtskapitalismus erschien ihr – wie einst Eduard Bernstein – eine Widerlegung des ökonomischen Marx und seiner Revolutionstheorie durch Erfahrung.

    Von Marx blieb die Wertform-Analyse, deren Rekonstruktion sich, von Adorno ermutigt, Hans Georg Backhaus widmete. Die strukturalistische »Kapital«-Lektüre von Louis Althusser entsprach der – scheinbaren oder tatsächlichen – Bewegungslosigkeit der gesellschaftlichen Situation. Gleiches gilt für das Anwachsen des Einflusses der Kritischen Theorie des nach Frankfurt am Main zurückgekehrten Instituts für Sozialforschung.

    Eine Weiterentwicklung der Kritik der Politischen Ökonomie stellte die von der DDR und der Französischen Kommunistischen Partei (hier vor allem von Paul Boccara, 1932–2017) ausgehende Theorie des Staatsmonopolistischen Kapitalismus dar. Sie erklärte die Ursachen der relativen Stabilität der bürgerlichen Gesellschaft in den am weitesten entwickelten kapitalistischen Ländern, reagierte also auf die gleichen Umstände wie die Neue Marx-Lektüre Althussers und die Frankfurter Kritische Theorie. Dagegen ging der trotzkistische Theoretiker Ernest Mandel in seiner Analyse des krisenträchtigen Kapitalismus von dessen fortbestehender revolutionärer Erschütterbarkeit aus.

    In der Intellektuellenrebellion von 1968 schien sich dies zu bestätigen. Sie bezog sich teilweise auf Marx, aber auch auf Bakunin. Die Streikkämpfe vom Ende der 1960er und in der ersten Hälfte der 70er Jahre schienen dem klassischen Arbeiterbewegungsmarxismus zu entsprechen. »Kapital«-Lesekreise vor allem von Studierenden suchten Erklärungen für das unmittelbar Wahrgenommene. Die Einführungen von Wolfgang Fritz Haug in Marx’ Werk waren einflussreich.

    Mit dem Erlöschen der Arbeiterkämpfe in den Metropolen ab 1975 sah sich der französische Sozialtheoretiker André Gorz veranlasst, den »Abschied vom Proletariat« auszurufen. Einen anderen Abschied oder Teilabschied formulierten marxistische Feministinnen – in Deutschland wohl zuerst Christel Neusüß –, deren Meinung nach das Geschlechterverhältnis außerhalb der Marxschen Kritik der Politischen Ökonomie blieb. Die Kritik des Patriarchats in Engels’ Schrift »Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats« von 1884 hätte einer kritischen Fortschreibung aufgrund neuer Forschungsergebnisse und der Situation am Ende des 20. Jahrhunderts bedurft, was vorerst unterblieb.

    Gleiches galt für folgendes Problem: »Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.« (MEW 23: 529/530.) Das hier schon von Marx angesprochene Mensch-Natur-Verhältnis war jetzt zu einem allgemein als drängend wahrgenommenen Problem geworden, wurde aber erst ansatzweise historisch-materialistisch bearbeitet.

    Wir beobachten hier Phänomene der Abwendung und Ermüdung, die nichts mit den Texten von Marx und Engels oder ihrer Denkweise zu tun haben, sondern mit einem mittlerweile eingetretenen gesellschaftlichen Kräfteverhältnis, das deren Rezeption und Weiterentwicklung als aus der Zeit gefallen erscheinen ließ. Auch die Rehabilitation der seit dem Erscheinen des »Kapital« hoch umstrittenen Marxschen Arbeits- und Mehrwerttheorie durch das 1983 erschienene Buch »Laws of Chaos« von Emmanuel Farjoun und Moshé Machover war in dieser Situation für die Katz.

    Wenn in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts von einer Krise des Marxismus die Rede war, konnte dies zweierlei bedeuten: Krankheit zum Tod oder Neubeginn. Der Untergang des Staatssozialismus ab 1989 veränderte die Szenerie, bevor über diese Alternative in den Metropolen des Kapitalismus entschieden war. Damit sind wir dicht an die Gegenwart herangekommen.

    Nach 1989

    Jetzt erschien Marx in einigen ehemals sozialistischen Ländern als ein verbotswürdiger Irrlehrer, in den manchmal milder gestimmten altkapitalistischen Metropolen eher als ein abgetaner Theoretiker des 19. Jahrhunderts, dessen Werk allenfalls als ein interessantes und ungefährliches Produkt behandelt werden konnte. Hierher gehören die Entscheidung der UNESCO von 2013, das »Manifest der Kommunistischen Partei« und den ersten Band des »Kapital« zum Weltkulturerbe zu erklären – wie die Himmelsscheibe von Nebra – und der Film »Der junge Karl Marx« von 2017.

    Einer solchen Verharmlosung ist es immerhin auch zu verdanken, dass die historisch-kritische Marx-Engels-Gesamtausgabe gerettet werden konnte: Sie erscheint mit staatlicher finanzieller Förderung der Bundesrepublik weiter. Bedingung war eine Akademisierung ihres Gegenstandes, der vielleicht wie eine Flaschenpost wirken kann, die sich in Zukunft wieder entkorken lässt.

    Es könnte scheinen, als habe diese Zukunft bereits begonnen. Mit dem Ende des Staatssozialismus sind Marx und Engels ausschließlich wieder an ihrer alten Wirkungsstätte positioniert: im höchstentwickelten Kapitalismus. Dessen Zustand spiegelt sich darin, dass ganz bestimmte Aussagen ihres Werks hochaktuell erscheinen. Die sogenannte Globalisierung wird bereits im »Manifest der Kommunistischen Partei« beschrieben, die Krisentheorie bereits in den »Umrissen zu einer Kritik der Nationalökonomie« von Engels, vollends aber im »Kapital«, und ist durch die vielfältigen Wirtschaftskrisen nach 1989 bestätigt, der finanzmarktgetriebene Kapitalismus lenkt die Aufmerksamkeit auf die Analyse des zinstragenden Kapitals im dritten Band. Und selbst der Sturz des Staatssozialismus kann als Bestätigung einer Marxschen These gelesen werden, nämlich der Aussage im Vorwort von »Zur Kritik der Politischen Ökonomie« von 1859, dass Produktivkräfte Produktionsverhältnisse sprengen können, die zu eng für sie geworden sind. Allerdings handelte es sich um bisherige staatssozialistische, nicht kapitalistische Verhältnisse – wieder einmal Erfahrungstatsachen, die nicht gegen, sondern für Marx sprachen.

    Nach dem von Farjoun und Machover 1983 erzielten Durchbruch erschienen mehrere logisch stringente und empirisch belegte Bestätigungen und Weiterentwicklungen der Arbeits- und Mehrwertlehre von Karl Marx. Sie verwarfen das Konstrukt der Durchschnittsprofitrate im dritten Band des »Kapital«, hielten dagegen die Argumentation des ersten Bandes für ausreichend. W. Paul Cockshott und Allin Cottrell haben unter dem Titel »Alternativen aus dem Rechner« auf dieser Grundlage einen Vorschlag »für sozialistische Planung und direkte Demokratie« unterbreitet. Anders als Marx verfügten sie zwar über 1. eine Mathematik, die es erlaubte, den Arbeits- und Mehrwert korrekt zu modellieren, 2. weitaus umfangreicheres statistisches Material, 3. Instrumente einer digitalisierten Planung. Solange aber das Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse fehlt, das die Realisierung eines solchen Projekts unabdingbar macht, bleibt es eine Kopfgeburt wie einst die Entwürfe Wilhelm Weitlings – wie denn überhaupt die jetzt aktuell gewordene Rehabilitation utopischer Vorstellungen als eine Art Umkehrung eines einst von Friedrich Engels bezeichneten Weges erscheint: anstelle seiner »Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft« geht der Weg nun von einer als nicht ausreichend wahrgenommenen Realisierung von der Wissenschaft hin zur Utopie. Gleiches gilt für den Versuch Paul Masons, das »Maschinenkapitel« aus Marx’ »Grundrissen der Kritik der Politischen Ökonomie« (1857/1858) für seinen Entwurf einer digitalen postkapitalistischen Gesellschaft heranzuziehen.

    Solange kein Subjekt der Umwälzung auftritt, lässt sich aus dem Buch »Das Kapital« nicht lernen, wie der Kapitalismus aufgehoben wird, sondern wie er funktioniert. Dies erklärt wohl die gegenwärtige Hegemonie der reinen Wertformanalyse der »Neuen ›Kapital‹-Lektüre«, die, wie gezeigt, zwar schon in den 1960er Jahren (bei Althusser und Backhaus) begonnen hatte, nach 1989 aber innerhalb des marxistischen Segments der Rest-Linken erst so richtig vorherrschend wurde, in Deutschland vor allem durch Michael Heinrich: Das Kapitalverhältnis steht zentral, die Bewegungen von Menschen sind marginal. Dies erscheint gegenwärtig als realistisch.

    Wenn für Marx und Engels neue Problemlagen Metamorphosen ihres jeweils erreichten Theoriestandes zur Folge hatten, so kann das auch für Gegenwart und Zukunft gelten. In einer radikalen Weise führten Margarete Tjaden-Steinhauer und Karl Hermann Tjaden eine solche Auseinandersetzung: mit ihrer Untersuchung der ausbeutenden Verfügungsgewalt nicht nur im Verhältnis von Kapital und Arbeit, sondern auch im Patriarchat und in den Beziehungen der menschlichen Spezies zu ihrer natürlichen Umwelt – bis hin zu einer Zivilisationskritik, in die der von Marx und Engels nie in Frage gestellte Produktivkrafttyp und die auf ihn bezogenen ideokratischen Denkformen einbezogen sind. Damit wird einerseits der von den beiden Begründern des historischen Materialismus gezogene Rahmen überschritten, andererseits rücken bisher weitgehend außerhalb historisch-materialistischer Analyse gebliebene Sachverhalte ins Zentrum.

    Jetzt andersherum

    Bislang wurde davon gesprochen, wie der Kapitalismus 200 Jahre lang den Marxismus hervorgebracht und immer neu gewandelt hat. Danach müsste darüber geredet werden, was der Marxismus 200 Jahre lang mit dem Kapitalismus gemacht hat, ob dieser unter dem Einfluss der Arbeiterbewegung sich gewandelt hat. Wer das bejaht, wird zu weiteren Fragen geführt, zum Beispiel: Waren diese etwaigen Wandlungen positiv oder negativ? Welchen Einfluss darauf hatten in beiden Fällen die einzelnen Richtungen der Arbeiterbewegung, von denen die marxistische nur eine von mehreren ist? Letztlich: Hat der Philosoph Marx die Welt wirklich verändert oder doch nur interpretiert? Versuch einer Antwort: Die Welt hat sich verändert – seit dem Beginn der industriellen Revolution um 1780, seit 1818. Daran haben mitgewirkt: die Produktivkräfte, die Produktionsverhältnisse, das Kapital, die Volksmassen einschließlich der Arbeiterklasse. Das Kapital hat sich im wesentlichen so verhalten, wie Marx es »interpretiert« hat. Ein Teil der Volksmassen (wenngleich ein kleiner), die an der Veränderung der Welt mitwirkten und noch mitwirken, beruft sich auf Marx. Dieser Karl Marx hat an der Veränderung der Welt zu seinen Lebzeiten sowie postum teilgehabt und wird auch noch zukünftig daran teilhaben in dem Maß, in dem Volksmassen gemäß seiner Theorie handeln und Produktivkräfte, Produktionsverhältnisse, Kapital und politisches Personal darauf reagieren, weil sie darauf reagieren müssen. Mehr sollte man einem Philosophen gar nicht erst zutrauen, und es ist ganz schön viel.

    Es bleiben aber ein paar Probleme:

    1. Ungleichheit national und international – zwischen Arm und Reich, Zentren, Semiperipherien und Peripherie, Männern und Frauen, unverändert Herrschaft des Kapitals über die Arbeit;

    2. die Verwüstung der natürlichen Lebensgrundlagen;

    3. Kriege und Kriegsgefahr.

    Das gab es schon zwischen dem 5. Mai 1818 und dem 14. März 1883, in den 135 Jahren nach Marx’ Tod. Irgendwann muss dies aber geändert werden, zumal einige dieser Probleme sich immer mehr verschärfen, vielleicht bis hin zu einem Point of no return. Ohne Beachtung der Einsichten von Marx wird das wohl kaum zu schaffen sein.

  • · Hintergrund

    Von der Wut zum Wissen

    Wie Personen, Gesellschaften und Texte in Bewegung kommen. Über Karl Marx
    Dietmar Dath
    B S 06-07.jpg
    Zwischen heißer und kalter Wut: »Prometheus«-Art Déco von Rene Paul Chambellan am Chanin Building, New York

    Im März erscheint im Reclam Verlag in der Reihe »100 Seiten« der Band »Karl Marx« von Dietmar Dath. Wir veröffentlichen daraus vorab mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag einen redaktionell gekürzten Auszug aus dem ersten Kapitel. (jW)

    Der beste Freund, den Karl Marx und seine Lehre jemals hatten, war Friedrich Engels. Was dieser Fabrikantensohn, Soldat, Lebenskünstler und Zukunftsdenker für Marx und dessen Arbeit getan hat, passt in kein Buch. Zehn Bücher könnten es nicht fassen. Warum hat Engels sich so heftig und ausdauernd engagiert? Was hat die Theorie, für die er so viel leistete, umgekehrt für ihn geleistet? 1880, knapp drei Jahre vor dem Tod des Geförderten und Bewunderten, gab der Freund jenem die Begründung seiner Unterstützung schriftlich, im Titel und in den Ausführungen einer Arbeit, die zusammenfassen sollte, was Marx erreicht hatte: »Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft«.

    Was das Wort »Wissenschaft« bedeutet, ist klar: eine gesellschaftliche Veranstaltung, bei der man Aussagen über Sachverhalte mittels Beobachtung, Folgerungen, hypothesengeleitetem Experiment und Gegenproben ermittelt. Wissenschaft zeigt uns die Welt nicht so, wie wir sie gerne hätten oder wie wir fürchten, dass sie schlimmstenfalls sein könnte, sondern so, wie sie mit uns wechselwirkt.

    Was aber bedeutet »Utopie«? Beim Gebrauch dieses Wortes gehen Optimismus, Pessimismus (dann oft unter dem Stichwort »Dystopie«) und freie Teilchen realistischer Tatsachenabbildung durcheinander. Das Bedeutungsfeld des Begriffs war stets gleichsam verschmiert: Wo er benutzt wird, weiß man nie sofort, ob ein literarischer Text aus dem 16. oder 20. Jahrhundert gemeint ist, ein politisches Wunschprogramm junger Leute, die den Platz vor einer Bank blockieren, oder eine komplizierte Idee, in deren Zeichen der Philosoph Ernst Bloch (1885–1977) versuchte, alles, was ihm irgendwie sympathisch war, von der Bergpredigt bis zur Forschungsfreiheit, unter einen begrifflichen Hut zu zwingen.

    Geist der Utopie

    Mit 14 war ich Utopist, ohne zu wissen, was das ist. Ich wollte, dass nichts mehr so sein sollte wie da, wo ich leben musste. Alles sollte anders sein, am besten so, wie es noch nie irgendwo gewesen war, nur am Nicht-Ort des Denkens, was die wörtliche Bedeutung der griechischen Wortfügung »Ou Topos« ist. Mit 15 war ich schon kein Utopist mehr. Das lag aber nicht, wie man vielleicht vermutet, weil das ein naheliegender Dreh für die Einleitung eines kleinen Büchleins über Marx wäre, an Marx und seinen Schriften.

    Wenn man jung ist, verschafft man sich Bewegung, wo man kann. Das Leben wird interessanter, wenn auch nicht bequemer, sobald man sich auf Anstrengungen einlässt, ein neues Gesellschaftssystem durchzusetzen: »Sozialismus«, das klang konkreter als der Nicht-Ort. Bald wurde ich Zeuge einer spektakulären Niederlage jener Anstrengungen: Große Staaten, die sich auf Marx berufen hatten, ließen das fortan bleiben und lösten sich in unübersichtliche Verhältnisse auf.

    Für mich persönlich war es zu spät, abzuspringen, Marx hatte mich schon überzeugt. Ein Kommunist schrieb mir neulich eine E-Mail, weil ich mit ihm und anderen eine Diskussion darüber angefangen hatte, wie und warum sich verschiedene Leute zu verschiedenen Zeiten unter verschiedenen Umständen von Marx überzeugen ließen. Der Kommunist seufzte schriftlich, das habe oft nicht nur mit Inhalten zu tun, sondern mit der »Heroisierung von gewesenen Kämpfen«, der »Ikonisierung unserer Heldinnen und Helden usw.«, also mit linker Romantik. Der Genosse bekannte: »Die meisten von uns sind nicht Kommunisten geworden, weil sie den 18. Brumaire gelesen haben, sondern weil sie sich über die Menschenschinderei und den Schlachthof Geschichte aufgeregt haben.«

    Die Anspielung auf den »18. Brumaire« bezieht sich auf ein Buch von Marx über ein seinerzeit aktuelles Ereignis: Am 2. Dezember 1851 hatte ein Verwandter des toten Kaisers Napoleon, der »Rechtspopulist« (wie man heute sagen würde) Louis Bonaparte, sich in einem Staatsstreich Frankreich unter den Nagel gerissen, ein Ergebnis der revolutionären Unruhen, die ganz Europa um 1848 erfasst hatten.

    Vergleicht man die Schrift, die Marx dieser Neuigkeit widmete, mit der Art, wie solche Ereignisse rund 150 Jahre später in politischen Kommentaren diskutiert werden, fallen starke Unterschiede auf – ein inzwischen schon wieder aus dem Weltmedienbewusstsein verschwundener Vorgang kann das verdeutlichen: Der Putschversuch in der Türkei im Sommer 2016 war für die meisten Menschen, die mit Hilfe elektronischer Massenmedien im Minutentakt auf den neuesten Stand gebracht wurden, eine Art Zuschauersportereignis, bei dem man Wetten darüber abschließen kann, wie es ausgehen wird. Wenn die Militärs gewinnen, wird die islamistische Tendenz im Land dann vielleicht schwächer, mit der Präsident Erdogan kokettiert? Wenn Erdogan gewinnt, wird dann wenigstens eine stabile Ordnung einkehren?

    Dies war genau die Art von Gedanken, die Marx sich nicht machte, als Louis Bonaparte die Macht ergriff. Für ihn ging es nicht um Wettquoten, sondern ums Ganze, um seine eigene Sache und das Schicksal der politischen Bewegung, der er angehörte.

    Das Ende der französischen Republik, das da in die Diktatur mündete, war in der Perspektive dieser Bewegung nur der scheußliche Höhepunkt einer Reihe von reaktionären Taten der besitzenden Klassen in Frankreich. Noch 60 Jahre früher, in der berühmten großen Französischen Revolution, waren aus den Reihen des dortigen Bürgertums die entschiedensten Denker und Anstifter der Abschaffung des Feudalismus und der Monarchie hervorgegangen.

    Was Marx die »absteigende Linie« seit jener Revolution nannte, analysierte er im »18. Brumaire des Louis Bonaparte « schon im Titel als Bestandteil eines Epochenzusammenhangs: Die Revolution hatte einen neuen Kalender geschaffen, und der 18. des Monats Brumaire im Jahr acht dieses neuen Kalenders (nach der vorher und nachher geltenden Rechnung also der 9. November 1799) war der Tag gewesen, an dem Napoleon Bonaparte, der Onkel des späteren Putschisten, den nicht mehr regierungsfähigen Resten der revolutionären Staatsgewalt die Macht entrissen hatte. Marx macht mit seinem Titel einen bösen Witz: Was Napoleon getan hatte, war noch ein Akt der Größe gewesen, Schicksalsmoment einer grandiosen sozialen Umwälzung, mit dem verglichen der Regierungsantritt des Neffen aussah wie eine Karikatur neben einer Helden­büste. Dies, urteilte Marx, lag daran, dass jenes revolutionäre Bürgertum einen Niedergang hinter sich hatte, an dessen Tiefpunkt ein Gauner wie dieser Louis Bonaparte mit seinen letzten Resten spielend fertig wurde.

    Marx war fest entschlossen, andere dazu zu bewegen, Konsequenzen aus seiner Analyse zu ziehen. Das allein schon hebt seinen Stil und seine Herangehensweise deutlich davon ab, wie heute öffentliche Erörterungen von Tatsachen wie »Es wurde da oder dort geputscht« oder »Ein Tyrann im arabischen Raum ist gestürzt worden« aufgebaut sind. Kommentare beziehen Ereignisse heutzutage selten auf ihre Voraussetzungen im Bereich der Absichten und Interessen, ein schlüssiges Gesellschafts- und Geschichtsbild wird nicht vorausgesetzt, derlei gilt als ideologisch verbohrt. Marx setzte ein solches Bild aber voraus. Ihm war klar: Gesellschaftliche, menschengeschaffene Sachverhalte bestehen zu einem nicht geringen Teil gerade aus Hoffnungen und Ängsten der Beteiligten. Sie sind das, was unsere Handlungen miteinander vermittelt, einen Zusammenhang zwischen ihnen herstellt.

    In der E-Mail meines kommunistischen Bekannten wird eine Unterscheidung angedeutet, die nahelegt, es gäbe auf der einen Seite Empörung, Verurteilung der schlechten Welt, und auf der anderen Seite das Lesen und Denken sowie die Schriften, die zu beidem einladen. Diese zwei Seiten aber stehen ein­an­der in Wirklichkeit nicht getrennt gegenüber, es gibt den Unterschied nur als gewaltsam fixierten. Gerade der »18. Bru­maire« zum Beispiel, so knapp und klar er ist, lebt von Empörung und Verurteilung der Vorgänge, die er erklären will. Marx hat auf erfreuliche wie schlechte Nachrichten häufig mit dem Verfassen von Gebrauchstexten für politische Organisa­tio­nen reagiert, etwa den Bund der Kommunisten oder die Erste Internationale Arbeiterassoziation. Es galt in solchen Momenten, unter Zeitdruck Übersicht herzustellen, damit man wusste, in was man sich einmischen sollte. (…)

    Zweierlei Wut

    Kann jemand, der Aufstände begrüßt, eine Diktatur fordert, Philister erschreckt und sich nicht scheut, die seit Urzeiten bestehende gesellschaftliche Wirklichkeit als »die ganze alte Scheiße« zu beschimpfen, eine Wissenschaft begründen, sei es nun die des Sozialismus oder sonst eine? Mein kommunistischer Bekannter hat ja recht: Es sind nicht Texte von Marx, sondern Unzufriedenheiten, die Menschen normalerweise in den Denk- und Handlungshorizont linker Überzeugungen schleudern – manchmal zum Anarchismus, manchmal zum Kommunismus, manchmal zu Occupy und manchmal zu einer bescheiden mühsamen Arbeit als Rechtsanwältin für Flüchtlinge ohne Papiere. Selbst bei Marx gab es (…) diese Erregungszustände; seine Arbeit war durchaus Nervensache. Wie hängen diese Nerven aber mit seinen Analysen zusammen? Warum reicht es manchen Menschen nicht, ihr Unbehagen am Gemeinwesen in einer Krawalldemo, einem Songtext, einem Graffito oder einer anderen spontanen Verausgabung der Affekte zu entladen?

    Ich selbst bin von der beschriebenen Affektspannung nicht an der Hand von Karl Marx abgekommen, sondern aus einem anderen Grund. So, wie Marx auffiel, dass es unter angeblich seit 1789 gleichgestellten Menschen, die allesamt keine Adligen sind, zwei verschiedene Sorten Teilnahme an der Produktion der gesellschaftlich benötigten Güter und Dienstleistungen gibt, so gibt es, lernte ich mit etwa 16 Jahren, nicht nur eine, sondern mindestens zwei Sorten Wut, die heiße und die ­kalte.

    Menschen werden wütend, wenn ihnen etwas Unlust bereitet oder eine erhoffte Lust verwehrt. Manchmal reicht schon die Befürchtung, dass es so kommen könnte. Dass wir Menschen bei Unlust, verwehrter Lust oder Angst vor einem von beidem wütend werden, ist für Hordentiere wie uns ein von der Evolution nützlich eingerichteter Umstand.

    Wenn es andere unseresgleichen sind, die uns Unlust bereiten oder Lust verweigern, können Aggression und das aggressive Gebaren, das aus Wut entsteht, die Verursacher unserer Unlust oder Angst zur Korrektur ihres Verhaltens zwingen. Wenn wir Pech haben, entsteht daraus allerdings wieder Wut bei jenen; das Resultat ist im schlimmsten Fall die berühmte Gewaltspirale, auch als Teufelskreis bekannt.

    Mit 14 Jahren, als ich die Begeisterung für Utopien gerade verlor, war ich an Schultagen zwischen 8 und 14 Uhr oft genug wütend. Das lag außer an pubertätstypischen Stimmungsschwankungen an besonderen Umständen, durchaus objektiv messbaren, die auch Eltern und anderen Leuten auffielen, die meine Schule nicht besuchten. Wir hatten es da mit einer im Umlandvergleich überproportional hohen Anzahl von problematischen Lehrerinnen und Lehrern zu tun, Al­koholikern, Depressiven, Cholerikern, Esoterikern, die mangelnde Lernerfolge bei den ihnen anvertrauten jungen Menschen als persönliche Beleidigungen empfanden. Ihre Vergeltungsmaßnahmen schonten die Kinder vermögender oder einflussreicher Eltern mit nachtwandlerischer Sicherheit. Bei denen, die nicht geschont wurden, kam daher Wut auf; zunächst heiße.

    Heiße Wut ist Erregung, die zwar die Quelle des Übels erkennt, das sie reizt, aber nicht weiter denken kann als bis zum unmittelbaren Gegenschlag. Heiße Wut war das, was uns dazu aufstachelte, im Unterricht Lärm zu schlagen, das verhasste pädagogische Personal bei Zufallsbegegnungen in der Stadt zu verhöhnen, seine Autos oder Fahrräder zu beschädigen und ähnliche alberne bis ernsthaft destruktive Angriffe mehr zu riskieren, die natürlich ständig mit Niederlagen endeten, nämlich Strafen, Schwierigkeiten zu Hause, Schadensersatz usw. Wenn die Wut nicht abebbte (wie sollte sie, die Anlässe bestanden weiter), konnte das zu folgenreich verpfuschten Erziehungslaufbahnen führen, zum Sitzenbleiben beispielsweise, zu Schulverweisen und anderen Erlebnissen, die das Leiden verlängerten und verschärften.

    Schreien und lernen

    Wut, die zwischen unartikulierbarem Groll und unpräzisen Gegenschlägen hin und her schwingt, kannte auch Karl Marx, nicht nur in Jugendjahren (die bei ihm vergleichsweise behütet und sorgenfrei waren).

    Als linker Oppositioneller im Mitteleuropa des 19. Jahrhunderts musste er harte Schläge einstecken, von der unmöglich gemachten akademischen Karriere, zu der ihm auch seine offensichtliche intellektuelle Begabung nicht verhelfen konnte, über Zensurmaßregeln gegen Zeitungen, bei denen er schrieb, weil er nicht Professor werden konnte, bis hin zu erzwungenen Wohnungswechseln wegen staatlicher Verfolgung, die ihn erst nach Paris jagte, wo ihn die preußische Regierung anschwärzen ließ, dann nach Brüssel, wo er blieb, bis ihn auch Belgien auswies, so dass er zurück nach Paris und endlich nach London übersiedelte, wo er an seinem Hauptwerk arbeitete, bis er starb.

    Auf seinem teils krummen, teils gezackten Weg musste Marx mit seiner Familie, also Frau und Töchtern, ein finanziell unsicheres und gesundheitsschädigendes Leben führen, das ihm unter anderem Karbunkel (die aus Haarwurzelproblemen und Furunkeln entstehen) bescherte.

    Dieses spezielle körperliche Leiden befeuerte seine Wut auf die herrschenden Gewalten, denen er die Schuld an seiner prekären Existenz gab, so sehr, dass er mit grimmigem Humor im Juni 1867 an Engels schreiben konnte: »Jedenfalls hoffe ich, dass die Bourgeoisie ihr ganzes Leben lang an meine Karbunkeln denken wird. Welche Schweinhunde es sind, jetzt wieder neue Probe!«

    So arg die heiße Wut in solchen Momenten in ihm geglüht haben muss, die kalte lag ihm näher. »Kalte Wut« nenne ich einen Zustand der Unzufriedenheit über Leiden und ausbleibendes Vergnügen, der zum kühlen, auf langfristigen Erfolg angelegten Plan aushärtet, statt sich in spontanen Eruptionen zu verausgaben.

    Persönlich begegnet bin ich dieser kalten Wut das erste Mal bei Freundinnen und Freunden an der unerfreulichen Schule, von der ich schon berichtet habe. Die machten sich klar: Arrest, schlechte Noten und Sitzenbleiben verbessern die Situation nicht. Besser war der Zusammenschluss mit anderen, um einander bei Laune zu halten, oder ein Überlebensplan (etwa: die Schule wechseln, zu Verwandten anderswo ziehen). Am besten war strategisches Handeln: Herausfinden, ob die Gegenseite irgendwelche Regeln befolgte, die man gegen sie nutzen konnte. Tatsächlich muteten sich die Problemlehrerinnen und -lehrer zum Beispiel ungern selbst die Zusatzarbeitszeit der Arrestüberwachung zu, was sich ausnutzen ließ, oder sie lagen untereinander in Streit, den man für Schaukelpolitik instrumentalisieren konnte, und dergleichen mehr.

    Die Lehre lag auf der Hand: Heiße Wut beißt und schreit wider das Übel, kalte lernt und versteht, um das zu ändern oder abzuschaffen, was sie provoziert hat. Nicht alle vollzogen diesen Schritt mit. Ich erinnere mich an einen nicht unsympathischen Mitschüler, der nie bereit war, seine Wut abkühlen zu lassen. Er fand, dass jeder Versuch, die Beweggründe der Gegenseite zu verstehen, letztlich darauf hin­aus­laufen müsse, ihr bis zu einem gewissen Grad zu ver­geben. Diskussionen auf dem Pausenhof, die zum Beispiel um die Unterscheidung zwischen Verrückten, Alkoholikern und Überforderten kreisten, sabotierte er mit Worten wie: »Ich will nicht wissen, ob der Typ ein Alkoholiker ist, er ist ein Drecksack!«

    Das beleidigende Wort brachte denselben Furor zum Ausdruck, der die Formulierung »Schweinhunde« im Brief von Marx an Engels ausgelöst hat. Aber es ignoriert, was ich damals nur spürte und nicht artikulieren konnte: Wenn wir wissen, dass ein Lehrer ein Alkoholiker ist, und Beweise dafür finden, die wir unseren Eltern vorlegen können, haben wir einen Hebel gegen ihn gefunden.

    Verständnis muss nicht versöhnlich gemeint sein. Im Gegenteil, so lernte ich später, sind es oft die allerunversöhnlichsten Gegnerinnen und Gegner eines Missstandes, die sich ums Verständnis der Situation, ihre logische Zergliederung und historische Erklärung die allergrößten Verdienste erwerben, weil kalte, aber große Wut ihnen die Kraft dazu verleiht.

    Zwei der beeindruckendsten Beispiele hierfür (…) fand ich bei einem schwarzen Mann, der heroisch gegen den Rassismus gekämpft hat, und bei einer weißen Frau, die sich zeitlebens auf einem besonders ungemütlichen Terrain gegen männliches Dominanzgehabe behaupten konnte.

    Das Übel verstehen

    Mein erster Beleg stammt von einem der entschlossensten Feinde des rassistischen Unrechts in den USA des 19. Jahrhunderts, Frederick Douglass (1817/18–1895). Diesem schwarzen Bürgerrechtler war eine erschütternd nüchterne Bezeichnung für den Kern dieses Unrechts eingefallen, die Sklaverei: 1864 nannte er sie im Rahmen einer knappen Analyse ihrer Funktion beim Aufstieg der USA zum modernen Staat ein »Baugerüst« der »erhabenen Struktur« dieses Staates. Eine Maschinerie, die ungezählte Leiber zerbrochen, unermessliches Leid verursacht hatte, sollte ein »Baugerüst« sein? Sklaverei, dieses »Scaffolding«, schrieb Douglass, sei eine Vorrichtung, welche die Gründerväter der neuen Nation nicht rasch genug beseitigt hätten, auch wenn ihnen wohl klar gewesen sei, dass dieses Gerüst »beseitigt werden muss, sobald der Bau steht«.

    Eine Unterdrückungseinrichtung mit der Kälte und Ruhe anzusehen, die darin ein »Baugerüst« erkennen kann, dürfte nicht vielen gelungen sein, die im Kampf um die Rechte der Versklavten standen. Douglass bewies damit einen Weitblick, der sich sogar als Vorhersage des historischen Moments im Sommer 2016 auslegen lässt, in dem Michelle Obama, die Gattin des ersten schwarzen Präsidenten der USA, davon sprach, was für sie das deutlichste Sinnbild historischen Fortschritts sei: die Tatsache, dass das Weiße Haus, der repräsentative Sitz des Präsidenten, einerseits einst auch mittels Sklavenarbeit errichtet worden war, und andererseits rund 150 Jahre später im selben Haus jemand das höchste Amt des Staates wahrnahm, in dem er seinerzeit nicht einmal die primitivsten Bürgerrechte hätte genießen dürfen.

    Mit dem Satz vom Baugerüst war indes mehr als eine Prophetie ausgesprochen, nämlich ein Gedanke, der Douglass und andere seiner Geisteshaltung von der Idee Abstand nehmen ließ, die Nachfahren der Menschen, welche die grauenvolle und mörderische Verschleppung überlebt hatten, mit der rechtlose Arbeitskräfte nach Amerika gebracht worden waren, sollten in die Herkunftsländer ihrer Familien zurückkehren. Douglass hielt statt dessen dafür, sie sollten ihr Glück in dem Land machen dürfen, das sie mit aufgebaut hatten. Dessen Reichtum war auf ungerechte Weise entstanden, aber da er nun einmal erwirtschaftet worden war, sollte der Zwang aufhören.

    Notwendige Frustration

    Mein von heißer Wut beherrschter Mitschüler hätte das Wort »Baugerüst« wohl eine obszöne Verharmlosung gefunden. In dem sorgfältig konstruierten Argument, das Douglass vorbrachte, wies das Wort jedoch auf eine historische Entwicklung hin, um klarzustellen, dass Gründe, die ein Unrecht scheinbar rechtfertigen, weil sie es objektiv bedingen, im Verlauf der Geschichte entfallen können, und dass man die Chance, in diesem Moment das Unrecht abzuschaffen, nutzen muss. Nichts anderes meint Friedrich Engels mit seinem berühmten Satz »Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit«: Wer frei sein will, muss die Bedingungen kennen, die eine vorhandene Unfreiheit ermöglicht haben, und dann diejenigen, die nicht (mehr) notwendig sind, von den andern trennen, um das nicht Notwendige abzuschaffen.

    Im selben Jahr, in dem Douglass den Satz vom Baugerüst verfasste, schrieb Marx einen offenen Brief an den amerikanischen Präsidenten Abraham Lincoln (1809–1865). Der musste damals einen Bürgerkrieg zur Bewahrung seines föderalen Flächenstaats führen. Die Herrschenden im Süden wollten ihre Sklaven behalten, während Lincoln im Sinn hatte, jenen Entrechteten mehr (wenn auch längst nicht alle) Bürgerrechte zuzugestehen.

    Der Brief, den Marx dem Präsidenten schrieb, versicherte diesen der Bereitschaft der Arbeiterbewegung in Europa, ihren Teil zu seinem Sieg beizutragen. Marx bot nichts Geringeres an als die Disziplin der kalten Wut dieser Arbeiterbewegung, die Bereitschaft, die Zähne zusammenzubeißen und eigene Nachteile zu ertragen, die der Kampf gegen das Unrecht mit sich bringt, den andere anderswo führen.

    Außer vernünftiger Bestandsaufnahme der Lage und Geduld bei der Arbeit an deren Veränderung verlangt die Abkühlung der Wut ja oft weitere Frustrationen von den kalt Wütenden – vor allem, dass sie nicht nur erkennen, was notwendig ist an ihrer Lage und was nicht, sondern auch aus­halten, was am Übergang vom Schlechten zum Besseren unangenehm, aber nun mal ebenfalls notwendig ist. Im Fall der Solidarität mit den Sklaven hieß das für europäische Ar­beiter zum Beispiel das Ertragen vorübergehender Baumwollknappheit. Billige Baumwolle hatte es für europäische Besitzlose nur gegeben, solange die Sklaven auf den Baumwollplantagen schufteten. Aufgeklärt über diese Zusammenhänge, schrieb Marx an Lincoln also unter anderem zwei wichtige Sätze – einen sehr langen und einen weniger langen.

    Der lange lautet: »Als die Oligarchie der 300.000 Sklavenhalter zum erstenmal in den Annalen der Welt das Wort Sklaverei auf das Banner der bewaffneten Rebellion zu schreiben wagte; als auf dem selbigen Boden, dem kaum ein Jahrhundert vorher zuerst der Gedanke einer großen demokratischen Republik entsprungen war, von dem die erste Erklärung der Menschenrechte ausging und der erste Anstoß zu der europäischen Revolution des 18. Jahrhunderts gegeben wurde; als auf diesem selbigen Boden die Konterrevolution mit systematischer Gründlichkeit sich rühmte, ›die zur Zeit des Aufbaues der alten Verfassung herrschenden Ideen‹ umzustoßen, und ›die Sklaverei als eine heilsame Einrichtung – ja als die einzige Lösung des großen Problems der Beziehung der Arbeit zum Kapital‹ hinstellte und zynisch das Eigentumsrecht auf den Menschen als ›Eckstein des neuen Gebäudes‹ proklamierte; da begriffen die Arbeiter Europas sofort, selbst noch ehe sie durch die fanatische Parteinahme der oberen Klassen für den Konföderiertenadel gewarnt worden, dass die Rebellion der Sklavenhalter die Sturmglocke zu einem allgemeinen Kreuzzug des Eigentums gegen die Arbeit läuten würde und dass für die Männer der Arbeit außer ihren Hoffnungen auf die Zukunft auch ihre vergangnen Eroberungen in diesem Riesenkampfe jenseits des Ozeans auf dem Spiele standen.«

    Der kürzere Satz zieht die Konsequenz aus dem langen: »Überall trugen sie darum geduldig die Leiden, welche die Baumwollkrisis ihnen auferlegte, widersetzten sich voll Begeisterung der Intervention zugunsten der Sklaverei, welche die höheren und »gebildeten« Klassen mit solchem Eifer herbeizuführen suchten, und entrichteten aus den meisten Teilen Europas ihre Blutsteuer für die gute Sache.«

    Unrecht hat Gründe, der Kampf dagegen braucht Verstand, Geduld und die Bereitschaft, für die Abschaffung des Unrechts einen Preis zu zahlen – in diesen beiden Punkten waren Douglass und Marx sich einig. Genauso dachte und schrieb auch die Urheberin meines zweiten Belegs für den politischen Wert der kalten Wut: 1912 verglich Rosa Luxemburg (1871–1919) in ihrem Aufsatz »Frauenwahlrecht und Klassenkampf« die Vorherrschaft des Mannes in der Familie mit der Institution des angeblich von Gott gerechtfertigten und gesegneten Erbkönigtums – eine wechselseitige Auslegung zweier Sachverhalte, die damit keineswegs gerechtfertigt sein sollten: »Das Instrument des Himmels als tonangebende Macht des politischen Lebens und die Frau, die züchtig am häuslichen Herde saß, unbekümmert um die Stürme des öffentlichen Lebens, um Politik und Klassenkampf, sie beide wurzeln in den vermorschten Verhältnissen der Vergangenheit, in den Zeiten der Leibeigenschaft auf dem Lande und der Zünfte in der Stadt. In diesen Zeiten waren sie begreiflich und notwendig.«

    Mein ungestümer Mitschüler hätte sich hier vermutlich über das Wörtchen »notwendig« aufgeregt. Luxemburg meinte es ernst: Notwendig ist ein König da, wo die soziale Welt in Stände gegliedert ist und zum Beispiel der Austausch zwischen den ländlichen Erzeugnissen des Feldes und den handwerklichen der Stadt nur dann stabil vonstatten geht, wenn es eine Instanz über den Landadligen einerseits und den Stadtbürgern andererseits gibt, die verhindert, dass das für alle überlebenswichtige Geschäft in einen Dauerstreit führt, der das Gemeinwesen zerreißt.

    Analog hierzu führt, wo die Gesellschaft so arm ist, dass die Individuen dauernd jagen, säen, ernten, sammeln oder werkeln müssen, damit die Familie nicht verhungert, und daher so rückständig, dass keine verteilte Kinderbetreuung eingerichtet werden kann, weil jede Arbeitskraft fürs Überleben nötig ist, an der Arbeitsteilung zwischen Produktion und Reproduktion aus biologischem Elendspragmatismus nichts vorbei, wohl aber etwas darüber hinaus: die Erzeugung größeren gesamtgesellschaftlichen Reichtums. Allerspätestens der Kapitalismus hat diesen Reichtum hervorgebracht, eben der Kapitalismus, der auf jene »vermorschten Verhältnisse« folgte, indem er sie zunächst ökonomisch zerschlug und dann formaljuristisch beseitigte.

    Nur dann, wenn man versteht, dass Douglass so wenig die Sklaverei entschuldigen wollte wie Luxemburg die Monarchie und das Patriarchat, versteht man ein drittes und ein viertes Zitat, die ich diesen beiden anfügen will, um endgültig zu Marx und seiner Lehre überzuleiten. Zunächst ein scheinbar enthusiastisches Lob der schon angedeuteten fortschrittlichen Mission des Kapitalismus: »Die große Industrie hat den Weltmarkt hergestellt, den die Entdeckung Amerikas vorbereitete. Der Weltmarkt hat dem Handel, der Schiffahrt, den Landkommunikationen eine unermessliche Entwicklung gegeben. Diese hat wieder auf die Ausdehnung der Industrie zurückgewirkt, und in demselben Maße, worin Industrie, Handel, Schifffahrt, Eisenbahnen sich ausdehnten, in demselben Maße entwickelte sich die Bourgeoisie, vermehrte sie ihre Kapitalien, drängte sie alle vom Mittelalter her überlieferten Klassen in den Hintergrund.

    Wir sehen also, wie die moderne Bourgeoisie selbst das Produkt eines langen Entwicklungsganges, einer Reihe von Umwälzungen in der Produktions- und Verkehrsweise ist. Jede dieser Entwicklungsstufen der Bourgeoisie war begleitet von einem entsprechenden politischen Fortschritt. […]

    Die Bourgeoisie hat in der Geschichte eine höchst revolu­tio­näre Rolle gespielt. Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose »bare Zahlung«. Sie hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt.«

    Ein Unterton von Kritik ist vernehmbar, Hochachtung aber unübersehbar – und dann folgen, im selben Text, gar Töne, die man heute, wäre der Kontext unbekannt, vielleicht euro­zen­trisch nennen würde: »Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterte Kommunikation alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation. Die wohlfeilen Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt, mit der sie den hartnäckigsten Fremdenhass der Barbaren zur Kapitulation zwingt. Sie zwingt alle Nationen, die Produktionsweise der Bourgeoisie sich anzueignen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen; sie zwingt sie, die sogenannte Zivilisation bei sich selbst einzuführen, d. h. Bourgeois zu werden. Mit einem Wort, sie schafft sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde.«

    Ich schrieb oben vom »Unterton von Kritik« und meinte damit Wendungen wie »die sogenannte Zivilisation« im letzten zitierten Abschnitt. Den Text, in dem das stand, schrieben Marx und Engels in Brüssel Ende 1847, ein Jahr vor einer revolutionären Erhebung in Europa, deren Scheitern das weitere Leben und Werk von Marx entscheidend prägte. Alles, was Marx vor diesem Text geschrieben hat, liefert die eine Hälfte des Kontextes, der die angeführten Stellen erklärt, und alles, was er danach schrieb, liefert die andere. Beide zu rekonstruieren, damit man das, was ich eben zitiert habe, als eines der größten Dokumente kalter Wut in der Menschheitsgeschichte verstehen lernt, ist der Zweck dieses Büchleins.

  • · Literatur

    Der zuletzt lacht

    Ein neuer Katalog mit Marx-Cartoons aus aller Welt
    Stefan Siegert, Deutschland – 1. Platz
    Konstantin Kazanchev, Ukraine – 1. Platz
    Raed Khalil, Syrien – 2. Platz
    Ehsan Ganji, Iran – 3. Platz
    Stefan Siegert, Deutschland
    Mahdi Afradi, Iran
    Makhmudjon Eshonkulov, Makhmud (Usbekistan)
    Marek Tofil, Polen

    Es ist schon eine Weile her, dass britische Kommunisten beim Hamburger Stefan Siegert anfragten, ob sie seine Zeichnung des lachenden Karl Marx auf einige Merchandising-Produkte drucken lassen dürften. Gemalt hatte Siegert das Bild 1979 auf dem »Höhepunkt revolutionärer Euphorie«, wie er sagt: »Wir hatten Vietnam gewonnen, die Nelkenrevolution in Portugal war zunächst gelungen …« Er gab sein Okay und schlug statt der angebotenen bescheidenen Bezahlung vor, das Ganze nach der Revolution zu verrechnen.

    Bisher gibt es noch keine T-Shirts oder Tassen mit dem Bild. Aber es wurde auf den Titel eines druckfrischen Katalogs mit Marx-Cartoons gehoben. Es handelt sich um eine Auswahl unter Hunderten Einsendungen zu einem Wettbewerb, den der Ken-Sprague-Fonds anlässlich des 200. Marx-Geburtstags zusammen mit der sozialistischen Tageszeitung Morning Star und der Londoner Marx Memorial Library organisierte. Ken Sprague (1927–2004) war ein kommunistischer Grafiker und Karikaturist, der viel für den Morning Star gezeichnet hat.

    Siegerts lachender Philosoph ist einer von zwei Gewinnern. Der andere erste Preis ging an Konstantin Kazanchev aus der Ukraine für einen Marx, der einem jungen Skater zeigt, wie die Revolution zu gewinnen ist: mit Hammer und Sichel. Das Symbol der Einheit von Arbeitern und Bauern spielt in einem Dutzend Zeichnungen des Bandes eine mehr oder weniger große Rolle. Bei Sergey Drozdov (Russland) baumelt es am Rückspiegel eines Taxis, bei Mahdi Afradi (Iran) ziert es die Kühlerfigur einer Staatskarosse, bei Trayko Popov (Bulgarien) bilden die beiden Werkzeuge Marx’ Brauen, bei Hule Hanusic (Österreich) werden sie im Fundbüro (»Lost Things«) abgegeben usw.

    Wenige Zeichner sind mehrmals vertreten, darunter die Gewinner. Das zweite Bild von Kazanchev ist eine angefressen wirkende Variation auf »Sohn eines Menschen« des belgischen Surrealisten René Magritte (1898–1967). Siegert ist noch mit einem Baum ohne Blätter vertreten, dessen Zweige ein mürrisches Marx-Konterfei ahnen lassen. Diese Zeichnung stammt von Mitte der 80er Jahre und ist »schon nicht mehr so optimistisch«, wie der Urheber meint. Und schließlich ist da noch sein Wimmelbild mit Austromarxist (ganz rechts auf dieser Doppelseite), gemalt im Jahre 1989 noch vor dem Ende der DDR, »als man das Gefühl hatte, dass uns die Felle wegschwimmen, wir bis zu den Knien im Wasser stehen und nicht wissen, ob es sinken oder steigen wird«. So viel hat sich da einstweilen nicht geändert. Aber wir werden den Humor nicht verlieren. (jW)

  • 1
  • 2