Hammer und Kompass
Frieden sofort und auf Dauer, das war die Forderung der Revolutionäre vor 100 Jahren im November 1918. Vielen von ihnen war klar, dass die Voraussetzung dafür der Bruch mit dem Kapitalismus und der Übergang zum Sozialismus war. Es gelang ihnen, für kurze Zeit die Staats- und Militärmaschinerie eines der stärksten imperialistischen Länder der Welt zu lähmen, aber nicht, sie zu zerbrechen. Das wurde durch das Zusammenspiel von SPD- und Armeeführung verhindert. Unter dem Druck der Massen gestanden diese zwar die parlamentarische Republik, das Frauenwahlrecht, den Acht-Stundenarbeitstag und weitere Errungenschaften zu, auf die halbe Revolution folgte aber eine ganze Konterrevolution. Tausende Arbeiter und Soldaten wurden zu Beginn der Weimarer Republik ermordet, die schließlich in der faschistischen Diktatur, die den Zweiten Weltkrieg entfesselte, unterging.
Dem ersten großen Völkermord waren fast 20 Jahre lang endlose Kolonialkriege um die Neuaufteilung der Welt vorausgegangen, dem zweiten der bewaffnete Aufmarsch gegen die Sowjetunion. Nach 1989 begann weltweit erneut eine Periode neokolonialer Feldzüge des Westens; die NATO setzte die Einkreisung Russlands und Chinas fort; von deutschem Boden geht seit 1990 fast ununterbrochen Krieg aus. Die Entfesselung des Kapitalismus sorgte auch in der Bundesrepublik für wachsende Armut auf der einen Seite und exorbitanten Reichtum auf der anderen. Worin besteht vor diesem Hintergrund Klassenpolitik von unten? Wie wird aus Wut endlich Widerstand?
Über diese und andere Fragen werden am kommenden Sonnabend die Teilnehmer des Podiumsgesprächs auf der XXIV. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz der jungen Welt diskutieren. Wir stellen hier die Positionen zweier der geladenen Diskutantinnen vor. (jW)
Dass es nichts bringt, sich in seiner Blase zu verkriechen, und man die Arbeiterklasse ansprechen muss, ist in der – im weiten Sinne klassenbewussten – Linken fast schon ein Gemeinplatz. Leider bleibt die Diskussion oft an diesem Punkt stehen. Dementsprechend ist eine veränderte Praxis kaum spürbar.
Denn auch wenn jene, die eine Abwendung von Szenepolitik fordern, ein Problem richtig benennen, folgt daraus nicht unbedingt ein Lösungsvorschlag. Um dahin zu kommen, müssen erst einmal einige Fragen geklärt werden: Unter welchen Bedingungen kämpfen wir heute? Auf welche Kämpfe müssen wir uns daher fokussieren? Und wie müssen wir uns dafür organisieren?
Die Arbeiterklasse in Deutschland durchlebt eine Kapitaloffensive ungeahnten Ausmaßes. Arbeits-, Lebens- und Lernbedingungen verschlechtern sich auf allen Ebenen – Stichworte sind die Zunahme von Leiharbeit und anderen »atypischen« Beschäftigungsformen, Tarifflucht, die Schließung kommunaler Einrichtungen wie Schwimmbäder, Gentrifizierung, Privatisierungen oder der Sanierungsstau an Schulen. Gleichzeitig gilt als selbstverständlich, was seinerzeit noch heftigen Protest ausgelöst hat. Hartz IV ist für heute 20jährige »normal«, sie sind damit aufgewachsen. In manchen Schulen lernt man gleich, wie der entsprechende Antrag ausgefüllt wird. Ebenso »normal« ist es, dass man nicht mehr 40 Jahre im gleichen Job verbringt. Kaum vorhanden ist ein Bewusstsein dafür, dass die gegenwärtigen Bedingungen nicht in Stein gemeißelt sind, dass man sich dagegen zusammenschließen kann und muss. Perspektivlosigkeit, Individualisierung und eine »Man kann ja eh nichts tun«-Mentalität sind weit verbreitet.
Die Aggression des deutschen Imperialismus führt zu Rechtsruck und erhöhter Kriegsgefahr. In Dokumenten wie dem »Weißbuch der Bundeswehr« geben die Strategen des Kapitals dem Weltmachtstreben fast unverhohlen Ausdruck. Diesem dienen die Aufrüstungspläne, die mit Bündnisverpflichtungen gerechtfertigt werden. Dem aggressiveren Agieren nach außen entsprechen reaktionäre Maßnahmen im Inneren – die neuen Polizeigesetze sind nur ein Beispiel dafür.
Teewasserkämpfe
Was bedeutet das für den Klassenkampf in diesem Land? Die diesjährige Rosa-Luxemburg-Konferenz trägt den Titel »Sozialismus oder Barbarei« – den Gegensatz, den Marx und Engels schon im »Manifest« benennen. Im gleichnamigen Text setzt sich Rosa Luxemburg mit den Kämpfen ihrer Zeit auseinander und schreibt über die Schlussfolgerungen der kommunistischen Bewegung nach der Zerschlagung der Pariser Kommune: »Seitdem begann eine neue Phase. Statt der spontanen Revolutionen, Aufstände, Barrikadenkämpfe, nach denen das Proletariat jedesmal wieder in seinen passiven Zustand zurückfiel, begann der systematische Tageskampf, die Ausnützung des bürgerlichen Parlamentarismus, die Massenorganisation, die Vermählung des wirtschaftlichen mit dem politischen Kampfe und des sozialistischen Ideals mit der hartnäckigen Verteidigung der nächsten Tagesinteressen.« Im selben Text geht Luxemburg auf die Rolle der marxistischen Theorie ein sowie auf den Maßstab, an dem sich tagesaktuelle Auseinandersetzungen messen lassen müssen: »Die marxistische Erkenntnis gab der Arbeiterklasse der ganzen Welt einen Kompass in die Hand, um sich im Strudel der Tagesereignisse zurechtzufinden, um die Kampftaktik jeder Stunde nach dem unverrückbaren Endziel zu richten.«
Den »systematischen Tageskampf« müssen wir heute wieder lernen. Gerade angesichts der Resignation und Vereinzelung müssen wir das Bewusstsein darüber stärken, dass man – als Klasse – etwas erkämpfen kann, wenn man sich zusammenschließt. Deshalb besteht eine wesentliche Aufgabe für uns darin, das zu initiieren, was Lenin »Teewasserkämpfe« genannt hat, kleine gewinnbare Kämpfe also. Zentrale Orte dafür sind die Betriebe und, für uns als Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend, die Schulen. Dort sind die Menschen, die wir erreichen wollen, dort erfahren sie den Klassengegensatz und können für ihre Interessen eintreten.
Gewinnbar bedeutet nicht, es sich zu leicht zu machen. Es heißt, Ziele zu wählen, von denen man überzeugend vermitteln kann, dass wir sie erreichen können und dass es sich lohnt, darum auch harte Auseinandersetzungen zu führen. Welche das sind, hängt davon ab, welche Probleme die Kollegen beschäftigen und mit welchen Themen man sie in Bewegung bringen kann. Ein Beispiel ist die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung, die erst seit kurzem wieder Gehör in den Gewerkschaften findet und um die es in mehreren Bereichen – bei den Metallern, der Bahn oder in der Gesundheitsbranche – gesellschaftlich relevante Auseinandersetzungen gibt.
Dabei gilt es, Missstände zu skandalisieren, Wut über bestehende Verhältnisse zu schüren und Mut in die eigene Kraft zu entwickeln. In unserer aktuellen Kampagne »Geld gibt’s genug – Zeit es uns zu holen« nutzen wir dafür verstärkt Kostengegenüberstellungen: Wir zeigen auf, wofür in dieser Gesellschaft Geld da ist, etwa für Militärausgaben und Steuergeschenke an Großkonzerne, während es bei uns fehlt. Das bietet auch die Möglichkeit aufzuzeigen, wem staatliches Handeln nützt und wessen Staat die Bundesrepublik letztlich ist.
Das allein macht jedoch noch keine revolutionäre Praxis aus. Die muss sich schließlich am »unverrückbaren Endziel« messen – dem Sozialismus. Gerade angesichts der wirklich wenig ermutigenden Ausgangsbedingungen verliert man das jedoch leicht aus den Augen. Doch dann wird politisches Handeln beliebig, falsch und verliert sich in Reformkämpfen. Maßstab des Erfolgs ist also, ob es in den Tageskämpfen gelingt, Klassenbewusstsein zu schaffen.
Das heißt auch aufzuzeigen, dass ein anderes Gesellschaftssystem möglich und notwendig ist. Dass in diesem Land so einiges schiefläuft, ist vielen bewusst. Resignation, Vereinzelung, aber auch rechte Positionen sind jedoch Ausdruck davon, dass die meisten keine Alternative vor Augen haben. Die Produktivkraftentwicklung macht den Sozialismus heute möglich. Kriegsgefahr und Rechtsruck machen es notwendiger denn je, ihn auch auf die Tagesordnung zu setzen. Das funktioniert aber nur dann, wenn wir nicht neben den politischen und ökonomischen Auseinandersetzungen stehen, sondern an erster Stelle mit dabei sind.
Wie schwierig es ist, die richtigen Tageslosungen mit dem Schaffen von Klassenbewusstsein zu verbinden, zeigt sich in der Geflüchtetenfrage. Der Umgang schwankt zwischen zwei Extremen: Die eine Seite ignoriert die berechtigte Perspektivangst der Menschen, erklärt Rassisten für dumm und stellt sich selbst über die Arbeiterklasse, die tagtäglich mit den Konsequenzen des Sozialabbaus konfrontiert ist. Die andere Seite lässt sich auf den Diskurs der herrschenden Klasse ein, wie man am besten den Zuzug steuert, also die Kapitalverwertung optimiert. Beides ist falsch, führt doch nichts davon zu gemeinsamen Kämpfen, in denen Rassismus als gegen die eigenen Interessen gerichtet erfahrbar gemacht wird.
Ursache und Wirkung
Ähnliches gilt für den Rechtsruck insgesamt. Die Analyse bleibt oft auf der Erscheinungsebene stehen, bei der AfD und den »Gesichtern« der Rechtsentwicklung. Dem entspricht ein falscher Umgang: Viele Linke greifen die AfD-Mitglieder von einem Standpunkt der Überlegenheit aus an. Der Zeigefinger richtet sich nicht auf die Großkonzerne, sondern gegen den vermeintlichen rassistischen »Bodensatz« in der Arbeiterklasse.
Doch der Rechtsruck geht nicht von der AfD aus, die AfD ist vielmehr Ausdruck davon, mit welchen Maßnahmen das Kapital derzeit seine Interessen zu wahren versucht. Dass dieses hinter dem reaktionären Staatsumbau steckt, müssen wir vermitteln – wie es beispielsweise die Kostengegenüberstellungen im Ansatz ermöglichen. Dafür gilt es, die Menschen nicht nur für einmalige Aktionen gegen rechts zu mobilisieren, sondern in dauerhafte Auseinandersetzungen einzubinden. Das bedeutet auch, mit rassistischen Kollegen und Kolleginnen gemeinsam zu agieren, wenn diese im Betrieb bereit sind, Arbeitskämpfe zu führen. Es bedeutet, Rassismus nicht »von oben« mit der Konzernspitze zu bekämpfen, denn dann macht man gemeinsame Sache mit denen, die für unsere schlechten Lebensbedingungen verantwortlich sind. Wer das tut, braucht sich nicht zu wundern, wenn er oder sie nicht mehr ernst genommen wird. Das bedeutet aber nicht, bei rassistischen Kommentaren oder entsprechendem Verhalten die Klappe zu halten oder untätig zu bleiben.
Was folgt daraus für die revolutionäre Organisation? Vor 100 Jahren wurde die KPD gegründet. Die Erkenntnis, dass es eine solche kommunistische Organisation braucht, war eine Konsequenz aus der Novemberrevolution und ihrer Niederschlagung durch das Kapital und seine sozialdemokratischen Handlanger. In ihrem Programm hielt die KPD fest: »Mit dem Ausgang des Weltkrieges hat die bürgerliche Klassenherrschaft ihr Daseinsrecht verwirkt. Sie ist nicht mehr imstande, die Gesellschaft aus dem furchtbaren wirtschaftlichen Zusammenbruch herauszuführen, den die imperialistische Orgie hinterlassen hat.« Um an dieser Erkenntnis trotz der gerade erfahrenen Niederlage festzuhalten, bedarf es des Kompasses der marxistischen Theorie. Damit der aber richtig genordet ist, braucht es einen Zusammenschluss von Revolutionären, in dem Kampferfahrungen zusammengebracht und um die richtige Analyse gerungen wird.
Luxemburg und Liebknecht stehen für die Erkenntnis, dass es einer Kommunistischen Partei bedarf. Was also fand Luxemburg an der neu gegründeten KPD so gut? Sie war »frei von den verblödeten Traditionen der ›alten bewährten‹ Partei«. Die altbewährte Partei nämlich war es gewesen, die mit der Zustimmung zu den Kriegskrediten den Klassenstandpunkt endgültig über Bord geworfen hatte.