Havarie auf hoher See
Von Gerd BedszentSchauplatz: das westliche Mittelmeer. Beteiligte: ein luxuriös ausgestattetes Kreuzfahrtschiff, ein heruntergekommener irischer Frachter, ein Schlauchboot und ein Patrouillenschiff der spanischen Seenotrettung. Zeit: unsere Gegenwart.
Eine Gruppe Flüchtlinge riskiert die Überfahrt von Algerien nach Spanien. Es soll eine lange Überfahrt werden, da die EU-Grenzschutzagentur Frontex die spanische Südküste bereits mit Drohnen und Radar bestückt hat. Dann kommt es zum nächtlichen Zusammenstoß mit dem Luxusliner. Sensationslüsterne Passagiere fotografieren, während die Schiffsführung sich den Kopf zerbricht, wie sie auf die Havarie reagieren soll. An sich müsste das Schiff jetzt warten, bis der Seenotrettungsdienst vor Ort ist. Aber ein Besatzungsmitglied ist lebensgefährlich verletzt, eine weitere Person spurlos verschwunden. Und was soll nun aus den Insassen des Schlauchbootes werden? Von der spanischen Polizei aufgegriffen zu werden, hieße für sie, sofort in den Abschiebeknast zu wandern.
Dieser kurze, scheinbar alltägliche Zwischenfall auf hoher See wird abwechselnd aus der Sicht von elf Beteiligten geschildert: ein algerischer Bootsführer, ein ukrainischer Schiffsingenieur, ein syrischer Steward, eine nepalesische Security-Chefin, ein philippinischer Musiker … Nicht alle von ihnen werden diese Nacht und den folgenden Tag überleben.
In insgesamt 41 kurzen, einprägsamen Episoden werden die Ereignisse von 36 Stunden wiedergegeben. Diese ungewöhnliche Erzählstruktur erzeugt atemberaubende Spannung. Durch eingestreute Rückblenden in die Vergangenheit gelingt es der Autorin außerdem, jeweils ein gelungenes Psychogramm der jeweiligen Person zu erzeugen. Episoden aus dem spanischen Bürgerkrieg zwischen Republikaner und Falangisten werden wiedergegeben, andere Personen erinnern sich an den Bürgerkrieg in Nordirland, wieder andere an den algerischen Bürgerkrieg der 1990er Jahre. Längst vergangene Ereignisse bestimmen nicht unwesentlich das Handeln der Menschen in der Gegenwart. Die Nepalesin wäre beispielsweise nie bei der Security gelandet, wenn ihre Vorfahren nicht als Söldner für die britischen Kolonialherren gekämpft hätten. Und auch die Zukunft wirf ihren Schatten voraus – der Maschineningenieur hat seinen Einberufungsbescheid schon in der Tasche und weiß, in Kürze wird er auf seine Landsleute im Osten der Ukraine schießen müssen.
Nein, ein Kriminalroman im herkömmlichen Sinne ist das Buch nicht, obwohl in einer Krimireihe erschienen. Opfer gibt es, aber wer ist der Täter? Keiner oder alle? Oder ist es der stumme Zwang spätkapitalistischer Verhältnisse? Jeder tat nur, was er in der jeweiligen Situation meinte, tun zu müssen. Aber all dieses Zusammenwirken höchst individueller und keineswegs verbrecherisch gemeinter Entscheidungen Einzelner hat am Ende Menschen das Leben gekostet. Und – bittere Ironie – anderen Menschen wahrscheinlich ein neues Leben ermöglicht.
Ist das Buch ein Beitrag zur Chaostheorie? Vielleicht. Auf jeden Fall ist es hervorragend recherchiert und spannend geschrieben.
Merle Kröger: Havarie. Argument Verlag, Hamburg 2015, 228 Seiten, 15 Euro
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