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Aus: Ausgabe vom 15.07.2024, Seite 8 / Inland
Erdoğans langer Arm

»Türkischer Geheimdienst agiert unverhohlen in BRD«

Weit verzweigtes Informantennetzwerk: Mann von Agent angerufen und bedroht. Ein Gespräch mit Adil Demirci
Interview: Henning von Stoltzenberg
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Der türkische Geheimdienst hat viele Informanten in der BRD

Ein Mitglied Ihres Vereins wurde vor kurzem bedroht. Wie kam es dazu?

Unser Vereinsmitglied Deniz Çokgül aus Wuppertal hat lange Jahre in der Türkei gelebt und ist im vergangenen Herbst wieder nach Deutschland zurückgekehrt. Er konnte die Türkei mehrere Jahre wegen einer Ausreisesperre nicht verlassen, obwohl er deutscher Staatsbürger ist. Seine Frau kann derzeit die Türkei nicht verlassen, weil ihr kein Reisepass ausgestellt wird. Auch ihr Kind ist deutscher Staatsbürger. Vergangene Woche wurde er von einer türkischen Nummer angeschrieben und danach angerufen. Wir rechnen den Anrufer dem türkischen Geheimdienst MIT zu.

Wie kommen Sie darauf? Was war denn der Inhalt des Telefonats?

Beim Telefonat teilte die Person mit, dass sie für den »türkischen Staat« anruft. Der Mann am Telefon sagte, dass er über die rechtliche Situation der Ehefrau Çokgüls Bescheid wisse und ihnen aus der Situation helfen könnte, wenn er für den türkischen Staat Informationen sammeln würde. Im Verlauf des Gesprächs wurde klar, dass die Person tatsächlich nicht nur über die rechtliche Situation informiert war, sondern auch über die Inhalte der Telefongespräche der beiden Eheleute. Daher halten wir es für absolut glaubhaft, dass die Person tatsächlich für den türkischen Geheimdienst arbeitete. Çokgül teilte dem Agenten direkt während des Telefonats mit, dass er sich nicht bedrohen lasse und nicht daran interessiert sei, für den türkischen Staat zu arbeiten.

Haben Sie schon öfter mitbekommen, dass der MIT hier in der BRD Oppositionelle auf diese Weise einzuschüchtern versucht?

Es gab mehrere Fälle in den letzten Jahren, die bekannt wurden. Im Sommer 2021 wurden 55 Exilanten, darunter bekannte Journalisten aus der Türkei, die mittlerweile in Deutschland sowie anderen europäischen Staaten leben, bedroht. Der türkische Journalist Erk Acarer wurde damals in Berlin-Neukölln vor seinem Haus von drei mit Messern bewaffneten Männern angegriffen und verletzt. Einer von ihnen hatte gerufen, dass er nicht mehr schreiben solle, damit ist der Zusammenhang klar.

Das eine ist das weit verzweigte Informantennetzwerk, mit dem der türkische Geheimdienst ziemlich unverhohlen in der BRD agiert. Dazu gehört das Sammeln von Informationen über politische Geflüchtete und deren Exilstrukturen ebenso wie das Anwerben von immer weiteren Informanten. Mit Drohungen soll oftmals auch erreicht werden, dass die Betroffenen ihre politische Arbeit gegen das türkische Regime einstellen. Dazu kommen viele gewaltbereite Erdoğan-Anhänger und in Vereinen organisierte Anhänger der faschistischen »Grauen Wölfe«, deren Partei MHP zusammen mit Erdoğans AKP regiert.

Wie reagieren die deutschen Behörden?

Das Problem ist, dass von seiten der deutschen Behörden offenbar gar nichts gegen diese Praktiken unternommen wird. Im Gegenteil, auch der deutsche Inlandsgeheimdienst »Verfassungsschutz« versucht immer wieder, politische Geflüchtete mit ihrem Aufenthaltsstatus zu erpressen, um Informationen zu gewinnen. Vermutlich gibt es einen regen Austausch zwischen den Behörden. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher sein als die Zahl der Fälle, die öffentlich werden. Wir wissen es sehr zu schätzen, dass Çokgül uns direkt informiert hat und an die Öffentlichkeit geht.

Was wird Ihr Verein dagegen unternehmen?

Unser politisches Instrument ist die Öffentlichkeitsarbeit. Wir setzen uns für die Freilassung von politischen Gefangenen in der Türkei ein und werden uns nicht verstecken. In den nächsten Wochen werden wir den Fall auf verschiedenen Plattformen wie auf unseren Mahnwachen sowie in Gesprächen mit Vertretern aus der Politik thematisieren. Auf unserem 5. Festival der Solidarität, dass am 27. und 28. September im Bürgerzentrum Ehrenfeld in Köln stattfindet, wird die Verfolgung der Oppositionellen im Exil das Thema unserer Podiumsdiskussion sein.

Adil Demirci ist Sprecher des Kölner Vereins »Stimmen der Solidarität«

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