»Das würde Abschiebungen im großen Stil erleichtern«
Interview: Gitta DüperthalDie Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und humanitäre Hilfe, Luise Amtsberg, hat Anfang Juli mitgeteilt, dass die Umsetzung des Şengal-Abkommens vom 9. Oktober 2020 in Kooperation mit der Türkei und den USA höchste Priorität habe. Warum ist das keine gute Nachricht?
Oberflächlich betrachtet klingt es gut: Die Bundesregierung will im Nordirak »Stabilität« und »den Wiederaufbau im Distrikt Sinjar«, im Einklang »mit verfassungsmäßigen und rechtlichen Prinzipien«, um das Leid der Bevölkerung dort zu mindern. Eine gemeinsame Kommission, bestehend aus der Bundesregierung und der Regionalregierung Kurdistan, kurz KRG, soll den Wiederaufbau der von der Terrormiliz IS (»Islamischer Staat«, jW) 2014 zerstörten Region umsetzen. Eingesetzt werden soll ein unabhängiger Distriktbürgermeister. Die Sicherheit sollen die örtliche Polizei und die Sicherheits- und Nachrichtendienste aufrechterhalten.
Tatsächlich aber ist damit eine fremdbestimmte Lösung anvisiert: Die dort ansässige jesidische Community, sowie im Jahr 2014 vom IS verschleppte und versklavte Frauen, saßen nicht am Verhandlungstisch. Die Lebensrealität der Betroffenen ist nicht berücksichtigt. Die KRG ist muslimisch-konservativ, die Region mit türkischen Militärstützpunkten übersät, und etwa 300 islamistische Söldner wurden dort stationiert. Ständig wird dort mit türkischen Drohnen bombardiert. Mit dem Abkommen wird unsere Community Kräften ausgeliefert, die den Genozid an ihr zu verantworten haben.
Die Arbeiterpartei Kurdistans, PKK, und ihre Verbündeten sollen dort keine Rolle mehr spielen. Sie aber hatten Jesidinnen und Jesiden am 4. August 2014 bei der Flucht vor dem IS geholfen.
Damals beobachteten PKK-Kämpfer auf den Şengal-Bergen, dass die Streitkräfte der KRG-Peschmerga sich zurückzogen, ihre Waffen zurückließen und Jesidinnen und Jesiden schutzlos auslieferten. Sie halfen bei der Flucht über die Berge bis zur Grenze nach Rojava in Nordostsyrien, die die Volksverteidigungseinheiten YPG damals öffnete.
Wie ist die Lage in der Region aktuell?
Gefährlich! Am 8. Juli bombardierte eine türkische Drohne ein Fahrzeug mit Journalistinnen und Journalisten der jesidischen Sender Çira TV und Çira FM. Sie waren dort unterwegs, um anlässlich des bevorstehenden zehnten Jahrestages des IS-Massakers Interviews mit Überlebenden zu führen. Sechs Personen wurden verwundet. Der Journalist Mîrza Ibrahim verstarb drei Tage später an seinen Verletzungen. Er ist ein weiteres Opfer des türkischen Staatsterrorismus gegen kritische Medienschaffende.
Welche Gefahr droht im Fall der Umsetzung des Abkommens?
Dies würde es der Bundesregierung erleichtern, im großen Stil Jesidinnen aus Deutschland in den Irak abzuschieben. Dabei ist die Situation in den IDP-Camps (Internally Displaced Persons, jW), wo die 2014 vertriebenen Jesidinnen und Jesiden leben, katastrophal. Wie sollen sich Menschen dort wieder ansiedeln können?
Ob das der Grünen-Politikerin Amtsberg nicht bewusst ist?
Sie weiß das, agiert aber im Interesse deutsch-türkischer Beziehungen. Die deutsche Bundesregierung hat vor zehn Jahren die Grenzen aufgemacht, den Genozid anerkannt, politisch und juristisch Verantwortung übernommen. Sie leistet Hilfe für die IDP-Camps im Irak, was wegen der Korruption dort wertvoll ist. Die jesidische Community ist in Deutschland integriert. Hilfe heißt aber, ein Leben in der Heimat wieder zu ermöglichen. Bombardements der Türkei dort müssen verurteilt und unterbunden werden.
Was fordern Sie?
Mit dem Abkommen wurde uns das Recht zur Selbstverwaltung aberkannt. Das akzeptieren wir nicht. Einstige IS-Kämpfer im Irak aus Deutschland müssen hier verurteilt werden. Deren Netzwerke, die ermöglichten, Tausende Deutsche und Europäer damals über die Türkei nach Syrien zu rekrutieren, müssen zerschlagen werden. Diese Infrastruktur der faschistischen »Grauen Wölfe«, salafistischen Vereine etc. existiert bis heute, auch in der BRD.
Çiçek Yildiz ist Sprecherin der Êzidischen Frauenräte in Deutschland e. V. (SMJÊ)
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