Kästner, Möckel, Kohlert
Von Jegor JublimovDer spätere bundesdeutsche »Kritikerpapst« Marcel Reich-Ranicki stieß als 20jähriger im Warschauer Ghetto auf den 1936 in der Schweiz erschienenen Lyrikband »Doktor Erich Kästners Lyrische Hausapotheke«. Für ihn waren die Gedichte eine Offenbarung, aber das Buch war geborgt, und Ranickis Freundin und spätere Ehefrau Tosia schrieb alle Texte für ihn fein säuberlich ab. Als Erich Kästner, der als Nazigegner Schreibverbot hatte, die Ghettoepisode viele Jahre später erfuhr, standen ihm Tränen der Rührung in den Augen. Reich-Ranicki ehrte Kästner bis an sein Lebensende als bedeutenden Lyriker und Aufklärer, während der Nachruhm des Autors heute (auch durch immer neue Verfilmungen) vor allem dem Kinderbuchautor gilt. Der Dresdner Kästner, der am 29. Juli vor 50 Jahren kurz nach seinem 75. Geburtstag in München starb, hat nicht alles geschafft, was er sich vorgenommen hatte, aber er verwirklichte sich als Drehbuchautor und Bühnendichter, war Redakteur, Aphoristiker und Epigrammatiker, und als westdeutscher PEN-Präsident ein Funktionär, der sich etwa in der Ostermarschbewegung gegen Remilitarisierung und den Vietnamkrieg engagierte. Die heutige politische Situation hätte er mit seiner Lebenserfahrung kommentiert: »Was auch immer geschieht: / Nie dürft ihr so tief sinken, / von dem Kakao, durch den man euch zieht, / auch noch zu trinken.«
Ein anderer Autor, vor allem in der DDR millionenfach gelesen, kann am 4. August seinen 90. Geburtstag feiern. Klaus Möckel wuchs in einfachen Verhältnissen am Rande des Erzgebirges auf und begann mit 14 Jahren eine Lehre, weil er als Lehrling warmes Mittagessen bekam. An der ABF in Dresden und Leipzig erlangte er das Abitur und konnte danach an der Karl-Marx-Universität in Leipzig Romanistik studieren. Möckel promovierte, arbeitete als Lektor, Herausgeber, Übersetzer und Nachdichter, und seit den frühen 60er Jahren war er als Lyriker in Anthologien vertreten. Schon bald schrieb er phantastische Geschichten und für die Krimireihen »Blaulicht« und »DIE« (Delikte, Indizien, Ermittlungen) zahlreiche spannende Romane, die zum Teil auch in der DFF-Reihe »Polizeiruf 110« verfilmt und in der BRD nachgedruckt wurden. Mit seiner Frau, der Slawistin Aljonna, hat Klaus Möckel den Sohn Dan, der weder hören noch sprechen kann. Sein Buch »Hoffnung für Dan«, das 1983 die komplizierte Situation der Familie schilderte, erlebte in der DDR fünf Auflagen und wurde auch seither mehrfach neu aufgelegt, darunter in Möckels jetzigem Stamm-Verlag Edition digital in Pinnow. Wie Kästner hat Klaus Möckel Epigramme und Aphorismen veröffentlicht, etwa diesen hier: »Niemand sollte sich wundern, wenn der Nackte die Partei der Taschendiebe wählt.«
Ebenfalls vielseitig und aus Sachsen ist Werner Kohlert, der am 31. Juli 85 wird. In seiner Heimatstadt Pirna wirkte er im Amateurfilmstudio, konnte sich als Kameraassistent im Dresdner Defa-Trickfilmstudio beweisen, bevor er an der Babelsberger Filmhochschule zum Diplomkameramann ausgebildet wurde. Er war gleichberechtigter Partner bei Filmen solcher Könner wie Karlheinz Mund, Jürgen Böttcher, Winfried Junge, Joop Huisken und Lew Hohmann, hat aber seit den 70er Jahren auch als Regisseur und Drehbuchautor gearbeitet. Kohlert begeisterte sich für große Maler, Dichter und andere Künstler. In seinem Diplomfilm »Memento« setzte er 1966 dem Jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee ein Denkmal. Der Kreis schließt sich mit seiner jüngsten Arbeit, einem Buch über die jüdische, in Auschwitz-Birkenau ermordete Fotografin Charlotte Joël.
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