»Befürchten, dass man den Skandal instrumentalisiert«
Interview: Henning von StoltzenbergSeit Tagen wird bundesweit über ein Hochhaus in Duisburg-Hochheide berichtet, den »Weißen Riesen«. Dort herrschen angeblich katastrophale Zustände. Wie schätzen Sie die Lage vor Ort ein?
Philipp Lottholz: Eine Bewohnerin berichtete mir unter Bedingung der Anonymität, dass die meisten Mietwohnungen von ein und demselben Vermieter privat vermietet werden. Um diese mieten zu können, muss man meistens eine Kaution von 2.000 oder 3.000 Euro hinterlegen. Doch die Zustände im Haus seien katastrophal, denn die Reinigungsfirma werde zwar bezahlt, reinige aber nie. Aus diesem Grund sei der Block voller Kakerlaken und Ratten. Beschwerden würden nicht berücksichtigt.
In mehreren Medienberichten wird stark betont, dass ein Teil der Mieter aus Osteuropa stammt. Inwieweit halten Sie diese Berichterstattung für rassistisch aufgeladen?
Polina Manolova: Das lässt sich pauschal schwer sagen, und es lohnt sich, zu erwähnen, dass nicht alle Medien so reißerisch und diskriminierend wie Bild und Spiegel TV berichten. Und es ist nicht das erste Mal, dass »die Osteuropäer« in Duisburg ins Rampenlicht gerückt werden. In Duisburg leben viele Migranten aus Osteuropa, und in der Bevölkerung schwelen schon lange rassistische Einstellungen gegenüber diesen Menschen. Medien und lokale Politiker reproduzieren das Narrativ von den kriminellen, schmutzigen und Sozialleistungen missbrauchenden Roma. Sie benutzen so die Migranten als Sündenböcke für den wirtschaftlichen Niedergang der Region.
Die Wirtschaftsstruktur Duisburgs basiert auf den Sektoren Logistik, Lagerhaltung und Bauwesen, deren Funktionieren durch überwiegend bulgarische und rumänische Migranten als billige Arbeitskräfte gewährleistet wird. Die Arbeitsbedingungen in diesen Branchen sind katastrophal.
Sie sprechen von ähnlichen Konstellationen in der Vergangenheit. Wie hatte die Stadt früher reagiert?
P. M.: Die Duisburger Behörden sind berüchtigt für ihre Politik der Zwangsräumungen. Es ist kein Geheimnis, dass einer der Gründe, warum das Ruhrgebiet von Migranten bevorzugt wird, die Verfügbarkeit von bezahlbarem Wohnraum in einigen Stadtvierteln ist. Dabei handelt es sich um ehemalige Werkssiedlungen, die billig an Investoren und Miethaie verkauft wurden und sich heute in einem erbärmlichen Zustand befinden. Anstatt in die Verbesserung der Wohnverhältnisse zu investieren, führt die Stadt Zwangsräumungen in »Schrottimmobilien« durch, die überwiegend von Bulgaren und Rumänen bewohnt werden. Alle zwei Wochen werden wir Zeugen der schlimmen Auswirkungen, wenn Familien mit kleinen Kindern und kranken Eltern zu uns kommen und um Unterstützung bitten, nachdem sie alles verloren haben – ihre Wohnung, ihre Adresse, Sozialleistungen, Arbeitsplätze.
Wozu dient die mediale Empörung über diese Zustände?
Wir befürchten, dass der aktuelle Skandal um den »Weißen Riesen« instrumentalisiert wird, um unerwünschte Migranten abzuschrecken und gleichzeitig die Verfügbarkeit von bezahlbarem Wohnraum zu verringern. Mahmut Özdemir, parlamentarischer Staatssekretär im
Bundesinnenministerium, von der SPD schlägt vor schlägt vor, die Immobilie aufzukaufen und abzureißen. Solche Schritte führen nicht zur Schaffung von menschenwürdigem Wohnraum. Im Gegenteil, die Stadt verwandelt die Grundstücke in Grünflächen als Teil von Stadterneuerungsprojekten, die darauf abzielen, dubiose Investoren und wohlhabendere Bevölkerungsgruppen anzuziehen.
Wo sehen Sie Lösungsansätze im Sinne der Mieter und des Stadtteils?
P. L.: Die Stadt muss unbedingt von ihrem Ansatz ablassen, einfach alle Häuser mit Mängeln räumen zu wollen und damit beginnen, unverantwortliche Vermieter ernsthaft zu sanktionieren, so dass die Vermietung von Wohnungen ohne Heizung, fließend Wasser oder anderen grundlegenden Einrichtung gar nicht erst erlaubt wird.
Und was muss hinsichtlich des Hochhauses passieren?
P. L.: Im Falle des »Weißen Riesen« ist konkret eine Prüfung der Zuständigkeiten für die Instandhaltung nötig. Zur Verbesserung der Zustände muss der entsprechende Aufwand im Kontakt mit den Bewohnern geleistet werden, auch über Sprachbarrieren hinweg. Das muss von denjenigen, die von der Vermietung des Objektes profitieren, zu erwarten sein. Ein Abriss wäre angesichts der angespannten Wohnraum- und Haushaltslage nicht praktikabel.
Hinweis:
Aktualisierung vom 21.8.2024: In einer früheren Version sprachen unsere
Gesprächspartner von SPD-Innenminister Mahmut Özdemir. Tatsächlich
arbeitet der SPD-Bundestagsabgeordnete Mahmut Özdemir als
parlamentarischer Staatssekretär im Bundesinnenministerium unter der
Leitung von Innenministerin Nancy Faeser (SPD). Wir bitten den Fehler zu
entschuldigen. (jW)
Polina Manolova und Philipp Lottholz sind Sprecher des Vereins »Stolipinovo in Europa«
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