»Nur wenige jüdische Israelis haben eine antizionistische Einstellung«
Interview: Annuschka Eckhardt und Sebastian CarlensDer Staat Israel weitet seinen Krieg aktuell aus, ist nun auch in den Libanon einmarschiert. Wie schätzen die Menschen in Israel diese Eskalation ein? Regt sich Widerstand in der Bevölkerung gegen diesen Kurs?
Bis jetzt regt sich in Israel kaum Widerstand. Die Demütigung durch den Erfolg der Hamas am 7. Oktober 2023 hat zwar die Lust nach Rache in der Gesellschaft geweckt, aber auch eine enorme Verunsicherung und einen Vertrauensverlust in die Armee hervorgerufen. Vor diesem Hintergrund sind die jüngsten »Erfolge« im Libanon vor allem als Vergewisserung zu lesen, dass Israel doch noch so stark ist wie gewünscht. Da haben wir es mit dem tiefsten Konzept des Zionismus zu tun: Juden müssen sich verteidigen können, oder das nächste Pogrom, der nächste Holocaust wird kommen. Erfolge gegen Hisbollah und Iran sind so als eine psychologische Notwendigkeit für die Juden in Israel zu lesen.
Ich möchte übrigens davor warnen, den Krieg im Libanon mit dem Geschehen in Gaza und im Westjordanland zu vergleichen. Historisch gesehen verfolgt Israel dort im Gegensatz zu dem Wunsch, das palästinensische Land zu enteignen, keine ähnlichen Vorhaben. Die Gesellschaft erinnert sich noch sehr gut an den »libanesischen Schlamm«, wie die rund 18 Jahre andauernde militärische Verwicklung (1982 bis 2000) Israels im Libanon genannt wird. Sie hat sehr viele Soldaten das Leben gekostet und ist im kollektiven Gedächtnis der israelischen Bevölkerung ein Desaster geblieben. Die Menschen haben Angst, dass sich das wiederholen könnte. Anders als beim Krieg gegen Gaza wird es für die israelische Regierung schwer sein, einen lange andauernden Angriff auf den Libanon zu rechtfertigen.
Sie leben seit mehr als 20 Jahren in der BRD, die sich ihrer besonderen Beziehung zu Israel rühmt. Wie erleben Sie die »bedingungslose Solidarität« der deutschen mit der israelischen Regierung, speziell seit Beginn des Gazakriegs, als in Berlin lebender Israeli?
Ich muss sagen, ich hatte lange den Luxus, die deutsche Gesellschaft eher von außen betrachten zu können. Politik war für mich weiterhin in erster Linie israelische Politik. Ich hatte viel Glück bei meiner Arbeit als Dirigent und habe viele Chancen bekommen.
Seit dem 7. Oktober 2023 und allem, was seitdem in Gaza passiert, hat sich etwas verändert in meiner Betrachtung. Die Reaktion – oder besser: die Nichtreaktion – der überwältigenden Mehrheit der deutschen Gesellschaft auf die israelische Kriegführung hat mich wirklich erschreckt. Und ich schäme mich zuzugeben, dass mir nicht bewusst war, was für ein tief verwurzelter Rassismus gegenüber Palästinensern und Muslimen ganz allgemein in der deutschen Gesellschaft existiert. Das schockiert mich sehr.
Als Grund für die bedingungslose Solidarität mit Israel wird häufig die deutsche Geschichte ins Feld geführt. Hat die deutsche Gesellschaft Lehren aus dem Holocaust gezogen?
Deutschland hat Lehren gezogen, aber nicht bis zu Ende. Wenn man als Jude aus einem Land wie Israel nach Deutschland kommt, ist man extrem geprägt; es hat bei mir ein paar Jahre gedauert, bis ich mich davon befreien konnte, quasi hinter jedem Baum Antisemitismus lauern zu sehen.
Für mich persönlich ist die jüdische Geschichte ein Grund, alles zunächst vom Standpunkt des Schwachen, Wehrlosen zu betrachten. Eigentlich war ich immer glücklich, zu den Unterdrückten der Weltgeschichte zu gehören. Juden hatten, bis der Staat Israel gegründet wurde, praktisch nie die Gelegenheit, Oberhand über andere Völker zu gewinnen, um sie auszubeuten oder zu foltern. Als Jude fühle ich, dass ich zu unterdrückten und schwächeren Gruppen stehen muss. Es ist absurd, dass in der deutschen Diskussion ständig und ausschließlich die Muslime als Gefahr für die Juden oder als Antisemiten dargestellt werden. Andererseits werden hier lebende Juden als »antisemitische«, »sich selbst hassende Juden« bezeichnet, wenn sie gegen die israelische Kriegführung demonstrieren oder sich für die Rechte von Palästinensern einsetzen.
Gerade die deutsche Schuld am Holocaust wird als Argument herangeführt, warum nur ein militärisch starkes und aggressives Israel in der Lage sei, ähnliche Verbrechen in Zukunft zu verhindern.
Der Holocaust war sicher nicht nur ein Verbrechen am Judentum, sondern ein Verbrechen an der ganzen Menschheit. Die universale Lehre aus dem Holocaust scheint entweder Israel oder Deutschland gelehrt zu haben. Das zeigen sowohl Israels Zerstörung des Lebens in Gaza und seine Behandlung der Palästinenser als auch die bedingungslose Unterstützung Israels von seiten Deutschlands. Das Paradoxe ist, dass in Deutschland das Agieren Israels durch die deutsche Schuld gerechtfertigt wird. Dieser Umstand ist einfach unerträglich. Seit über 120 Jahren sind alle Palästinenser Opfer von Enteignung und Aggressionen. Deswegen ist auch meine Trauer so groß über das, was mein Land im Namen unseres Volkes macht. Weltweit sind sehr viele Juden damit nicht einverstanden.
Sie kennen die israelische Gesellschaft gut. Wird dort ähnlich rabiat gegen antimilitaristische oder antizionistische Positionen vorgegangen wie in Deutschland?
Natürlich gab es speziell nach dem 7. Oktober einige solcher Fälle, auch gegen Juden: Ein Lehrer wurde beispielsweise aus dem Schuldienst entfernt, weil er etwas gegen Zionismus auf Facebook geschrieben hatte. Aber im Grunde genommen muss der Staat das nicht wirklich bekämpfen. Denn nur eine sehr kleine, im Grunde winzige Gruppe der jüdischen israelischen Bevölkerung vertritt eine wirklich antizionistische Einstellung. Zum großen Teil antizionistisch eingestellt sind die arabischen Israelis – ich meine die Palästinenser, die die israelische Staatsbürgerschaft besitzen.
Die Israelis haben einen sehr komplexen, klugen Mechanismus entwickelt, mit dem es bis jetzt, ohne wirklich diktatorisch auftreten zu müssen, gelungen ist, Antizionismus von Anfang an als unerwünscht erscheinen zu lassen. Dieser Komplex zieht sich durch das gesamte Bildungs- und Erziehungssystem und auch durch die Medien und ist ein nicht zu diskutierendes, allgegenwärtiges Phänomen geworden. Das politische Konzept des historischen Zionismus, so wie wir hier darüber sprechen, wird dabei eigentlich von niemandem mehr vertreten. Antizionismus wird so zu einem Tabu, ohne dass dafür Polizeieinsätze nötig wären.
Wie nehmen Sie antimuslimischen und antipalästinensischen Rassismus in Israel wahr?
Die gesellschaftlichen Kontakte zwischen jüdischer und palästinensischer Bevölkerung in Israel sind oft nur minimal vorhanden. In vielen Orten oder Städten sind Palästinenser höchstens als Bauarbeiter auf Baustellen sichtbar. Es gibt natürlich viele gemischte Städte wie Jaffa oder Haifa, wo viele jüdische und muslimische Israelis leben. Ironischerweise sind es oft jüdische Siedler, die viel engere gesellschaftliche Beziehungen unterhalten und wirklich mit Palästinensern in regelmäßigem Kontakt stehen. Ansonsten besteht der Kontakt auf der Ebene der Dienstleistungen. In Restaurants oder im Krankenhaus zum Beispiel arbeiten mittlerweile sehr viele Palästinenser, nicht unbedingt in den bestbezahlten Berufen.
Es gibt Linke und Liberale in Israel, die sich darüber freuen: »Guck mal, das könnte doch irgendwie gut gehen!« Aber letztendlich fürchten sie die potentielle Gefahr, die von den nichtjüdischen Israelis ausgehen könnte, natürlich weiterhin. Zionismus in seiner Definition als »Land der Juden« trennt uns von diesen Menschen im vorhinein.
Die ganze Tragödie besteht darin, dass diese Angst herrscht, seit die Juden auf der Flucht vor den Nazis nach Palästina kamen. Sie kamen als Flüchtlinge, Schuld trugen die Deutschen. Die Palästinenser fragen sich: Warum mussten wir das Opfer dieser Angelegenheit werden? Die Frage auf diese Weise zu stellen, ist etwas zu simpel. Da treffen sich tatsächlich zwei schwächere Völker in einer unmöglichen Situation als Opfer eines dritten Volkes. Das Verhältnis zwischen jüdischen und muslimischen Israelis besitzt weiterhin eine riesige demographische Bedeutung in Israel. Alle haben die ganze Zeit Angst. Deswegen ist das Recht auf Rückkehr der Palästinenser in ihre Heimatorte ein emotional so schwieriges Thema für die meisten Israelis.
Dennoch fanden in Israel Massendemonstrationen gegen die Regierung statt, es kam zu Aufrufen für Generalstreiks. Welche Rolle spielt der Krieg in Gaza bei diesen Protesten? Immerhin wird hierzulande immer auf die »einzige Demokratie im Nahen Osten« verwiesen.
Es wird oft versucht, den regierungskritischen Demonstrationen das Image von Antikriegsdemonstrationen zu verpassen. Leider muss man sagen, dass der größte Teil der Demonstranten, die für ein Ende des Krieges demonstrieren, dies nicht mit Blick auf die Menschen in Gaza tut, sondern aus pragmatischen, eigentlich militärischen Erwägungen: Erst einmal einen Deal zur Befreiung der Geiseln machen und später dann die Hamas entsorgen. 40 Minuten von Tel Aviv entfernt ereignet sich die vollständige Zerstörung einer ganzen Stadt. Die Menschen scheinen damit einfach weiterleben zu können.
In Deutschland geraten arabische und muslimische Menschen, darunter auch viele Palästinenser, als gesellschaftliche Minderheit spätestens seit dem 7. Oktober unter Generalverdacht. Die Gefahr, den Aufenthaltsstatus zu verlieren, ist groß, selbst der Entzug des deutschen Passes wurde ernsthaft diskutiert. Ist dieser Konflikt in der deutschen Gesellschaft ein Thema unter Juden in Deutschland?
Ich glaube, es gibt im Grunde genommen drei Gruppen – darunter diejenige, zu der ich gehöre. Für uns hat der Konflikt nicht am 7. Oktober 2023 angefangen, es gibt vielmehr eine längere Vorgeschichte. Zwar haben wir anfangs etwas gezögert, waren aber ab dem Moment, als es hier Proteste gegen die Zerstörung Gazas gab, ebenfalls auf der Straße. Dann gibt es natürlich die exakte Gegenposition, also die unbedingte Solidarisierung mit dem Vorgehen Israels, die Desavouierung aller propalästinensischen Stimmen in Deutschland. Diese Positionen werden vermutlich nicht einmal überrepräsentiert dargestellt, etwa in den Talkshows. Sie werden schlicht von einer Mehrheit der deutschen Juden vertreten.
Eine dritte, interessante Gruppe sind die Israelis, die in Deutschland leben. In den letzten 20 Jahren sind viele Israelis eingewandert, vor allem nach Berlin. Darunter sehr fähige Köpfe, Künstler und Akademiker. Viele befinden sich in einer seltsamen Situation, weil sie wissen, dass das deutsche Spiel heuchlerisch ist. Und trotzdem haben sie genuine, wahre Ängste, bezüglich der AfD zum Beispiel. Sie sehen, dass die AfD immer mehr Zulauf erhält, insbesondere wenn man die Menschen mit dem Thema »muslimischer Antisemitismus« füttert. Ich glaube, sie haben es besonders schwer, sie hängen wirklich zwischen diesen beiden Polen.
Ich wünsche mir natürlich, dass sie den nächsten Schritt machen und sich an der Seite der Palästinenser positionieren. Ich bin überzeugt, dass die Gefahr des Antisemitismus in diesem Land nicht von den Muslimen kommt. Nachdem ich jetzt viele Monate mit Palästinensern in Deutschland ins Gespräch gekommen bin, bei den vielen gemeinsamen Demonstrationen gegen den Gazakrieg, stelle ich fest, dass der Kontakt zwischen Palästinensern und Juden von Respekt geprägt ist. Trotz des Genozids in Gaza und der Besatzung in der Westbank.
Wie schätzen Sie die Perspektiven der Proteste in Deutschland gegen den Krieg in ein?
Ich glaube, es gibt einen nicht so kleinen Teil in der deutschen Gesellschaft, der spürt, dass eindeutig etwas nicht stimmt. So dumm ist die Bevölkerung nicht, wie die Politik sich das manchmal wünscht. Doch gleichzeitig ist es beängstigend, wie Medien und Politik es geschafft haben, die Proteste gegen den Gazakrieg zu dämonisieren und zu illegalisieren. Viele Menschen, die nur durch die Hetzkampagnen gegen »antisemitische Palästinenser« abgeschreckt wurden, wären sonst schon längst mit uns auf der Straße. Aber auch die Polizeigewalt tut ihr übriges. Die Polizisten sind hier eine Manifestation der Staatsräson. Die wiederum ist ein Instrument in der Hand der Politik. Die regelmäßigen Eskalationen und Gewalttätigkeiten sind erwünscht, um zögernde Bürger in Angst und Schrecken zu versetzen. Wer geht schon auf eine Kundgebung, wo es, wie man hört, regelmäßig Verletzte gibt? Ich kann nur hoffen, dass mehr Menschen einen Weg finden, mit uns – Israelis, Palästinensern, Juden aus Deutschland – ins Gespräch zu kommen.
Um diesen Dialog zu fördern, haben Sie eine Veranstaltungsreihe ins Leben gerufen – worum geht es dabei?
Zusammen mit meinem Kollegen Haig Ghokassian organisieren wir eine Reihe von Gesprächsrunden unter dem Titel »Zeit zu reden«. Ziel ist es, einen Dialog zwischen Teilen der Gesellschaft zu öffnen, die einander in der öffentlichen Diskussion sonst kaum begegnen. Vor allem die palästinensische Stimme in Deutschland wollen wir mit der sogenannten Mitte der Gesellschaft ins Gespräch bringen. Die Entwicklung im vergangenen Jahr hat bei der Palästina-Bewegung zu einer starken Entfremdung geführt, und das, muss ich sagen, verständlicherweise. Denn welchen Wert haben palästinensische Leben in den Augen der deutschen Gesellschaft, wenn die Reaktion auf den Krieg gegen Gaza so aussieht, wie das aktuell der Fall ist? Welcher Sinn soll da im Dialog gesehen werden? Es sollte in unseren Paneldiskussionen eine Dialektik entstehen, die diese Tatsache nicht ignoriert. Themen wie die Staatsräson, die mediale Berichterstattung über Israel und Palästina, und ja, auch der Antisemitismus müssen mit allen Teilen der Gesellschaft diskutiert werden.
Ido Arad ist Dirigent und Aktivist in der Palästina-Solidarität. In jüngster Zeit debütierte er an der Semperoper Dresden mit Mozarts »Le Nozze di Figaro« und am Salzburger Landestheater mit einer Neuproduktion von Webers »Oberon«.
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