Die Ergänzung des Krieges
Von Gerd BedszentSeit Februar 2022 führen Westeuropa und die USA erklärtermaßen einen Wirtschaftskrieg gegen Russland. Der Historiker Hannes Hofbauer hat sich vor diesem Hintergrund mit den allgemeinen Ursachen von Wirtschaftskriegen und daneben auch mit den Hintergründen des aktuellen Falls beschäftigt. Er zitiert ganz am Anfang seines Buches aus einer vom einstigen US-Präsidenten Woodrow Wilson gehaltenen Rede: »Der Krieg ist eine barbarische Sache, (…) der Boykott allerdings ein unendlich viel schrecklicheres Kriegsinstrument.« Wie Hofbauer allerdings findet, sei es letztlich nie gelungen, eine bewaffnete Auseinandersetzung durch Androhung wirtschaftlicher Sanktionen zu verhindern. Wirtschaftskriege sind daher nicht an die Stelle militärisch geführter Kriege getreten – sie ergänzen diese lediglich. Und sie kosten, wie Hofbauer in seinem Buch mit zahlreichen Beispielen belegt, ebenfalls Millionen Opfer – ganz überwiegend Zivilisten.
Hofbauer beginnt seinen Durchgang durch die Geschichte von Wirtschaftskriegen in der frühen Neuzeit. Absolutistische Herrscher, frühbürgerliche Regierungen und Städtebünde begannen damals, ihre Interessen nicht nur militärisch, sondern auch in Gestalt von Sanktionen, Embargos und Wirtschaftsblockaden durchzusetzen. Bekanntestes – aber keineswegs einziges – Beispiel war die Kontinentalsperre, mit der Napoleon die überlegene und für ihn militärisch nicht erreichbare Wirtschaftsmacht England (vergeblich) auszuschalten versuchte. Das bürgerliche England erwies sich allerdings auch damals schon als ausgesprochen tüchtig in der wirtschaftlichen Kriegführung. Es hatte aber eben auch einen nicht ganz unwichtigen Vorteil: Wirtschaftsblockaden und dergleichen »funktionierten« grundsätzlich immer nur dann, wenn sie von ökonomisch stärkeren Ländern oder Blöcken gegen schwächere Länder angewendet wurden. Zu leiden hatte so oder so immer die Bevölkerung. Wie Hofbauer betont, sind ökonomische Zwangsmaßnahmen westlicher Staaten gegen Russland älter als der Kalte Krieg.
Richtig eskalierten die die militärischen Konflikte flankierenden Wirtschaftskriege aber erst mit der zunehmenden Entwicklung des Kapitalismus. Der Erste –krieg wurde von scharfen wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen zwischen den beteiligten und auch gegen neutrale Staaten begleitet.
Die Blütezeit der modernen »Sanktionen« begann aber erst nach dem Zweiten –krieg. Gegen die Sowjetunion und auch die DDR wurden während der ganzen Zeit ihrer Existenz alle möglichen ökonomischen Daumenschrauben angesetzt – der Kalte Krieg war in der Hauptsache ein Wirtschaftskrieg. So wurde schon damals von den USA hartnäckig versucht, durch Embargomaßnahmen die Lieferung sowjetischen Erdöls nach Europa zu unterbinden. Auch unabhängig gewordene Staaten im globalen Süden waren immer wieder Ziel von wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen. Seit 1977 ist das Aushungern ziviler Bevölkerungsgruppen als Mittel der Kriegführung zwar völkerrechtlich verboten – tatsächlich wird dieses Verbot von den großen Mächten aber ignoriert. Wie Hofbauer schreibt, kämpft seit der Jahrtausendwende etwa ein Drittel der –bevölkerung mit den Folgen ökonomischer Zwangsmaßnahmen.
Wenig bekannt sind die sozialen Folgen der Embargomaßnahmen westlicher Staaten gegen den bis 1989 sozialistischen Osten für Länder des Südens. Als in den 1970er Jahren der Kleinstaat Bangladesch sich erdreistete, Wirtschaftsbeziehungen zum sozialistischen Kuba aufzunehmen, kosteten die umgehend verhängten Zwangsmaßnahmen westlicher Staaten etwa eine Million Bangladescher das Leben. Mit dem Zusammenbruch des sozialistischen Osteuropas endeten diese Maßnahmen keineswegs. Die Sanktionen gegen den Irak kosteten in den 1990er und 2000er Jahren ebenfalls etwa eine Million Menschen das Leben.
Unmittelbar nach dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine wurden russische Vermögenswerte bei westlichen Banken eingefroren und jegliche Transaktion mit der russischen Zentralbank untersagt. Das zielt offiziell auf die postsozialistischen Oligarchen in Russland, in der Sache aber wie eh und je auf die unbeteiligte Masse der Bevölkerung – bislang allerdings, so scheint es, ohne Wirkung. Ein wirtschaftlicher und in der Folge politischer Zusammenbruch Russlands würde westlichen Unternehmen den nächsten Raubzug in Richtung Osteuropa ermöglichen – ein Hintergrund des aktuellen Wirtschaftskrieges, den man im Getöse der Tagespolitik nicht vergessen sollte.
Hannes Hofbauer: Im Wirtschaftskrieg. Die Sanktionspolitik des Westens und ihre Folgen. Das Beispiel Russland. Promedia, Wien 2024, 254 Seiten, 22 Euro
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