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Aus: Ausgabe vom 15.10.2024, Seite 8 / Ausland
Kolonialismus in Palästina

»Netanjahu will ein ›Großisrael‹«

Über Perspektiven aus Lateinamerika auf zionistischen Kolonialismus in Palästina. Ein Gespräch mit Siman Kury
Interview: Thorben Austen
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Gegen den Kolonialismus: Protest in Solidarität mit Palästina in Mexiko-Stadt (15.12.2017)

Vor einem Jahr begann der Krieg in Gaza. Welche Bilanz ziehen Sie?

Die Welt weiß, was vor sich geht. Es gibt 45.000 bestätigte Tote, 95.000 Verletzte und unzählige Verschwundene. Rund zwei Millionen Menschen wurden aus ihren Häusern vertrieben. Das ist kein Krieg, es ist ein Massaker. Wie kann man die Konfliktparteien vergleichen, wenn auf der einen Seite eine hochgerüstete Armee, eine der modernsten der Welt, und auf der anderen Seite eine Widerstandsbewegung steht? Ich sage nicht »Hamas«, weil es der gesamte palästinensische Widerstand ist: der Islamische Dschihad, die Volksfront zur Befreiung Palästinas und die Hamas, auch wenn letztere momentan die meisten Kämpfer stellt.

Sie sind der Auffassung, der Staat Israel dürfe nicht existieren. Was meinen Sie damit?

Das möchte ich präzisieren. Ich meine das zionistische Israel, das von imperialistischen Staaten installiert wurde, um deren Interessen zu verteidigen. Es geht dabei nicht um Antisemitismus. Als Araber möchte ich in einem demokratischen, laizistischen Staat leben, in dem alle Menschen die gleichen Rechte haben. Die Gründung Israels war illegal, die UN-Teilung war illegal und führte während der Nakba 1948 zur Vertreibung von 75 Prozent der Bevölkerung. Trotzdem war damals noch vorgesehen, dass das Territorium Palästinas zu 56 Prozent an Israel geht, zu 42 Prozent an die Palästinenser und dass zwei Prozent um Jerusalem und Bethlehem unter internationaler Kontrolle stehen. Davon ist heute in Israel nicht mehr die Rede. Netanjahu (amtierender Premierminister, jW) will ein »Großisrael«. Von den verbliebenen 22 Prozent palästinensischen Territoriums in Palästina sind rund acht Prozent durch den Bau der gigantischen Grenzanlagen in Mitleidenschaft gezogen. Die verbliebenen 14 Prozent sind bedroht durch etwa 650 israelische Siedlungen mit rund 850.000 Siedlern, die sich im verbliebenen Territorium ausbreiten.

Wir sprechen miteinander am Rande eines Treffens des Netzwerkes »Abya Yala Soberana« zum Thema Dekolonialisierung in Guatemala. Was hat Palästina mit Kolonialismus zu tun?

Israel kolonisiert das Land und möchte ein Palästina ohne Palästinenser. Die Menschen in Gaza flüchten hin und her: erst in den Norden, dann wird dort bombardiert, dann flüchten sie wieder in den Süden. Die Menschen leben ohne Wasser, ohne Dach, ohne Essen. Jeder Mensch mit Herz muss sich heute für Palästina engagieren. Ich schäme mich für die Reaktion der westlichen Staaten, der angeblichen Demokratien. Ich höre zum Beispiel, in Deutschland sind palästinensische Fahnen teilweise verboten, und die Polizei geht gegen sie vor. Der Westen hat ein Interesse, aus dem Konflikt einen Religionskonflikt zu machen, der er nicht ist. Wir Araber haben nichts gegen das Judentum oder andere Religionen.

Wie positionieren sich lateinamerikanische Staatschefs?

Es gibt im Nahen Osten keine Demokratien, sondern Diktaturen, die sich nicht um ihre Bevölkerung kümmern. Ein rassistischer Apartheidstaat wie Israel ist aber ebenfalls keine Demokratie. Lateinamerika hat mehr Erfahrung mit Demokratie. Gustavo Petro, der Präsident von Kolumbien, hat auf die Verbrechen mit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu Israel reagiert und Waffenimporte von dort gestoppt, ebenso wie den Export kolumbianischer Kohle nach Israel. Auch die Regierungen von Brasilien, Venezuela und Kuba positionieren sich klar.

Wie ist die Situation von Palästinensern in Lateinamerika?

In El Salvador, wo ich lebe, gibt es zwischen 120.000 und 150.000 Menschen palästinensischer Herkunft. Es gibt eine lange Migrationsgeschichte seit 1879 sowie eine Geschichte der Diskriminierung, was auch dazu geführt hat, dass viele Menschen palästinensischer Herkunft heute ihre Sprache nicht mehr sprechen. Der palästinensische Klub in El Salvador existiert seit 73 Jahren. Wir wollen im November in den Räumlichkeiten des Klubs das erste palästinensische Museum in Lateinamerika eröffnen. Wir bemühen uns um das Bewahren unserer Kultur durch Essen, Tänze und Sprachkurse. Auch in anderen lateinamerikanischen Ländern gibt es große Communitys.

Siman Kury ist Präsident der Palästinensischen Union Lateinamerika

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