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Aus: Ausgabe vom 28.10.2024, Seite 10 / Feuilleton
Nachruf

Dialektik fürs Kapitalozän

Zum Tod des Wissenschaftsphilosophen Peter Ruben
Von Martin Küpper
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Peter Ruben (1. Dezember 1933–20. Oktober 2024)

Nachdem die gröbsten Trümmer des Zweiten Weltkriegs beseitigt waren und Stalin 1953 gestorben war, setzte die Sowjetunion in der Systemauseinandersetzung stärker auf die Wirtschaft als auf das Militär. Damit einher ging eine Aufwertung der wissenschaftlichen Disziplinen im geistigen Haushalt des sozialistischen Lagers. Auf komplizierten Wegen setzten sich Konzepte durch, die der Philosophie einerseits weiterhin weltanschauliche Aufgaben zuwiesen, andererseits mehr wissenschaftliche Eigenständigkeit forderten. Die Philosophie sollte sich auf den Sozialismus ausrichten und ihre geistigen Mittel für die Gestaltung dieser Gesellschaft einsetzen. Dazu mussten in engem Kontakt mit den anderen Wissenschaften Instrumente entwickelt werden, die alsbald »unter die Leute« gebracht werden sollten.

Die Generation, die diesen Spagat zu bewältigen hatte, wurde in den 1920er und 1930er Jahren geboren, hatte Krieg und Zerstörung noch am eigenen Leib erfahren und daraus die Konsequenz gezogen, sich für den Sozialismus einzusetzen. Ihr Schaffen erreichte in den 1960er und 1970er Jahren seinen Höhepunkt. Die Philosophie wirkte als Produktivkraft, gab Impulse, knüpfte Netzwerke und verbreitete Ideen. In der DDR war die Neuformierung der Philosophie eng mit Wissenschaftstheorie, Naturwissenschaft und Logik verbunden. Politische Leitplanken waren das Neue Ökonomische System der Planung und Leitung, die sozialistische Kulturrevolution und die Hochschulreformen.

Vor diesem Hintergrund konnte der am 20. Oktober 2024 verstorbene Peter Ruben seine bis heute hochinteressanten und umstrittenen Thesen entwickeln. Er wurde 1933 in Berlin geboren, legte 1952 das Abitur ab und leistete bis 1955 Dienst bei der Kasernierten Volkspolizei. Im selben Jahr trat er in die SED ein und begann ein Studium der Philosophie mit Nebenfach Physik an der Humboldt-Universität Berlin. 1958 musste er sein Studium abbrechen. Ruben wurde von der Universität verwiesen und musste aus der SED austreten, weil er wiederholt die Partei- und Kulturpolitik sowie die offizielle Interpretation der Ereignisse von 1956 in Polen und Ungarn in Frage gestellt hatte. Ruben verdingte sich als Hilfsarbeiter beim Bau des Flughafens Schönefeld. Statt in die Bundesrepublik überzusiedeln, entschied er sich für eine Rückkehr zur Philosophie. Ruben konnte 1961 sein Studium fortsetzen und wurde 1964 wieder in die SED aufgenommen. 1969 wurde er über das Verhältnis von Mechanik und Dialektik promoviert, 1976 folgte die Dissertation B »Widerspruch und Naturdialektik«. Eine Gastprofessur in Aarhus und der Wechsel an das Zentralinstitut für Philosophie der Akademie der Wissenschaften führten dazu, dass sein Ansatz zunehmend Beachtung fand. 1981 wurde er erneut aus der SED ausgeschlossen und in seinen Wirkungsmöglichkeiten stark eingeschränkt, bevor er 1990 kurzzeitig Direktor des Zentralinstituts für Philosophie an der Akademie der Wissenschaften wurde und dessen »Abwicklung« durchführen musste. Eine Karriere in der Bundesrepublik blieb ihm verwehrt.

In den 1960er und 1970er Jahren schrieb Ruben eine Reihe von Aufsätzen, in denen er seinen Ansatz ausarbeitete. Wie interdisziplinär Ruben dabei vorging, indem er immer wieder Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Physik, Mathematik, Logik und Dialektik herausarbeitete, lässt sich in den verdienstvollen vier Bänden der »Gesammelten philosophischen Schriften« nachvollziehen. Diese Ausgabe hat nach ihrem Erscheinen ein breites Echo in der deutschsprachigen Wissenschaftslandschaft gefunden, was für einen Philosophen aus der DDR ungewöhnlich ist. Das Interesse an seinem Werk ist nicht nur der Tatsache geschuldet, dass er fast zum Dissidenten wurde und damit innerhalb der ideologisch aufgeladenen Klammer von Dogma und Opposition eingeordnet werden könnte. Es zeigt auch, dass die von ihm vertretenen Thesen nichts von ihrer Aktualität verloren haben, weil er Probleme benennt, die weder praktisch noch theoretisch gelöst sind, etwa der Riss zwischen Kapital und Natur.

In dem Aufsatz »Problem und Begriff der Naturdialektik« von 1969, der es nicht in die große Ausgabe geschafft hat, macht Ruben deutlich, dass »mit der Frage, ob die Natur eine Geschichte hat, der Sinn einer Dialektik der Natur steht und fällt«. Die meisten der heute dominierenden Marxismen westlich der Elbe haben diese Frage aus Ignoranz gegenüber den Naturwissenschaften leichtfertig verworfen, weshalb auch der Ökomarxismus bis heute ein Schattendasein fristet. Ruben hingegen sah in der Dialektik der Natur »wesentlich die Theorie des Menschen als Naturwesen«. Damit ist nicht gemeint, dass man bedenkenlos zur Natur zurückkehren könne, wie es einige grassierende Verzichtsideologen angesichts drohender ökologischer Katastrophen predigen. Vielmehr lehrt die Dialektik der Natur, dass die Aneignung der Natur durch die privat-exklusiven Produktionsverhältnisse unserer Zeit ein »unmenschliches Verhältnis« darstellt und menschliches Dasein nur unter der Voraussetzung des gesellschaftlichen Eigentums möglich ist. »Die Aneignung der Natur als gesellschaftliches Eigentum ist«, so Ruben, »der Inhalt der sozialistischen Revolution«.

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