Konsequente Auflösung
Von Alexander KasbohmSeit fast 20 Jahren beschäftigt sich Carsten Nicolai als Alva Noto in seiner »Xerrox«-Reihe mit den Möglichkeiten und der Idee der Kopie. Ausgangspunkt war die verlustfreie Multiplizierbarkeit im digitalen Zeitalter, die ja so verlustfrei nicht ist. Die Verluste sind nicht graduell, wie im Analogen. Es vermehren sich aber mit den Kopiervorgängen die Fehler in der Matrix aus Nullen und Einsen, und wenn die Fehlerkorrekturtoleranz überschritten ist, ist die Datei kaputt. Es entstehen auf einmal deutliche Störungen. Die Romantik der Reise, die der langsamen Abnutzung des Analogen innewohnt, fehlt im Digitalen. In der digitalen Welt gibt es – theoretisch – keine Abnutzung und Verluste wie in der analogen Welt. Ein File ist ein File ist ein File … bis er es eben nicht mehr ist, weil er durch die Multiplikation der Fehler, die beim Kopiervorgang entstehen, korrumpiert wird.
Die Auflösung in ihrer dreifachen Bedeutung (Auflösung eines Rätsels, die Auflösung einer Substanz in einer anderen und die fotografische Auflösung) ist ein zentraler Aspekt der Xerrox-Reihe. Zoomt man in einen Klang oder ein Bild hinein, stößt man irgendwann an die Grenzen der Auflösung. Wie der Fotograf Thomas in Michelangelo Antonionis Film »Blow-Up«, der vielleicht einen Mord fotografiert hat oder vielleicht auch nicht, auf der Suche nach der Wahrheit ein Bild immer weiter vergrößert, bis die einzelnen Bildpunkte ihren Bedeutungszusammenhang verlieren und das Gehirn – wie bei einem Rohrschachtest – neue Zusammenhänge schafft, sich also an der Grenze der fotografischen Auflösung der ursprüngliche Sinn auflöst, arbeitet Nicolai mit den »Glitches«, die durch das wiederholte Kopieren entstehen. Carsten Nicolai hat eine Software entwickelt, die diesen Vorgang beschleunigt, und dann die beeinträchtigten Files als Ausgangspunkt für musikalische Assoziationen genommen. Diese Suche nach Bedeutungspartikeln im Rauschen, in ungeordneten Geräuschen, stand im Mittelpunkt von »Xerrox 1« und »Xerrox 2«.
Mit »Xerrox 3« begann Nicolai sich von der technologischen Strenge des Konzepts immer mehr zu lösen. Was als Interaktion des Menschen mit den Zufällen und Fehlern der Kopie begann, wurde immer mehr zu einer Reflexion über die Idee der Kopie. Diese thematische Reise von der Konstruktion zur Komposition findet nun mit »Xerrox 5« ihren Abschluss. Zwar sieht Nicolai sich nach wie vor nicht als Komponisten im klassischen Sinne, aber seine Arbeiten an Filmmusiken, Auftritte mit Orchestern und seine Kooperationen mit Ryuishi Sakamoto sind Teile einer musikalischen Entwicklung, die sich natürlich auch auf »Xerrox« niederschlagen. Die zur Unkenntlichkeit korrumpierten und bearbeiteten Samples sind Originalkompositionen für Streicher und streicherähnliche Flächen gewichen. Hinzu kommt, dass man sich im Laufe von 20 Jahren auch menschlich verändert. Mit 40 bewegen einen andere Dinge als mit knapp 60. So liegt über »Xerrox 5« eine reflektive Ruhe. Das Thema »Abschied« schleicht sich in verschiedenen Formen mit zunehmendem Alter in unser aller Leben. Nicht allein Nicolais langjähriger musikalischer Partner Ryuichi Sakamoto ist in den letzten Jahren verstorben.
Auch die technologische Entwicklung spielt bei der Veränderung eine Rolle. Die digitale Welt ahmt die analoge immer getreuer nach, was wir nicht nur am gegenwärtigen Fortschritt im Bereich der KI sehen. Wozu noch die technischen Unzulänglichkeiten abbilden und mit ihnen arbeiten, wenn diese spürbaren Unzulänglichkeiten aus dem Alltag verschwunden sind, in dem Sinne, dass sie kaum mehr wahrnehmbar sind? Wenn die Unsauberkeiten und Fehler, die kreativem Missverstehen und Neuinterpretieren Raum geben, verschwunden sind? Die technologische Singularität, in der uns die Beherrschung der Technik aus dem Ruder läuft, ist vielleicht schon erreicht. Carsten Nicolai sieht in den Polen Ratio und Emotion, Klarheit und Romantik keinen Widerspruch, sondern eine notwendige Balance. In der Persönlichkeit und in der Musik. Die »Xerrox«-Reihe ist ein Argument für diese These und das abschließende »Xerrox 5« ein konsequenter Schlusspunkt, eine konsequente Auflösung. Man könnte es auch als Höhepunkt sehen, aber die besondere Stärke liegt in der Geschlossenheit des Konzepts. Oder, um es romantischer und weniger technokratisch auszudrücken: in der Reise.
Alva Noto: »Xerrox 5« (Noton/Alive)
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