Rotlicht: Genre
Von Felix BartelsEs ist üblich, Literatur zu klassifizieren. Das Ergebnis solcher Unternehmung nennt man »Genres«. Ein Genre grenzt eine bestimmte Gruppe innerhalb der Gesamtmenge Literatur von anderen Gruppen ab, aufgrund von den Werken innewohnenden Eigenschaften. Je nachdem, welche Art Eigenschaften man dabei zum Kriterium macht, wird man verschiedene Genreordnungen erhalten.
Zunächst dienen Genres der Übersicht. Eine wilde Ansammlung literarischer Werke wird strukturiert. Auf Genre‑bestimmung geht nicht zu verzichten, weil in der Wissenschaft der Inhalt wesentlich an die Form gebunden ist. Auch für die literarische Praxis allerdings, das Dichten, scheint Genrebewusstheit förderlich. Dramaturgische Griffe etwa werden bewusst, weil sie erprobt sind. Indem der Autor sich den Genreregeln unterwirft, büßt er seine Freiheit nicht ein, er gewinnt sie, insofern Handwerk ihm Möglichkeiten öffnet, die der Drauflosschreibende nie haben kann. Selbst die Brechung von Genreregeln benötigt Genrebewusstheit, gezieltes Enttäuschen von Erwartungen setzt Wissen über die Erwartungen voraus.
Genres also sind keine Erfindung des Lesers, sie kommen aus der literarischen Praxis. Folglich müssen ihre Kriterien ebenso mit den Wirkungen von Literatur zu tun haben wie mit den Techniken, nach denen sie hergestellt wird. Jedes Genre, schreibt Peter Hacks im »Versuch über das Libretto« (1974), leitet sich ab aus den Erfordernissen des Materials und der Haltung, in der ein Werk genossen wird. Das Material der Literatur ist die Sprache. Sie vermittelt den Inhalt – dialogisch, erzählerisch, metrisch, prosaisch, metaphorisch, sachlich etwa. Publikumshaltungen kommen hingegen in Zuschreibungen wie tragisch, komisch, idyllisch, satirisch, elegisch, ironisch, existentialistisch usf. zum Ausdruck.
Die Vermengung der beiden Kriterien bringt einige Unordnung ins Gebälk. Wir sagen etwa »Tragödie«, meinen damit aber nicht lediglich die Haltung, sondern auch die dramatische Form – doch ein Roman kann ebenfalls tragisch sein. Goethe hat in den Anmerkungen zum »Divan« (1819) auf solche Disparitäten hingewiesen, dann allerdings selbst eine reproduziert. Die jedem vom Schulunterricht geläufige, aufs Elementarste gebrachte Genreeinteilung Epik–Lyrik–Dramatik ergibt durchaus Sinn, und mit Recht spricht Goethe von den »drei echten Naturformen der Poesie«. Dass es sich logisch so verhalten muss, wird aber erst klar, wenn man seine Bestimmungen etwas justiert: Während er das Epische (»klar erzählend«) und das Dramatische (»persönlich handelnd«) nach den Kriterien des Materials (der Form, in der Inhalt vermittelt wird) beschreibt, definiert er das Lyrische (»enthusiastisch aufgeregt«) nach den Kriterien der Haltung. Goethes drei Grazien stehen nicht auf demselben Boden.
Gérard Genette hat im »Architext« (1977) erarbeitet, dass diese »taxinomische Inkohärenz« auf eine unbewusste Umdeutung antiker Poetiken zurückzuführen ist. Platon unterscheidet mit Diegesis und Mimesis zwei Formen des Sprechens, legt also das Materialkriterium streng an. Inhalte können erzählt (Diegesis) oder verkörpert (Mimesis) werden, was in der Rhetorik dem Verhältnis Rede/Dialog und in der Dichtung dem Verhältnis Epik/Dramatik entspricht. Ferner gibt es für Platon eine Mischform, in der beide Modi des Sprechens vorkommen. Aristoteles wendet ein, dass für eine rein diegetische Form Beispiele fehlen, das Epos enthält erzählende als auch dialogische Elemente. Kehrt man, das im Sinn, zum Goetheschen Schema zurück, lässt sich auch das Lyrische nach den Kriterien des Sprechmodus bestimmen. In der Tat nämlich eignen sich lyrische Formen für blanke Diegesis, denn in dort in aller Regel gibt ein Ich unmittelbar Auskunft. So repräsentiert das Lyrische die rein epische, das Epische die episch-dramatische und das Dramatische die dramatische Naturform der Literatur.
Eine sinnvolle Genrebezeichnung müsste also vorm Hintergrund der zwei Quellen stets zweiteilig sein, mit einem Attribut, das die Haltung, und einen Nomen, das den Modus ausdrückt: tragisches Drama, satirischer Roman etc.
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