Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11.01.2024
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Aus: Ausgabe vom 04.12.2024, Seite 10 / Feuilleton
Oper

Musik einer Zukunft, die niemals kam

»777 / Die sieben Todsünden«: Ein Oratorium von Adalbert Goldschmidt als große Oper an der Berliner Volksbühne
Von Florian Neuner
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Sophie Rois auf der Geisterbahn der spätromantischen Musik

Der Jubel in der Berliner Volksbühne nach der gut dreistündigen Materialschlacht mit Soli, Chor und Orchester, Pauken und Trompeten am vorigen Freitag war geradezu frenetisch – aber galt er überhaupt dem gründlich vergessenen Wiener Komponisten Adalbert Ritter von Goldschmidt (1848–1906), dessen Oratorium »Die sieben Todsünden« nach 140 Jahren nun erstmals wieder als »Musikdrama nach Adalbert Goldschmidt« erklang? Es steht zu hoffen, dass das zumindest auch der Fall war an einem Abend, an dem sich die gute alte Volksbühne selbst feierte mit Publikumsliebling Sophie Rois, permanenten Videoprojektionen und allerhand Knalleffekten wie dem Start der Siegessäule als Rakete am Schluss. Die These, dass eine Aufführung im Konzertsaal kaum dieses Interesse auf sich gezogen hätte, ist nicht riskant.

Regisseur Christian Filips arbeitet seit Jahren daran, den »jüdischen Wagner«, dessen Karriere als Komponist am anschwellenden Antisemitismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts zerbrach und der niemals rehabilitiert wurde, wieder ins kulturelle Gedächtnis zu heben und hat über Goldschmidt auch ein fundiertes, lesenswertes Buch geschrieben (»Der Unsterblichkeitsclown«, Engeler-Verlag 2020). Als Dramaturg der Sing-Akademie zu Berlin hat es ihm besonders das großformatige Oratorium »Die sieben Todsünden« angetan, zu dem der junge Goldschmidt durch ein gleichnamiges, skandalumwittertes Bild des Malers Hans Makart angeregt wurde. Als Textdichter erkor Goldschmidt sich ausgerechnet den deutschnationalen Antisemiten Robert Hamerling, was eine konfliktreiche Zusammenarbeit zur Folge hatte und die immer deutlicher werdenden Widersprüche im Selbstbild des jüdischen Wagnerianers in das Werk trug. Filips schreibt: »Goldschmidts Oratorium wollte anfangs nur ein Gemälde der Wiener Dekadenz in Töne setzen. Doch bei der musikalischen Übermalung von Makarts Ringstraßen-Historismus taten sich unverhofft und visionär die Dämonen des 20. Jahrhunderts auf.«

Christian Filips hat Goldschmidts Übermalung jetzt ein weiteres Mal übermalt und stellt die gekürzte Fassung des vierstündigen Oratoriums in einen Rahmen, in dem dieser Kontext und der Blick zurück aus dem 21. Jahrhundert thematisiert werden. Mit Mut zum Holzschnittartigen treten in »777 / Die sieben Todsünden« Sophie Rois als »Baron von Goldschmidt«, Ariel Nil Levy als Theodor Herzl, Susanne Bredehöft als »Wagners Tochter« und Margarita Breitkreiz als »Pariser Communardin« auf. Klassenkämpferisches ist in dem Oratorium tatsächlich angelegt, die »Marseillaise« klingt an, und bei den Todsünden des Neids und des Zorns wird auch das Libretto deutlich: »Weg der Pfaff und seine Lehre! / Weg die Tempel, die Altäre! / Topp, kein Gott mehr! / Und kein Teufel! / Hui, kein Himmel! Keine Hölle!« Des Guten zuviel aber ist die Einführung der an der Kitschgrenze schrammenden Figur eines »Zauberlehrlings« als kleiner Junge (Balthazar Gyan Alexis Kuppuswamy), der mit einer klaren Ansage (»Ich bin die Zukunft!«) die Bühne betritt. Dass einer Kunstreligion mit der dazu passenden »Zukunftsmusik« die Zukunft gehören könnte, bleibt eine uneingelöste Utopie, die man angesichts der Kata­strophen des 20. Jahrhunderts als naiv empfinden kann, aber vielleicht nicht muss.

Goldschmidts »Musik einer Zukunft, die niemals kam« (Filips) wird von den Hundertschaften der Sing-Akademie und des Staats- und Domchors, die in den diversen Massenszenen auch überzeugend auf der Bühne agieren, den hervorragenden Solisten (Arttu Kataja, Benjamin Bruns, Christoph Pfaller, Sara Gouzy, Gerrit Illenberger und Mima Millo als »Todsünden«) und der Kammersymphonie Berlin glänzend zur Geltung gebracht. Der Dirigent Kai-Uwe Jirka weiß die Massen zu bändigen und leitet präzise ein – gemessen am spätromantischen Großformat – schlank besetztes Orchester. Das hat in der trockenen Theaterakustik den Vorteil transparenter Durchhörbarkeit statt Klangnebeln. Dass sich diese Musik von Wagner her schreibt, ist unüberhörbar; »Tristan«-Harmonik geistert durch die Partitur, die als epigonal zu beschreiben aber viel zu kurz griffe und die zahlreiche originelle Eigenheiten aufweist.

Das großartige Engagement der vielen Beteiligten hat allenfalls den leichten Beigeschmack, dass Filips und sein Team dem neu zu entdeckenden Stück eine Wiederauferstehung aus eigener Kraft offenbar nicht zugetraut haben. Denn es macht doch einen großen Unterschied, ob ein wohlbekanntes Werk wie eine Wagner-Oper dramaturgisch »übermalt« wird oder eines, das (noch) niemand kennt. Zu hoffen wäre freilich, dass die Musik Goldschmidts nicht weiter in den Archiven verstaubt.

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