Appetit auf Würstchen
Von Ken MertenViel hilft viel: In einem Brief an seinen Verleger Ernst Krawehl (1909–1983) verteidigte Arno Schmidt (1914–1979) sein Attachment gegenüber Karl May (1842–1912) damit, dieser sei nicht »ein bloßes ›armes Würstchen‹, sondern ein förmlicher Koloß von Würstchen!« Mays Œuvre ist zweifellos gigantisch: Was er während seiner Schaffenszeit geschrieben hat, ist von einem einzelnen eigentlich kaum zu leisten. Zumal sich der gebürtige Erzgebirger – anders als der sich mit Vorliebe isolierende Wahlbargfelder Schmidt – durchaus auf Reisen machte, auch wenn gesichert ist, dass er Vor-Ort-Recherchen (wie im Orient) nachholte, als seine »Reiseerinnerungen« bereits publiziert waren. Begünstigend für die nachträgliche Legendenbildung um den unzuverlässigen Erzähler schlechthin, saß der krankhafte Lügner May wegen Betrügereien ein.
Anlass zur Debatte ist Mays Werk, und was davon verfilmt wurde, heute noch: Als zu canceln gilt es jenen, die darin Eurozentrismus und Rassismus als unheilvollen Kern ausmachen; deren Gegnerseite im Kulturkampf, die konformistische Rebellion, fürchtet um essentielle Kindheitserinnerungen, wenn ihnen damit das Cowboy-und-Indianer-Spiel nachträglich verdorben wird. Beides greift zu kurz – und auch der Verfasser dieser Zeilen gibt kein abschließendes und hinreichend umfassendes Urteil über die Literatur Mays, wenn er befindet, dass sie den frisch geschlüpften deutschen Imperialismus auf ähnlich massentaugliche, oft handwerklich holpernde, nicht aber völlig in Schund abdriftende, mit internen Widersprüchen behaftete Weise widerspiegelt, wie es die Böhsen Onkelz für die Bundesrepublik der 1990er und frühen 2000er taten. Beispiel Kara Ben Nemsi: Der Orientreisende ist als idealisierter Deutscher durchaus Propandaprodukt; er ist klüger, stärker, besser bewaffnet als alle um ihn her, dabei lieber und tadelloser als die Vertreter anderer europäischer Großmächte. Einer, der lieber stehend lebt, als kniend zu sterben. Ben Nemsi, der »Sohn der Deutschen«, greift ordnend ein, aber unordentlich, ohne Plan, er schöpft sein Potential nur sporadisch aus. Von Jules Vernes »Robur-le-conquérant« (»Robur der Eroberer«, 1886), der von seinem Luftschiff aus per Bombenabwurf gezielt in afrikanische Stammesfehden interveniert, ist May noch weit entfernt.
Für Weltkrieg nicht bereit
Kara Ben Nemsi war für das, was es für einen Weltkrieg braucht, nicht bereit. Und auch wenn May in Sachen Christentum ins Fundamentalistische ging, seiner Zeit entsprechend Stereotype reproduzierte, nahm er mit »Und Friede auf Erden« (1901) doch eine pazifistische Gegenposition zu kolonialistischem Mord und Raub in Form der Niederschlagung des sogenannten Boxeraufstands in China und der »Hunnenrede« Kaiser Wilhelms II. ein.
Ambivalenzen und Ambiguitäten: Der Umgang in der DDR mit Karl May, den man in den 1980ern zum humanistischen Erbe zu zählen begann – als parallel dazu die Romantik den Vorzug gegenüber der Klassik erhielt und plötzlich auch Nietzsche affirmativ rezipiert wurde – zeugt davon, dass der »Koloß von Würstchen« nicht einfach zu nehmen und abzutragen ist. In ihm stecken schlicht zu viele Ebenen sich beißender Aspekte.
Politische Zonen
Auch nicht monokausal lässt sich erklären – etwa weil das eben das Handeln eines gekränkten Mannes sei –, warum ein Clemens Meyer bockig wird, wenn statt seiner eine Frau (Martina Hefter mit ihrem Roman »Hey guten Morgen, wie geht es dir?«) den Deutschen Buchpreis gewinnt. Eine ganze Dekade habe er, Meyer, an »Die Projektoren« gearbeitet, außerdem sei er auf die Prämie angewiesen, habe Steuerschulden, Scheidungskosten zu stemmen, und die Pferde müssen doch auch versorgt sein. Auch hier wird Quantität ins Feld geführt: Mit über 1.000 Seiten ist der Roman des 47jährigen Leipzigers gut 800 Seiten dicker als Hefters Buch, sei also gewichtiger.
Der mit 25.000 Euro dotierte und durch seine Publizität für Verkäufe sorgende Buchpreis als Lohn für Recherchefleiß und Lob für das am emsigsten gefertigte und poetisch ansprechendste Prosawerk des Jahres? Abseits davon, dass mittelgroße Verlage wenig, kleine Verlage so gut wie gar nicht berücksichtigt werden, sind auch der Frankfurter Römer respektive der Raum, in dem sich die Jury zur Entscheidung einfindet, keine politikleeren Zonen. Als Peter Handke 2019 der Literaturnobelpreis verliehen wurde, bekam mit Saša Stanišić ein Anti-Handke den Buchpreis. Und nicht unerheblich wird für die diesjährige Entscheidung gewesen sein, dass letztmals 2021 (Antje Rávik Strubel: »Blaue Frau«) eine Cisfrau prämiert wurde.
Abseits etwaiger Quotierung und anderer politischer Gründe: Besieht man die Liste der Gewinnerromane, kann man keineswegs davon sprechen, dass Qualität der primäre Maßstab der Preisvergabe sei, und es scheint eher eine glückliche Fügung, wenn doch einmal ein gutes Buch (etwa Stanišić’ »Herkunft«) gekürt wird. Mara Delius hat so recht wie nicht, wenn sie nach der Preisverleihung in der Welt beklagte, hier sei verpasst worden, »den Roman als die eine ganz große Form der Literatur zu feiern«. Denn – anders als etwa beim Georg-Büchner-Preis – geht es beim Börsenverein des Deutschen Buchhandels nicht darum, Größe auszuzeichnen.
Keine Bestbesetzung
Den Trostpreis bekam Meyer Anfang November in der Münchner Allerheiligen-Hofkirche: Der Bayerische Literaturpreis, damit verbundene 10.000 Euro und ein Nymphenburger Porzellanlöwe gingen in seine Hände, nicht in die der mitnominierten Martina Hefter. Das setzte den Deckel auf eine eh schon abklingende, für diese Zeiten symptomatisch schief geführte Debatte. Als etwa der Autor und ehemalige Titanic-Redakteur Christian Y. Schmidt parallel zur Frankfurter Buchmesse seinen, wie er es nannte, »Clemens-Meyer-Senf« via Facebook zur Diskussion beifügte, kippte das Gespräch in der Kommentarspalte zum Zank darüber, wem man nun was gönnt und was nicht. (Wenn es darum ginge: »Maren Kames! ›Hasenprosa‹«, gefälligst!) Während Schmidt (aus eigener Erfahrung schöpfend) die »prekäre Existenz der meisten Schriftsteller« hierzulande beklagte und lobte, dass Clemens Meyer auch durch Nennung konkreter Zahlen darauf aufmerksam machte, wurde lieber die Meyersche Egoperspektive seziert und befunden, dass er mit seinem »Ausgabenproblem« niemand sei, der sich beschweren könne. Mag sein, geht aber an der Sache vorbei. Auch der Verfasser dieser Zeilen befindet, dass Clemens Meyer nicht die Bestbesetzung dafür ist, die soziale Lage der deutschen Autorinnen und Autoren zu skandalisieren, und er ist sich sicher, dass Meyer vor seinem von Paule Hammer gemalten Porträt täglich mehrere Stunden in Selbstliebe schwelgend verbringen würde, wäre es erlaubt, im Museum der bildenden Künste zu Leipzig offen Cognac zu trinken. Dergestalt von sich selbst überzeugt zu sein, damit ist Meyer aber nicht allein: Caroline Wahl etwa, deren Debütroman »22 Bahnen« vergangenes Jahr zum Bestseller geriet, zeigte sich bestürzt darüber, dass sie mit ihrem Zweitling »Windstärke 17« gar nicht erst auf die Longlist des Buchpreises gesetzt wurde.
Der Druck zum Druck
Sich an derlei Befindlichkeiten abzuarbeiten verhindert, akute Missstände zu verhandeln: Zur Fachmesse in Frankfurt am Main veröffentlichte der Verband deutscher Schriftsteller*innen der Gewerkschaft Verdi eine Statistik, derzufolge 94,3 Prozent der Autorinnen und Autoren in Deutschland nicht von ihrer Arbeit leben können und auf Nebeneinkünfte angewiesen sind. Clemens Meyer gehört sicher schon lang nicht mehr zu dieser riesigen Mehrheit, ganz rausziehen kann auch er sich sichtlich nicht.
»Das Geld, das die Gesellschaft an den Künstler verausgabt, ist für sie das einzige Mittel zu erfahren, welchen Rang er in ihr einnimmt«, schrieb Peter Hacks in »Schöne Wirtschaft« (1988). In der Bundesrepublik macht man sehr deutlich, wie viel ihr die Literatur wert ist: nahezu nichts. Entsprechend viel wird sich gebalgt um Preise und Stipendien und wird öffentlich um Spenden gebettelt, weil das Geld sonst hinten und vorne nicht reicht, insofern man nicht von einer wohlhabenden Familie oder innerhalb einer Beziehung querfinanziert wird. Entsprechend hoch ist der Druck zum Druck: Zum Zwang zu publizieren, was das Zeug hält, gesellen sich kaputtgesparte Lektorate. Entsprechend liest sich das Gros der Ergebnisse.
Von Leistungsgesellschaft ist da keine Spur, wo für Schreibende nicht die materiellen Bedingungen gegeben sind. Besonders, wenn ihre Leistungen nicht unmittelbar vorgewiesen werden können, sondern teils jahrelange Arbeit daheim und im Stillen abverlangen, also eine Arbeit, die es schwermacht, von ihr fortwährend und gesichert ökonomischen Mehrwert abzuschöpfen.
Auch wenn der Antikommunismus davon nicht reden mag, weil er sich über inhaltliche Zensur im Realsozialismus und formale Einschränkung auf dem Bitterfelder Weg den Mund fusselig redet, aber die Bedingungen für Schriftstellerinnen und Schriftsteller in der DDR, die einen Zirkel schreibender Arbeiterinnen und Arbeiter leiteten und dadurch ihr Auskommen hatten, ohne ständig Halbgares ausstoßen, geschweige denn sich mit prekären Nebenjobs über Wasser halten zu müssen, waren aus heutiger Sicht paradiesische.
Resiliente Kunst
100 Jahre nach der Erstveröffentlichung von Thomas Manns »Zauberberg« hat der schöne Literatur lesende Anteil an der Bevölkerung drastisch abgenommen: Flexibilisierung, Schmalspurbildung, kürzer werdende Aufmerksamkeitsspannen und preiswertere, passiver zu genießende Unterhaltungsangebote via Streamingdienste sorgen dafür, dass der Schmöker höchstens als fragwürdiges Booktok-Marktsegment breiteren Anklang findet.
In dieses allzu bekannte Dunkel trug nun Clemens Meyer mit »Die Projektoren« seinen dritten Roman, ein Großwerk, das auch zum Inhalt hat, wie resilient Kunst in der fortwährend rauen und ihr widrigen Welt ist. Die titelgebenden Bildwerfer sind Mittel zur Wiedergabe der in Jugoslawien gedrehten Verfilmungen von May-Romanen; sie sind aber auch Mittel der Manipulation, die Laterna magica als Propagandaapparat.
Und als Propagandist: »Wir lenken das Licht«, sagt Dr. Karl von Benzel-Sterner in Meyers Werk, ein schrulliger Rechtsaußen, der sich auf seiner Visitenkarte als »Verleger, Historiker, Projektor« selbstdefiniert. Der neurechte Intellektuelle und Lebemann, in dessen Hirn ein abstruser Flickenteppich verlegt ist – eine drollige, Mayeske Literarisierung des Compact-Chefredakteurs Jürgen Elsässer, angelehnt an den Arzt Karl Sternau, die Hauptfigur in Mays über 2.600 Seiten langen, zwischen 1882 und 1884 als Serie erschienenen Kolportageroman »Waldröschen oder die Rächerjagd rund um die Erde« – stapft wieder und wieder durch die somnambule Handlung, der ein vorangestelltes Personenregister gut gestanden hätte, nicht nur aus praktischen Erwägungen, sondern auch, weil es den gigantomanen Charakter des Romans unterstrichen hätte. Kolosse aber lassen sich aus vielem stapeln: »Die Projektoren« kommt nicht ohne Zeilenschinderei aus; allein, wie oft einem pro Seite vermittelt wird, man befinde sich im Kapitel »Die Wölfe« in einem »Talkessel« des heute kroatischen Küstengebirges Velebit, zeugt davon, dass hier die 1.000-Seiten-Marke geknackt werden musste, koste es, was es wolle.
Meyer bedient sich großzügig bei der Menschheitsgeschichte selbst: Der passionierte Cineast Tito taucht ebenso auf wie Lex Barker und Pierre Brice, die Old Shatterhand und Winnetou mimten. Andere Figuren entstammen direkt dem May-Kosmos, zumindest nominell: Hadschi, Kara Ben Nemsis treuer, aber engstirniger und kleinherziger Begleiter, ist hier ein erzgebirgischer Konvertit, der in seltsamer Aufmachung plötzlich in Zwickau auftaucht, der Stadt, in der sich der Kern der faschistischen Terrorgruppe »Nationalsozialistischer Untergrund« für längere Zeit einquartierte. Er besucht Mohamed Quimbo, der eine Wäscherei und Schneiderei betreibt und als schwarzer Moslem weitreichend integriert den hiesigen deutschnationalistischen Trachtentruppen die Gewänder näht und reinigt.
Ständiges Kippen
Politisch kippt hier ständig alles und jeder: Die erodierte DDR bringt in ihren Endzügen einen Nazinachwuchs hervor, der sich nach der vollendeten Konterrevolution Bahn bricht, vom bekennend schwulen Michael Kühnen auf Linie gebracht wird und gemeinsam mit westdeutschen Kameraden kroatischen Nationalisten als Legionäre im jugoslawischen Bruderkrieg zuarbeitet. Auch wenn denen das nicht wirklich geheuer ist, wenn da jene mit ihnen kämpfen wollen, deren brutale Besatzung während des Zweiten Weltkriegs auf breiten, Ethnien, Religionen und Weltanschauungen übergreifenden antifaschistischen Widerstand stieß, mit Tschetniks und der Ustascha jedoch durchaus auch willfährige Ortskräfte gar nicht erst zu überzeugen brauchte. Gesellt sich dazu der NVA-Offizier als opportunistischer Kriegshandwerker, wird man den Eindruck nicht los, in einem Arendtschen Fiebertraum zu stecken: Die Totalitaristen machen Totalitarismus, ob für Allah, Führer/Volk/Rasse oder die Diktatur des Proletariats ist ihnen dann letztlich schnurz. Hauptsache, sie haben etwas, woran sie ihr demokratieunfähiges Selbst veräußern und Gewalt exerzieren können.
Die Fachleute in den Feuilletons sind sich alle weitgehend einig, dass es in »Die Projektoren« um Gewalt geht. Ähnlich schwierig, mit einem Roman Gewalt zu verhandeln, wäre es, mit Prosa das Atmen aufzuspießen. Auch ohne das kommt die Menschheit auf absehbare Zeit nicht aus. Gewalt ist zu allgegenwärtig und trägt dadurch als zu vermittelnder Aussagekern schlecht. Eher scheint es Meyer darum zu gehen, den Widerspruch zwischen einzelnem und Gesellschaft zu sezieren, also ein Verhältnis, das mit Gewalt einhergeht, durch Verweis auf sie jedoch nicht gänzlich umrissen ist, ist das Individuum doch ohne andere ungeschützt und keineswegs von Gewalt befreit.
Zentrale Figur ist dabei der Cowboy: Aus konservativem – mindestens so antifaschistischen wie antibolschewistischen – Belgrader Hause stammend, wird er schon mit zwölf Partisan, landet in der Volksrepublik u. a. wegen Besitzes des Buchs »Bodenbearbeitung mittels Sprengstoffen« im Umerziehungslager auf der Adriainsel Goli otok, wird später als Gastarbeiter in der Bundesrepublik Groschenromancier, vorher aber noch Statist für die Rialto-Filmproduktionen. Die Filme, die Ganzkörperschmerzen bei jenen verursachen, die auf kulturelle Aneignung empfindlich reagieren, weil in ihnen ein gewesener Botenjunge der Résistance und französischer Soldat, der im Indochinakrieg gegen antikoloniale Aufständische kämpfte, einen Apachen-Häuptling gibt, ein bei der Befreiung Siziliens schwer verwundeter US-Amerikaner einen aus Deutschland kommenden Westernhelden spielt und unzählige Angehörige des jugoslawischen Schmelztiegels wiederum Native Americans verschiedener Stämme und von europäischen Einwanderern und Frontiers abstammenden Pistoleros mimen, ist als kollektives Kulturgut der größte Schatz des Cowboys, der zum Lebensabend wieder jene enthemmte Gewalt in Form von Krieg erlebt, die er als Kind erfuhr.
Aufbewahren und wiedergeben
Das Aufbewahren und Wiedergeben, manchmal auch mehrere Bilder übereinandergepauscht und ineinandergemorpht, entspricht auch Clemens Meyers Poetik, die entfernt an das Sammelprinzip der großen Fantastikautorin Ursula K. Le Guin erinnert. Schon Meyers zweiter Roman »Im Stein« (2013) hatte dabei keine stringente Handlung, wie sie noch in seinem Debüt »Als wir träumten« (2006) zu finden und fürs Kino 2015 günstig zu adaptieren war. Eher fühlte man sich an die US-amerikanische Moderne, genauer, John Dos Passos und dessen »Manhattan Transfer« (1925) rückgekoppelt. Sprich: Statt über Figuren einen aufs Ende hinführenden Plot zu transportieren, wird vielmehr ein Panorama ausgebreitet.
Etwas Licht brachte Clemens Meyer bereits 2015 in sein in Arbeit befindliches Werk »Die Projektoren«, als er die Poetikdozentur der Goethe-Universität in Frankfurt am Main übernahm. Als »Der Untergang der Äkschn GmbH« wurden die Vorlesungen von Meyers Hausverlag S. Fischer der Allgemeinheit zugänglich gemacht. »Die Äkschn GmbH«, heißt es darin in Meyer-typischen Majuskeln, die der Verfasser dieser Zeilen so nicht übernehmen will, weil eh schon immer zu viel rumgeschrien wird (»Wichser!«, »Schande für die Literatur!« und »Macht euern Dreck doch alleene!«, soll da einer gebläkt haben, als ihm ein Preis nicht zugesprochen wurde, den er so gern gehabt hätte) – also jene vielleicht in Personalunion mit Meyer stehende »Äkschn GmbH hasst Nacherzählungen, die sich tarnen als eigene Betrachtung des Nacherzählten.« Klingt nach einem Narrationsethos, das von Ernest Hemingways Wahrhaftigkeitsanspruch nicht weit weg ist.
Dabei entscheidet, wie die Sterner-Figur aufmacht, auf was das Licht gerückt wird – nicht nur in der politischen Stimmungsmache, sondern überall, wo es um Haltung geht, also insbesondere auch in der Literatur. Literatur ist Manipulation, Arbeit am Stoff, aus dem es auszuwählen gilt, mag der Schinken auch noch so fett werden.
Unlauter wird es erst dann, wenn Literatur als Bericht aus der Welt der Fakten verkauft wird. Karl May war dahingehend durchaus Grenzgänger. Wenn Meyer den sächsischen Salafisten Hadschi zeitweilig als parodistisch missverstandene Kolumnen für das völkische Magazin Sterners schreiben lässt, in der es unter anderem darum geht, dass der Haltepunkt Jena-Paradies für einen Terrorakt eher ungeeignet ist, dann lässt Meyer das Pendel schwingen, bis es sich überschlägt.
Mag man sich bei solchen Volten sicher sein, dass sie ersponnen sind, gerät man bei Lektüre der »Projektoren« dennoch wiederholt ins Schlingern. Gerade wenn es darum geht, ob May nicht doch so manches von dem erlebt hat, was er zwischen Buchdeckel packte, oder ob er nicht und ausschließlich das ist, was der germanophile Vater des Cowboys von ihm hält: »Ein Hochstapler, dein Dr. May. Ein Dieb, ein Gaukler, der die Menschen mit beschriebenen Spiegeln blendete und verwirrte.«
Gehobener, für den bürgerlichen Kanon einstehender May-Hass, der selbst nicht ohne Kolportage auskommt. Beschriebene Spiegel zum Blenden und Verwirren? Mays Meriten mögen sein, aufzuzeigen, wie groß das kleinbürgerliche Bedürfnis nach Kolportagen ist, auch unter seiner Gegnerschaft. Es herrscht allenthalben Appetit auf Würstchen.
Ken Merten, Jahrgang 1990, ist Autor und Journalist und lebt in Leipzig. Zuletzt erschien von ihm an dieser Stelle in der Ausgabe vom 3./4. Februar 2024 ein Auszug aus seinem Roman »Ich glaube jetzt, dass das die Lösung ist«
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Stephan K. aus Neumarkt i.d.OPf. (3. Januar 2025 um 10:54 Uhr)(…) (Fast) stets bleiben linke Autoren bei der (spieß)bürglichen Betrachtung Mays stehen, ergänzen sie bestenfalls um Nuancen, bleiben aber dem Klischee vom Kolportage-Autor, Lügner und Knastinsassen verhaftet. Manchmal kommt noch böser Nationalist und Rassist hinzu. Wobei das Gegenteil richtig ist. Andere halten May für einen großen Stilisten und einen der großartigsten Autoren deutscher Sprache, für einen eher mit proletarischem Stallgeruch. Ein Volksschriftsteller eben, ein fortschrittlicher Humanist zudem. Da hilft es offensichtlich auch nichts, dass ganze Bataillone fortschrittlicher Kulturschaffender (u. a.) Karl May ganz anders beurteilen. Bloch, Liebknecht, Mann, Zuckmayer, Schweitzer, Brecht, Böll, Zwerenz, Kuczynski, Lukacz … Bloch: »Karl May ist einer der besten deutschen Erzähler, und er wäre vielleicht der beste schlechthin, wäre er eben kein armer, verwirrter Proletarier gewesen.« Er fügte hinzu, er kenne nur May und Hegel. Auch Georg Heym wertet die Tatsache, dass der aus sehr armen Verhältnissen entstammende May einmal Dieb und Schmuggler war, anders als so mancher heutige Salonlinke: »Daß Karl May einige Jahre – hu, hu, als Schmuggler und Räuber gelebt habe –, eine Tatsache, die dem Dichter von vornherein das Wohlwollen eines anständigen Menschen sichert.« Literaturtipp zu May (für alle die May interessant finden und nicht nur Klischees aus drittklassigen Quellen wiederholen möchten): »Der Mann, der Old Shatterhand war« von Christian Heermann, 1. Auflage, Berlin, DDR, 1988
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