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Aus: Ausgabe vom 31.12.2024, Seite 10 / Feuilleton
Sachbuch

Fickstern der Freiheit

Wir finden unseren Weg in die Zukunft nur bei Licht: Unfassbar kluge Äußerungen von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seinem Buch »Wir«
Von Jürgen Roth
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Verbrennt sich nicht die Finger: Frank-Walter Steinmeier

Im Frühjahr rief mich Freund Maier an. Er komme gerade aus Berlin und sei in ein paar Minuten in Frankfurt, ob wir uns im Kabuff bei mir um die Ecke treffen wollten. »Aber stets«, sagte ich, »bis gleich«.

Ich setzte die erste Flasche Bier an, da stürmte der Maier durch die Tür, und zwar fast dissolut lachend, was gar nicht seine Art ist. Als er wieder Luft bekam, erzählte er, dass er in seinem Verlag gewesen sei und ein Rezensionsexemplar von Frank-Walter Steinmeiers »Wir« abgegriffen habe.

»Steinmeier erscheint bei Suhrkamp?«, fragte ich erstaunt. »Ja, und ich habe das halbe Zugabteil mit Steinmeiers unfassbar klugen Äußerungen zum Geist der Zeit unterhalten«, sagte er und begann wieder kräftig zu lachen.

Der Maier lehnte sich an die Wand – Stühle gibt es im fensterlosen Hinterzimmer der Trinkhalle nicht –, klappte das weiße Bändchen auf und las vor. Das ging eine halbe Stunde so, unterbrochen von Gewieher, Stöhnen und flehentlichem Gebrüll, er, der Maier, solle end-lich auf-hö-ren!

Unser Mesner von der Friedenskirche, der Andy, schaffte es schließlich, dem Maier in seiner lodernden Begeisterung Einhalt zu gebieten, die Stammbesatzung der Bude quittierte das mit Schnaps. Dann fotografierte der Andy noch das Cover, und eine Woche später schenkte er dem Maier ein T-Shirt mit dem Motiv, das der Maier hernach den halben Sommer lang durch Frankfurt spazierentrug.

»Du musst das rezensieren«, hatte mir der Maier aufgetragen. Ich drückte mich eine ziemliche Weile und schlug beim nächsten Treffen erst mal vor, Anagramme des Namens unseres genialen Bundespräsidenten zu bilden. Ich legte mit »Ranker Falter weint mies« vor, der Maier scheiterte mit »Falkner warnt Meisentier«, die schöne Frau konterte nach einem Fehlversuch (»Meister stank wie Tafel«) mit »Rein alter Weinfestkram«, und einer von uns »Wirenden« (Gottwalts) spendierte zudem »Wir fransen Tante Merkel«.

Jetzt habe ich das Dönerbuch tatsächlich in die Hand genommen, weil ich dachte, Steinmeier werde nach der Weihnachts- auch die Neujahrsansprache halten und erneut vor der »Einflussnahme von außen« und der »Gefahr für die Demokratie« warnen, das wäre doch eine passende Gelegenheit, um den Job zu erledigen.

Nun, ungeachtet meines Irrtums: »Wir« ist so oder so entweder »ein historischer Meilenstein« (U. v. d. Leyen) oder »ein weiterer Belastungsstein« (Michael Hüther, Ökonom, 5. Dezember, bei M. Illner) in diesem unseren Lande. Nach den wenigen Seiten, die ich gepackt habe, plädiere ich für zweiteres. Anders gesagt: »Wir« ist meiner bescheidenen Ansicht nach eine Gefahr für die Demokratie, obendrein für die Bildung, das Denken und die Sprache.

Im Klappentext bin ich auf die Wörter und Wortzusammenstellungen »Grundgesetz«, »Aufgaben, vor denen das Land steht«, »wirtschaftliche Transformation«, »Vertrauen in die Politik«, »extremistische Populisten«, »liberale Demokratie«, »Stärken des Landes«, »Anstrengung gemeinschaftlichen Handelns« und den Satz »Unser Wir ist das einer vielfältigen Gesellschaft geworden, die neu erkennen muss, was sie verbindet« gestoßen.

Ich frage mich, wer das Recht hat, mich in ein Wir hineinzustopfen und mir zu befehlen, was ich zu erkennen habe. Und was sagt der Bundespräsident im Gegenzug eigentlich dazu, dass im BR-Fernsehen werktäglich die Sendung »WIR in Bayern« läuft? Separatismus? Regionalfaschismus? Reichsbürgertum?

Steinmeier indes fragt sich, »was uns als Bürgerinnen und Bürgern oder als Menschen, die dauerhaft in diesem Land leben, gemeinsam ist«, und er hat reichlich Antworten in Form von Ratschlägen (»Realismus kann uns also lehren, die Dinge so zu sehen, wie sie sind«; echt? Geil!) und Rätseln parat: »Wir nehmen die Freiheit, die zur Vielfalt führt, nicht einfach nur hin.« (Lösung übrigens: »Wir wollen in Freiheit leben.«)

Auf der dritten Seite taucht der Fickstern auf: »Unsere Frage, wer wir sind, sollten wir also beherzt nach dem Leitstern demokratischer Freiheit zu beantworten versuchen, und das bedeutet, alle Deutschen haben ein Mitspracherecht, wenn wir sie diskutieren, verhandeln und klären«, – also nach oder hinter dem Fickstern oder weiß der Geier, wo und wie und warum überhaupt.

Ich blätterte um und stieß hierauf: »Was demographisch gegenwartsbezogen absurd erscheint, ist in einem politisch normativen Sinne sehr gut möglich und sogar erforderlich: Unser politisches ›Wir‹ ist mehr als die nachzählbare Summe aller gegenwärtig in Deutschland lebenden Menschen.«

Wer mir darlegt, was diese Zeilen bedeuten, und es darüber hinaus schafft, eine Summe nachzuzählen, dem bescheinige ich amtlich, der neue Habermas zu sein.

»Wir finden unseren Weg in die Zukunft nur bei Licht«, ermahnt uns Frank-Walter Steinmeier (Licht brennen lassen!), und etwas Ähnliches hat schon einmal ein Reichspräsident in einem »Vortrag gegen den Zusammenbruch« geäußert, in dem er über »ungeheure Wandlungen« und »eine Welt, die wir hier aufbauen«, sprach, aufbauen »nun vor allem für die Zukunft«. Und in diesem Sinne lasst uns das Streiten beenden und schreiten an der Seit’ von Steinmeier und Co.

Frank-Walter Steinmeier: Wir. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2024, 141 Seiten, 14 Euro

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