Eine andere Geschichte
Von Frank SchumannWir schwitzten seit Stunden auf einer Buchvorstellung im überfüllten Saal des Ribbeck-Hauses in Berlin-Mitte. Zu Gast waren der ehemalige Vorsitzende der Demokratischen Bauernpartei (DBD) Günther Maleuda und sein einstiger Stellvertreter Hans Reichelt. Beide waren 1990 aus ihrer Partei ausgetreten, weil diese mit der CDU fusionierte und sie da nicht mit wollten. Maleuda hatte zudem in der Übergangszeit einen guten Job als Volkskammerpräsident gemacht, nun saß er für die PDS im Bundestag. Reichelt war jahrzehntelang Minister in der DDR gewesen – er wollte kein politisches Mandat mehr, engagierte sich jedoch bei verschiedenen Organisationen, die sich gegen die Diskriminierung der DDR und ihres politischen Personals sowie gegen die damit verbundene Geschichtsklitterung zur Wehr setzten.
Sein erstes Buch beschäftigte sich mit seiner Partei, die es von 1948 bis 1990 gegeben hatte. Dass Reichelt über mehr als Charakter und Haltung verfügte, offenbarte schon der trotzige Titel »Blockflöten – oder was?«, denn nur selbstbewusste Menschen sind auch zur Selbstironie fähig. Und das war Hans Reichelt, der am 30. März 1925 in Proskau (heute: Prószków) geborene Schlesier, der noch 1945 direkt vom Gymnasium auf die Offiziersschule kam und ganze zwölf Tage lang Leutnant gewesen war, als er mit 20 Jahren südlich von Prag am 9. Mai in sowjetische Kriegsgefangenschaft geriet. Nach viereinhalb Jahren war Reichelt zurückgekehrt, geläutert und gereift. Die Zeit in Tscherepowez und Taliza betrachtete er bis zuletzt als prägend. In der DDR schloss er sich der DBD an und wurde mit 28 Jahren Landwirtschaftsminister. Im August 1953 reiste er mit einer Regierungsdelegation nach Moskau, um dort – neben anderem – über die verbliebenen deutschen Kriegsgefangenen zu verhandeln.
Darüber wollte er schreiben, weil ihn die im Westen umlaufende Legende ärgerte, Adenauer habe die letzten Gefangenen aus russischer Haft »befreit«. Denn bevor Adenauers Maschine im September 1955 in Moskau landete, hatte Nikita Chruschtschow am 14. Juli die DDR-Führung in einem Brief wissen lassen, dass Moskau – bei erfolgreichen Verhandlungen mit Adenauer über die Herstellung diplomatischer Beziehungen zwischen der BRD und der UdSSR – beabsichtige, »5.614 deutsche Bürger, darunter 3.708 Kriegsgefangene, 1.906 Zivilpersonen und 180 Generale der ehemaligen Hitlerarmee von der weiteren Strafverbüßung zu befreien und sie entsprechend ihrem Wohnsitz nach der DDR oder nach Westdeutschland zu repatriieren«. Weitere 3.917 Personen (2.728 Kriegsgefangene und 1.139 Zivilpersonen) sollten »in Anbetracht der Schwere der von ihnen auf dem Gebiet der UdSSR verübten Verbrechen entsprechend ihrem Wohnsitz den Behörden der DDR oder Westdeutschlands als Kriegsverbrecher« übergeben werden.
In einem Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets über die Freilassung und Repatriierung dieser rund zehntausend Deutschen sollte erklärt werden, »dass die Freilassung entsprechend eines Ersuchens der Regierung der DDR und der Regierung der Deutschen Bundesrepublik erfolgt«. Diese Angelegenheit, an deren Klärung er mitgewirkt hatte, stellte Reichelt schließlich in seinem zweiten Buch richtig (»Die deutschen Kriegsheimkehrer. Was hat die DDR für sie getan?«, Edition Ost, 2007).
In einem dritten Buch wollte Reichelt als langjähriger verantwortlicher Minister (1972 bis 1990) ein abschließendes Urteil über die Umweltpolitik der DDR liefern, die sich eben nicht nur auf Wismut und Wolfen reduzieren ließ. Und auch darüber, wie konstruktiv die Zusammenarbeit mit seinem Bonner Kollegen Klaus Töpfer war. Ihre gegenseitige Zuneigung, die auf menschlicher wie auf fachlicher Basis gründete, bestand über die Amtszeit fort: Für dieses Buch hatte der CDU-Politiker ein Vorwort zugesagt. Töpfer starb jedoch im Vorjahr, und nun ist auch Hans Reichelt, zwei Monate vor seinem 100. Geburtstag, gegangen …
Und warum schwitzten wir damals in den 90er Jahren bei der Buchvorstellung des DBD-Buches so? Der Transporter, der die in Dänemark gedruckten Bücher holte, stand bei Hamburg im Stau und blieb zu allem Ärger schließlich mit Getriebeschaden auf der Autobahn bei Neustrelitz liegen. Ein Fahrzeug war dorthin geschickt worden, um wenigstens einige Exemplare für die Veranstaltung in Berlin zu holen. Regelmäßig bekamen wir auf einem Zettel die Nachricht über die aktuelle Position des Fahrers mitgeteilt. Nach über vier Stunden fiel uns nichts mehr ein, womit wir das Publikum hätten hinhalten können. Da ging plötzlich die Tür auf mit dem Ruf: Die Bücher sind da! Darauf Reichelt lakonisch: »Gute Inszenierung – spannender hätte man es nicht machen können.« Ich werde nun nie erfahren, ob er damals wirklich geglaubt hat, dass alles geplant gewesen sei.
Am 14. Januar 2025 ist Hans Reichelt in Berlin gestorben.
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