Die touristische Konstellation
Von Holger RömersDas Adjektiv im Filmtitel »A Real Pain« wirkt zugleich bekräftigend und fragwürdig. Wenn es »wirklichen« Schmerz gibt, gibt es auch anderen. Entsprechend skeptisch pflegte Jesse Eisenberg, der 1983 in eine säkular jüdische Familie geboren wurde, nach eigenen Angaben seine Sorgen und Nöte zu betrachten: »Wie kann ich mich wegen meines kleinen Lebens schlecht fühlen«, so habe er sich zunehmend schuldbewusst gefragt, »wenn ich von Überlebenden eines globalen Horrors abstamme.« Unter solchen Vorzeichen steht also der zweite Spielfilm, den der US-amerikanische Schauspielstar nach »When You Finish Saving the World« (2022) als Drehbuchautor und Regisseur verwirklicht hat.
Zu Beginn fliegen die Cousins David (Eisenberg) und Benji (Kieran Culkin) von New York nach Warschau, um mit einer kleinen Reisegruppe durch Polen zu fahren und jüdische Geschichte zu erkunden. In dem Land hat die unlängst verstorbene Großmutter der Protagonisten sich einst vor den Nazis verstecken müssen, und von dort sind irgendwann auch die jüdischen Vorfahren dreier Mitreisender in die USA ausgewandert. Doch anders als in Julia von Heinz’ thematisch verwandtem Film »Treasure« – dessen Plot allerdings nicht in der Gegenwart angesiedelt ist – ist unter den Figuren kein Holocaustüberlebender. Die von einem britischen Goi geführte Touristenschar wird statt dessen von einem Überlebenden des ruandischen Genozids komplettiert, der im kanadischen Exil zum Judentum konvertiert und offenbar einem Bekannten Eisenbergs nachempfunden ist.
Dass seine Figurenzeichnung nur mittelbar einen Bezug zur Schoah herstellt, erlaubt dem Filmemacher, historische Greuel indirekt zu thematisieren. So steht hier ganz allgemein die Frage nach gegenwärtigen, mehr oder minder säkularen jüdischen Identitäten und deren Verbindung zur Geschichte im Raum – wobei die touristische Konstellation es entschuldigt, wenn die Reflexion nicht allzu tief schürft. Glaubhaft ist jedenfalls, dass Benji Schwierigkeiten hat, einen angemessenen Blickwinkel auf die fremde Umgebung zu finden. Da die Reisenden keinen sichtbaren Kontakt zu Ortsansässigen haben, mag man seinen Vorwurf an den Gruppenleiter verstehen, dass die Realität der polnischen Gegenwart ausgeblendet bleibe. Und ansatzweise ist auch verständlich, dass sich Benji an der Selbstverständlichkeit stößt, mit der seine Begleiter in der ersten Klasse Bahn fahren, wohingegen ihre Vorfahren auf derselben Strecke in Viehwaggons gezwängt worden waren.
Allerdings erweist sich dieser Mann, der, offenbar arbeitslos, bei seiner Mutter in einem Provinzkaff des Bundesstaats New York wohnt, nicht nur in diesen Momenten als pampiger Egozentriker. Man mag ihn schlicht als Nervensäge betrachten und den Filmtitel in Gedanken zur umgangssprachlichen Redewendung »a real pain in the ass« vervollständigen. Jedenfalls versteht sich nicht von selbst, dass Eisenberg andere Figuren mit Sympathie auf Benjis Launen reagieren lässt, die in einem Eklat gipfeln, als alle in einem Lubliner Restaurant versammelt sind. Dann setzt David die Tischnachbarn und das Kinopublikum über die psychische Labilität des Cousins ins Bild – was erklärt, warum David, der als New Yorker Stadtneurotiker mit Kleinfamilie und Onlinemarketingjob eingeführt wurde, zwiespältig auf seinen Zimmergenossen blickt. Aber es erklärt kaum die Wiederholung positiver Attribute, die in den folgenden Dialogen noch einmal explizit Benji zugeschrieben werden, um unsere Wahrnehmung zu lenken.
Diese Absicht scheitert nicht zuletzt an den dokumentarischen Bildern, mit denen der an Originalschauplätzen gedrehte Film die Restaurantszene umrahmt. Vorangegangen ist eine Montagesequenz unscheinbarer Fassaden, hinter denen sich jüdische Geschichte verbirgt. Es folgen Bilder aus dem KZ Majdanek, wobei der Kameramann Michal Dymek und der Cutter Robert Nassau die Wirkung dieses Ortes schließlich diskret in menschenleeren, statischen Aufnahmen transportieren. Angesichts ihrer stummen dokumentarischen Wucht muss tragikomisch erfundene Seelenpein in der Tat zur Unwirklichkeit verblassen.
»A Real Pain«, Regie: Jesse Eisenberg, USA/Polen 2024, 90 Min., Kinostart: heute
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