Auf Nachtschicht
Von Herbert BauchWenn’s denn der Wahrheitsfindung dient«, mit diesem Seufzer kam der Kommunarde und »Spaßgerilja« Fritz Teufel 1967 vor einem Berliner Gericht, na ja, sitzend, der Aufforderung des Richters nach, sich zu erheben. Alexandre Marius Jacob (1879–1954) dagegen wollte 1905 im Gerichtssaal von Amiens weder vor dem Richter aufstehen noch seinen Hut abnehmen. Für ihn war politisches Handeln auch keine spielerisch-provokante Aktion, um die Obrigkeit der Lächerlichkeit preiszugeben, sondern Selbstverteidigung, Gegenwehr. Mit dieser Rückschau beginnen Zeichner Léonard Chemineau und Szenarist Matz den Comic »Die Arbeiter der Nacht«, ihre Version der abenteuerlichen Lebensgeschichte Jacobs. Kindheit, Jugend, Politisierung, die Phase der »Nachtschichten« werden mit kurzen Rückblenden eingeleitet, um dann chronologisch bis zu seinem selbstgewählten Ende erzählt zu werden.
Jules Vernes utopische Romane lassen den kleinen Bäckerssohn Marius träumen. Auch er möchte die weite Welt entdecken, heuert als Schiffsjunge an, erlebt die raue Wirklichkeit an Deck und die menschenunwürdigen Zustände in den Kolonien. Bei seiner zweiten Seefahrt nutzt er im Hafen von Sydney die Gelegenheit zur Desertion. Zurück in Frankreich findet er zur anarchistischen Bewegung, lernt Promis der Szene kennen, so Charles Malato (1857–1938). In einem Gespräch mit ihm vertritt er die Thesen Élisée Reclus’ (1830–1905), der eine »individuelle Enteignung« propagierte. Denn »es ist auch ein Weg, um dieses Vermögen umzuverteilen, was Bomben nicht können«, so der junge Marius.
Malato wird zum lebenslangen Freund. Beide kritisieren die Phase der »Propaganda der Tat« (1892–94), da sie die Massen abschrecken würde, bauen aber dennoch Bomben auf Vorrat. Jacob wandert ins Gefängnis. Wieder draußen, wendet er sich der realen »individuellen Enteignung« zu, schart Gleichgesinnte um sich, begeht mit ihnen Diebstähle. Von der Beute soll der Zehnte abgegeben werden. Die Bewegung braucht Geld für ihre Zeitungen oder zur Unterstützung inhaftierter Genossen.
Jacob betreibt einen Handel für Tresore – eine ideale Möglichkeit, sich mit technischen Details von Geldschränken vertraut zu machen. Zwischen 1900 und 1903 verüben die »Arbeiter der Nacht« 150 nachgewiesene Einbrüche in Villen und in Kirchen, bei denen sie Waffen mit sich führen und nicht zögern, sie zu benutzen. Ihre Methode hinterlässt Opfer.
In Jacobs Truppe sind neben überzeugten Anarchisten auch einfache Kriminelle. Nicht alle wollen den Zehnten abtreten, manche beanspruchen gar die gesamte Beute für sich. Es kommt zum Streit. Die Bande wird verpfiffen, und so stehen 26 Angeklagte 1905 vor Gericht. Jacob wird zu lebenslänglicher Haft im berüchtigten Bagno von Französisch-Guayana verurteilt, der »trockenen Guillotine«. Nach einem Vierteljahrhundert kommt er dank einer Kampagne frei.
Die meist kleinteiligen, in realistischem Zeichenstil und erdigen Farben gehaltenen Panels stammen von Léonard Chemineau, Matz hat das Szenario entworfen. Die Figuren sind ein wenig klischeehaft: Hier die »Bösen« (Polizisten, Richter, Verräter), erkennbar an ihrer Physiognomie, ebenso die »Guten«, nett anzusehen. Alles gut sortiert. Die Graphic Novel ist stark an Bernard Thomas’ Roman »Die vielen Leben des Alexandre Jacob (1879–1954)« angelehnt, der vor knapp zehn Jahren eine Neuauflage im Verlag Edition AV erfuhr. Schon Thomas nahm es mit den historischen Fakten nicht so genau. Trotzdem ist der Roman empfehlenswert, auch wegen der Kommentierungen durch die deutschen Übersetzer Elke Funke und Michael Halfbrodt, die ein realistischeres Bild des anarchistischen Diebes zeichnen, der einige Spuren in der Literaturwelt hinterließ. Maurice Leblancs berühmte Romanfigur Arsène Lupin ist ohne das Vorbild von Marius Jacob kaum zu denken.
Die Jahre nach seiner Freilassung aus dem Bagno verbrachte Jacob als Textilhändler auf dem Land. Er blieb ein reflektierter Zeitgenosse, der jedoch einige Illusionen über die Menschen verloren hatte. Mit Mitte siebzig wählt er den Freitod und verfasst einen Abschiedsbrief, dessen letzte Zeilen lauten: »Die Wäsche ist gewaschen und getrocknet, aber nicht gebügelt. Bitte entschuldigt. Ihr findet zwei Liter Rosé neben der Brotdose. Auf Eure Gesundheit!«
Léonard Chemineau/Matz: Marius Jacob. Die Arbeiter der Nacht. Aus dem Französischen von Anna Baer, Bahoe Books, Wien 2024, 128 Seiten, 25 Euro
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