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Aus: Ausgabe vom 29.01.2025, Seite 7 / Ausland
Gazakrieg

Aus der Sicht der Hamas

Gazakrieg: Eine Dokumentation des Senders Al-Dschasira schildert die Geschehnisse vom 7. Oktober
Von Gerrit Hoekman
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Geiselaustausch in Gaza: Auch nach mehr als einem Jahr Krieg ist die Hamas nicht geschlagen (25.1.2025)

Bis heute haben die Kassam-Brigaden, der bewaffnete Arm der Hamas, kaum Details preisgegeben, was aus ihrer Sicht vor und während des Angriffs auf Israel am 7. Oktober 2023 passierte. Im arabischsprachigen Kanal des TV-Senders Al-Dschasira kann der Journalist Tamer Almisshal in seinem Magazin »Ma schafija aasam« (Was verborgen ist, ist größer) nun mit neuen Erkenntnissen aufwarten. Seit dem 26. Januar ist die Folge »Al-Tufan« (Die Flut) auf dem X-Account der US-Gruppe »Warfare Analysis« auch mit englischen Untertiteln zu sehen.

»Für diese Untersuchung konnten wir exklusives Filmmaterial erhalten, das von den Kassam-Brigaden zum ersten Mal herausgegeben wurde«, so Almisshal. Etwa Aufnahmen aus der Kommandozentrale der Brigaden. Darauf soll auch Mohammed Al-Deif zu sehen sein, ihr Oberkommandant. Gesichter sind allerdings unkenntlich gemacht, deshalb ist nicht zweifelsfrei zu erkennen, ob er es wirklich ist. »Heute explodiert die Wut unseres Volkes, unserer Nation und aller freien Völker der Welt«, sagt Deif am 7. Oktober, während seine Kämpfer durch den Grenzzaun zwischen dem Gazastreifen und Israel stürmen. Auf einer anderen Aufnahme, die vermutlich aus dem Sommer 2024 stammt, sieht man Deif angeblich erneut in der Kommandozentrale – wenige Tage bevor er laut israelischen Angaben am 13. Juli bei einem Luftangriff getötet worden sein soll. Die Hamas bestreitet bis heute seinen Tod. Auch der getötete Hamas-Chef Jahja Sinwar erscheint in der Doku.

Almisshal durfte auch Izz Al-Din Al-Haddad interviewen, der ebenfalls eine wichtige Rolle beim Angriff vom 7. Oktober gespielt haben soll. Angesichts der Brutalität der israelischen Besetzung habe es keine andere Möglichkeit mehr gegeben als eine militärische, sagt Haddad. Außerdem habe die Hamas Hinweise erhalten, die »bestätigten, dass der Feind eine zerstörerische Invasion in den Gazastreifen plante«. Seit dem 1. Oktober 2023 habe die militärische Führung rund um die Uhr getagt, erzählt Haddad. In dieser Phase seien die Details ausgearbeitet worden. Almisshal liegt das bislang geheime Schreiben vor, mit dem Deif zwei Tage vor Beginn den Angriff befahl.

Der israelische Channel 12 hat Almisshal zufolge recherchiert, dass sich Ministerpräsident Benjamin Netanjahu am 1. Oktober 2023 tatsächlich mit dem Inlandsgeheimdienst Schin Bet traf, der ihm Pläne vorlegte, Hamas-Führer zu liquidieren. Der Angriff hätte nach dem Simchat-Tora-Fest, das am 7. Oktober gefeiert wurde, erfolgen sollen. Dem sei die Hamas offenbar zuvorgekommen. Es sei von Anfang an geplant gewesen, so viele israelische Soldaten wie möglich gefangenzunehmen, um sie später gegen Palästinenser in israelischer Haft auszutauschen.

Alon Eviatar, ein ehemaliger israelischer Geheimdienstoffizier, beschreibt im Gespräch mit Almisshal den Schock, den der Angriff der Hamas in Israel auslöste: »Ich muss zugeben: Eine halbe Stunde lang konnte ich es nicht glauben.« Zwei Stunden später habe er zusammen mit einigen anderen Experten in einem Studio von Channel 12 gesessen. Niemand habe fassen können, was gerade geschah. »Die Stärke der Hamas schockte uns.« Eviatar glaubt, dass die Hamas selbst davon überrascht war, wie tief sie nach Israel eindringen konnte.

Die Aussage eines anonymen Kämpfers der Kassam-Brigaden wird sicher kontrovers aufgenommen werden. Er erzählt aus seiner Sicht, was im Kibbuz Beeri geschah, wo die Hamas laut Israel ein Massaker verübte, dem mehr als 100 Zivilisten zum Opfer fielen. Viele von ihnen seien keine Zivilisten gewesen, sondern israelische Soldaten in Zivil und Angehörige der Bürgerwehr, widerspricht der Kämpfer, der anscheinend in Beeri dabei war. »Wir wurden von Frauen und alten Leuten beschossen, die alle Waffen trugen.« Im Laufe der Gefechte habe Israel mit der Luftwaffe und Panzern den Kibbuz bombardiert, was zu erheblichen Zerstörungen und Opfern geführt habe. »Gott ist unser Zeuge, wir haben nur jene getötet, die auf uns schossen.« Sicher beinhaltet die Dokumentation Propaganda der Hamas. Wieviel, wer weiß es schon? Sicher ist aber: Nur wer sich beide Seiten anhört, kann sich vielleicht ein Urteil bilden.

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