Wer, wenn nicht wir?
Von Sabine LuekenEine Mutter-und-Tochter-Geschichte: Die Tochter ist Wera Herzberg, Schauspielerin, Regisseurin und Autorin, die Mutter Ursula Herzberg, Jüdin, Kommunistin, DDR-Bürgerin und Staatsanwältin. Aus Texten und Briefen sowie einem Interview, das der ältere Bruder Wolfgang geführt hat, hat Wera Herzberg die Geschichte ihrer Mutter rekonstruiert und unter dem Titel »Heimweh wonach« im Heimathafen Neukölln auf die Bühne gebracht. Wolfgang Herzberg hat 2022 von seiner Familie in dem Buch »Jüdisch und links. Erinnerungen 1921–2021 zum Kulturerbe der DDR« berichtet und für den jüngsten Bruder André, Musiker und Sänger der Rockband Pankow, die Texte geschrieben. Und auch André Herzberg hat seine Familiengeschichte in einem Roman »Alle Nähe fern« (2015) verarbeitet. Pankow sind übrigens seit Mitte Januar auf Abschiedstournee.
Ursula Herzberg wurde 1921 in einer bürgerlichen, jüdischen Familie geboren, wuchs in Berlin in der Schönhauser Allee, Ecke Milastraße, auf und konnte 1939 siebzehnjährig mit einem Kindertransport nach England fliehen. Dort arbeitete sie in einer Rüstungsfabrik, lernte in Leicester in der Freien Deutschen Jugend (1939 in Großbritannien gegründet) den gleichaltrigen Hans kennen, der den Nazis ebenfalls mit einem rettenden Transport aus Hannover entkommen war. Die beiden heirateten und gingen 1947 zusammen in die sowjetische Besatzungszone, um im Auftrag der KPD den Sozialismus aufzubauen. »Wer soll das machen, wenn nicht wir?« sagt er zu ihr, die eigentlich nicht zurück nach Deutschland will.
Der Abend im Heimathafen beginnt mit den Kindheitserinnerungen der Mutter und folgt ihrer Biographie anhand von Fragen der Tochter. Was bedeutete das Judentum für die Mutter, was für die Tochter, was bedeutete die Rückkehr nach Ostberlin, was Jüdischsein in der DDR?
Zwei Schauspielerinnen (Tochter: Adrienn Bazsó, Mutter: Charlotte Ronas) und die Musikerin Rahel Maria Rilling tragen den Abend mit großer Ernsthaftigkeit durch zwei Stunden intensiver Mutter-Tochter-Gespräche auf der einfach gestalteten Bühne mit sparsamen Requisiten. Drei wechselnde Zeitebenen werden durch kolorierte Schwarzweißvideos Dalia Castels anschaulich und durch Musikstücke von Mendelssohn und Schubert, DDR-Kinderlieder und Popsongs begleitet und interpretiert. Manchmal wird gemeinsam gesungen, manchmal getrennt. Die Tochter, die vieles kritisch beäugt, hat es schwer mit der Mutter, die oft verschlossen und misstrauisch ist. Sie hasst die Schule, wo sie als Tochter der Frau Staatsanwalt (!) ein sozialistisches Vorbild sein soll. Vor der Mutter will sie nicht weinen, ihr Kummer ist ja so klein im Vergleich mit dem der Mutter. Wenn die Mutter Brechts »Lob des Kommunismus« zitiert: »Er ist das Einfache, das schwer zu machen ist«, hält sie dagegen: »Das Schwere, das einfach nicht zu machen ist.«
Als sich Ursulas Mann, leitender Rundfunkjournalist beim Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienst (ADN) und bei Radio Berlin International (RBI), wegen einer Jüngeren trennt, bleibt sie berufstätig und alleinerziehend mit drei kleinen Kindern zurück. Sie raucht viel, schickt die Tochter zum Zigarettenholen: Cabinet. Angestrengt wird sie streng und manchmal tyrannisch, desillusioniert von den verknöchernden Verhältnissen in der DDR. Sie, die nach der Rückkehr aus dem Exil mit einer Kurzausbildung ohne Studium Karriere als Juristin machen konnte, wird von »neuen Funktionären des etablierten Sozialismus«, wie es auf dem Theaterzettel heißt, ersetzt.
»Heimweh, wonach?«, das Gedicht, das dem Stück den Titel gab, stammt von Mascha Kaléko, die Heimatverlust und das Lebensgefühl erzwungener Emigration sehr gut kannte:
»Wenn ich ›Heimweh‹ sage, sag ich ›Traum‹.
Denn die alte Heimat gibt es kaum.
Wenn ich Heimweh sage, mein ich viel:
Was uns lange drückte im Exil.
Fremde sind wir nun im Heimatort.
Nur das ›Weh‹, es blieb.
Das ›Heim‹ ist fort.«
Ursula Herzberg verlor die Heimat viele Male. Die Heimat Berlin, die neue Heimat England, zuletzt 1989 die Heimat DDR, die nicht eine nationale, sondern eine politische und soziale war: »Hätte ich gewusst, wie dieses Experiment ausgeht, ich wäre wohl nicht nach Deutschland zurückgekommen.« Lebenslang trauert sie um die verlorene Mutter, es war ihr nicht gelungen, sie nach England nachzuholen. Am Ende des Lebens spricht sie es aus, das Wort, das – so die Tochter – eigentlich nie gesagt werden durfte: »Auschwitz«.
Nächste Vorstellungen: 13.2., 14.2., 7.3., 8.3.
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