Kiewer Rückzugsgefechte
Von Reinhard Lauterbach
Russland und die Ukraine haben ihre Angriffe auf industrielle Ziele im jeweils anderen Land intensiviert. In der Nacht zum Mittwoch wurden nach russischen Angaben mehrere ukrainische Drohnen im direkten Umkreis des russischen Atomkraft-werks (AKW) bei Smolensk abgeschossen. Schaden sei nicht entstanden, hieß es aus Moskau. Dagegen räumte Russland Brände in zwei Raffinerien bei Belgorod und in der Region Nischni Nowgorod östlich von Moskau infolge von ukrainischem Beschuss ein.
Russland schlägt seinerseits mit offenbar wachsender Genauigkeit gegen industrielle Ziele der Ukraine zu. Am Dienstag wurde ein Rüstungsbetrieb in Uman südlich von Kiew zerstört. Als Folge fiel in der ganzen Stadt der Strom aus. Weitere Angriffe gab es gegen Industriebetriebe in Charkiw und Mikolajiw. Dort kamen zwei Beschäftigte ums Leben. Ukrainische Abgeordnete bringen die zunehmenden Erfolge des russischen Luftkriegs damit in Verbindung, dass die Ukraine aus Mangel an Soldaten Spezialisten der Luftabwehrtruppen in die Infanterie versetzt hat und sie im Donbass kämpfen lässt.
Angelsächsische Medien berichten weiter ausführlich über Personalmangel in der ukrainischen Armee. Zuletzt trug der Economist – im Prinzip ein Blatt der Kriegsverlängerungsfraktion – Eindrücke aus den Schützengräben bei: Die ukrainische Armee sei nur noch in der Lage, ad hoc Löcher zu stopfen. Eine koordinierte Verteidigung könne sie nicht mehr leisten.
Derweilen haben russische Truppen offenbar Dworitschna nördlich von Kupjansk im Bezirk Charkiw erobert. Die Besonderheit liegt darin, dass die Ortschaft auf dem Westufer des Flusses Oskil liegt und als Ausgangspunkt eines künftigen Angriffs auf den Logistikknotenpunkt Kupjansk dienen könnte. Außerdem berichtete eine mit dem ukrainischen Militär verbundene Webseite, russische Truppen seien bis zu der Verbindungsstraße von Pokrowsk ins östlich gelegene und noch von ukrainischen Truppen gehaltene Konstantinowka vorgestoßen. Sollte sich dies bestätigen, wäre die strategisch wichtige Stadt Pokrowsk jetzt von drei Seiten eingeschlossen.
In der ukrainischen Öffentlichkeit wächst unter dem Eindruck dieser Entwicklungen der Wunsch nach möglichst raschen Friedensverhandlungen mit Russland. Eine aktuelle Umfrage des Instituts Socis aus Kiew nennt 50,6 Prozent Befürworter einer »Kompromisslösung«, die unter Beteiligung der Präsidenten Wladimir Putin und Wolodimir Selenskij ausgehandelt werden sollte, weitere 19 Prozent sprachen sich für einen Waffenstillstand entlang dem Frontverlauf aus. Der Anteil der Befürworter weiterer Kämpfe ist demnach auf etwa 25 Prozent gesunken.
Der Parlamentsabgeordnete Fjodor Wenislawskij erklärte dagegen unter Berufung auf vertrauliche Informationen aus dem Umkreis Selenskijs, auf ein baldiges Kriegsende möge sich die Bevölkerung keine Hoffnungen machen – dieses Jahr komme es sicher nicht. Im Unterschied dazu ließ Putin erstmals erkennen, dass Russland auch mit Selenskij über ein Kriegsende verhandeln könnte – obwohl es ihn offiziell als Politiker mit »überschrittenem Verfallsdatum« bezeichnet. Putin sagte in einem Interview, er selbst werde an solchen Gesprächen zwar nicht teilnehmen, aber er würde Vertreter delegieren. Auch dies ist eine Konzession an die Ukraine, die Verhandlungen mit Putin persönlich ausschließt. Selenskij hat dieses Verbot zuletzt damit begründet, dass er sich so die politische Hoheit über mögliche Verhandlungen sichern und verhindern wolle, dass ukrainische Oppositionspolitiker durch Gespräche mit Russland an Profil gewönnen.
Die Verbraucher in der EU müssen sich nach dem Willen Brüssels auf höhere Lebensmittelpreise einstellen. Die Kommission beschloss, ab März – also zu Beginn der Pflanzsaison – zusätzliche Zölle auf russischen Kunstdünger zu verhängen. Derzeit kommt etwa ein Drittel des in der EU verwendeten Kunstdüngers aus Russland, das entsprechende Exporte zuletzt stark erhöht hat. Damit sollen vom westlichen Embargo betroffene Ausfuhren von Erdgas ausgeglichen werden, das in großen Mengen zur Herstellung von Kunstdünger erforderlich ist.
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