Neoliberal, unsozial, scheißegal
Von Christoph Butterwegge
Er ist der Kanzlerkandidat mit den besten Aussichten. Wer Friedrich Merz verstehen und wissen möchte, was von ihm als Bundeskanzler zu erwarten ist, sollte Merz’ 2008 erschienenes Buch »Mehr Kapitalismus wagen: Wege zu einer gerechten Gesellschaft« lesen. Darin legte er ausgerechnet zu der Zeit, als die Banken- und Finanzmarktkrise globale Dimensionen annahm, einen Treueschwur auf die bestehende Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung ab. Dabei war spätestens damals klar, dass der heutige Kapitalismus keine nachhaltige Wirtschaftsentwicklung gewährleisten und weder den Wohlstand eines Großteils der Weltbevölkerung sichern noch die verharmlosend »Klimawandel« genannte Erderwärmung aufhalten kann.
Der wachsenden Kritik am Finanzmarktkapitalismus trat Friedrich Merz mit geradezu missionarischem Eifer entgegen. Ihm missfiel, wie sozial es in Deutschland zuging, während er ausgerechnet das Vereinigte Königreich unter der »eisernen Lady« Margaret Thatcher modellhaft fand. Ohne sie namentlich zu erwähnen, warf er der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel vor, die unter ihrem Amtsvorgänger Gerhard Schröder »mühsam zustande gebrachten Korrekturen in den Sozialversicherungen allesamt in Frage gestellt« zu haben: »Von ›Fordern und Fördern‹, wie zuvor bei den ›Hartz-Reformen‹, ist jetzt nicht mehr die Rede; statt dessen gibt es jede Woche und jeden Monat neue Leistungsversprechen von der Bundesregierung und dazu die faktische Verstaatlichung des überwiegenden Teils des Gesundheitssektors.«
Auch stört Merz, dass so viel und so positiv von sozialer Gerechtigkeit gesprochen werde. Sein politisches Glaubensbekenntnis besagt, »dass freier Kapital- und Warenverkehr, Wettbewerb, offene Märkte und individuelle Freiheit auch und gerade in den Sozialsystemen für den Wohlstand eines Landes und für jeden einzelnen weitaus mehr leisten können als jede noch so gut gemeinte, aber undifferenzierte oder unbezahlbare Forderung nach immer mehr ›sozialer Gerechtigkeit‹«. Am meisten missfällt Merz, »dass in der politischen Auseinandersetzung unserer Zeit nahezu nur noch von Verteilungsgerechtigkeit die Rede ist und darunter ein an die Bürger verteilender Staat verstanden wird«. Daraus schlussfolgert er, dass mittlerweile ein »verkümmerter Gerechtigkeitsbegriff« unsere Köpfe und Diskussionen beherrsche.
Eher jedoch ist Merzens Gerechtigkeitsbegriff verkümmert, denn der CDU-Politiker gibt sich mit Beschäftigungspolitik und Arbeitsbeschaffung zufrieden: »Gerechtigkeit, richtig verstanden, orientiert sich (…) primär an der Schaffung von Arbeitsplätzen sowie an effizienten Anreizen für die Menschen, bestehende Arbeitsangebote wahrzunehmen.« Sozial ist allerdings nicht, wer Arbeit schafft, sondern nur, wer Armut abschafft.
Laut Merz wurzelt die Legitimität des Wohlfahrtsstaates im Menschenrecht auf Freiheit sowie in den Rechten auf Nahrung, Sicherheit, medizinische Grundversorgung und Bildung. Für diese habe der Staat die Rahmenbedingungen zu schaffen: »Er muss ermöglichen, dass den Bürgern diejenigen Güter bereitgestellt werden, die ein selbstbestimmtes und eigenverantwortliches Leben ermöglichen – aber auch nicht mehr.« Der letzte Zusatz unterstreicht, dass Merz als politisches Ziel kein moderner Sozialstaat vorschwebt, sondern nur ein neoliberaler Minimalstaat. Niemand sollte von ihm erwarten, dass er als Bundeskanzler die Armut in Deutschland abschaffen wird.
Mit seinem Vorbild Ludwig Erhard geht Merz davon aus, dass die kapitalistische Wirtschaftsordnung »aus sich selbst heraus« sozial sei. Tatsächlich hat Erhard, dessen politisches Aushängeschild die »soziale Marktwirtschaft« war, die große Rentenreform, mit der Konrad Adenauer für CDU und CSU die absolute Mehrheit bei der Bundestagswahl 1957 schaffte, erbittert bekämpft und nie eine großzügige Sozialpolitik befürwortet. Auch für Merz ist das bestehende Wirtschaftssystem per se sozial, wenn offene Märkte und die freie Konkurrenz gewährleistet sind: »Soziale Marktwirtschaft ist Kapitalismus mit funktionsfähiger Wettbewerbsordnung.«
Weniger Sozialstaat
Friedrich Merz denkt nicht sozial, sieht im Wohlfahrtsstaat vielmehr nur ein Wirtschaftsunternehmen, das »ein stärkeres Fundament aus Eigenkapital und Kapitalmarktorientierung« benötige, weshalb eine »große Sozialstaatsreform« nötig sei. Ihm zufolge löst der moderne Sozialstaat kein Problem, sondern ist selbst eins geworden: »Der alles umsorgende Wohlfahrtsstaat alter Prägung ist nicht mehr länger bezahlbar. Der Kapitalismus im marktwirtschaftlichen Sinne könnte die Funktionsfähigkeit unseres Sozialstaats nicht nur besser organisieren, er könnte auch die vorhandenen Mittel viel wirkungsvoller einsetzen.« Und das bedeutet hauptsächlich, weniger Transferleistungen zu gewähren. Der moderne Sozialstaat sei »paternalistisch«, weil er »zur umfassenden Regulierung des gesamten Lebensalltags der Gesellschaft« tendiere, was mit einem »massiven Griff in die Taschen der Bürger und insbesondere der sogenannten Besserverdienenden« einhergehe.
Einerseits stören Merz die »konfiskatorische Abgabenbelastung« sowie der »scharfe Progressionsverlauf bei den mittleren und oberen Einkommen«, welcher einschließlich des Solidaritätszuschlages und der Kirchensteuer zu einer Grenzbelastung von mehr als 50 Prozent führe. Das oberste Ziel ist für ihn die Senkung der Steuer- und Abgabenlast. Ähnlich wie Donald Trump und Elon Musk in den USA würde Merz als Bundeskanzler den staatlichen Verwaltungsapparat – wohlgemerkt: nicht dessen harten Kern, also die Bundeswehr, die Geheimdienste und die Polizei – am liebsten massiv »verschlanken« und die freigesetzten Geldmittel größtenteils in den Privatsektor umleiten: »Mit geringeren Staatsausgaben könnte die Belastung der Steuerzahler und der Beitragszahler erheblich gesenkt, die Fähigkeit zur Ersparnisbildung und die Kaufkraft großer Teile der Bevölkerung erhöht und zugleich die Schuldenlast der öffentlichen Haushalte reduziert werden.«
Andererseits sind ihm die Transferleistungen, die er als »Übertreibungen unseres Sozialstaats« abqualifiziert, viel zu hoch. Sozialpolitik, die »zur reinen Gefälligkeitspolitik degeneriert« sei, hat wenig Platz in seinem kapitalfreundlichen und finanzmarktaffinen Entwurf. Auch fehlt dem Kanzlerkandidaten der Union das sozialpolitische Grundwissen, wenn er anlässlich der jüngsten Diskussionen über das Bürgergeld immer noch – genauso wie 15 Jahre vorher als Buchautor – in den staatlichen Transferleistungen, die wie die Grundsicherung für Arbeitsuchende einkommensabhängig und bedarfsgeprüft gezahlt werden, ein »bedingungsloses Grundeinkommen« sieht.
Freimütig bekennt sich Merz zu einer »Position des begrenzten Sozialstaats«, die der »Generationengerechtigkeit« geschuldet sei. Mit diesem neoliberalen Kampfbegriff, der unterstellt, dass die soziale Scheidelinie in unserem Land nicht zwischen Arm und Reich, sondern zwischen Jung und Alt verlaufe, begründet der Kandidat, »dass neben der solidarischen Absicherung der großen, für den einzelnen untragbaren Lebensrisiken mehr als eine materielle Grundsicherung für die wahrhaft Bedürftigen schlicht nicht finanzierbar ist – oder eben nur zu Lasten zukünftiger Generationen«.
So wird Sozialpolitik im wesentlichen auf die Schaffung günstigerer Rahmenbedingungen für Unternehmen und die Gewährleistung von Geldwertstabilität für Leistungsbezieher reduziert. Weil die vorherrschende »Technologiefeindlichkeit« zur Abwanderung weiterer Leistungsträger ins Ausland führen könne, müsse sie genauso energisch bekämpft werden wie die Inflationsgefahr: »Neben stabilem Geld ist ein gutes Klima für die Erforschung, Entwicklung und Erzeugung neuer Produkte die beste Sozialpolitik.« Als wenn sich Arme, Alte, sozial Benachteiligte, Kranke und Menschen mit Behinderungen – traditionell die Hauptadressaten einer guten Sozialpolitik – davon was kaufen könnten.
Kopfprämie statt Bürgerversicherung
Krankheiten sind für Friedrich Merz, der kaum Empathie erkennen lässt, in erster Linie ein volkswirtschaftliches Problem. Er plädiert für einen »Systemwechsel hin zu einer privaten Krankenversicherung und privatem Wettbewerb der Leistungsanbieter« statt für die Schaffung einer solidarischen Bürgerversicherung, die das von Merz zu Recht als »nicht mehr zeitgemäß« betrachtete »Nebeneinander von gesetzlicher und privater Krankenversicherung« zur Gegenseite hin auflösen würde, indem auch Selbständige, Freiberufler, Beamte, Abgeordnete und Minister einbezogen würden.
Lieber favorisiert Merz »eine echte Versicherung«, worunter er versteht, dass ein Kapitalstock aufgebaut und der Beitrag »am individuellen Risiko« kalkuliert wird. Beiträge sollten »nicht als Anteile vom Arbeitseinkommen«, sondern »nach versicherungsmathematischen Grundsätzen erhoben« werden. Dieses unter dem Stichwort »Kopfprämie« firmierende Modell würde besonders jene Menschen teuer zu stehen kommen, die übergewichtig und/oder häufig krank sind. Umgekehrt kämen jene Menschen preiswerter als jetzt davon, die ohnehin privilegiert sind, weil sie nicht schwer und unter schlechten Rahmenbedingungen arbeiten müssen.
Abfällig äußert sich Merz über die »Unterschichten«, denen er unzulässig pauschalierend vorwirft, nicht genug auf ihre Gesundheit zu achten, was häufiger Adipositas und Diabetes Typ zwei nach sich ziehe. Dadurch wiederum steige ihr Risiko für Schlaganfälle, Bluthochdruck, Herzerkrankungen, Gicht, Krebs und andere Krankheiten drastisch. Deshalb sei »ein weiterer Abstieg der Unterschichten aus gesundheitlichen Gründen vorprogrammiert, wenn nicht einschneidende Maßnahmen ergriffen werden«.
Demagogische Demographie
Aus der – wie im öffentlichen Diskurs üblich – stark dramatisierten demographischen Entwicklung unserer Gesellschaft zieht Friedrich Merz den Fehlschluss, dass alle Sozialversicherungszweige zur (stärkeren) Kapitaldeckung übergehen müssen, die jedoch Finanzmarktabhängigkeit bedeutet und mit zusätzlichen Risiken einhergeht. Merz benutzt die Demographie als Mittel der sozialen Demagogie und macht sich zunutze, dass in den Medien beständig kolportiert wird, demnächst müssten zwei Versicherte – viel weniger als früher – einen Rentner ernähren, was sie zweifellos überfordern dürfte. Allerdings haben sozialversicherungspflichtig Beschäftigte noch nie einen Rentner ernährt. Die Renten werden vielmehr aus der gesellschaftlichen Wertschöpfung finanziert, und zwar erst zu dem Zeitpunkt, zu dem sie gezahlt werden müssen. »Sparen« für die Zukunft gibt es volkswirtschaftlich nicht, obwohl der Begriff »Kapitaldeckung« das suggeriert. Die löst auch kein demographisches Problem: Wenn die Bevölkerung tatsächlich stark schrumpft und altert, sind ja zu wenige Junge da, um den Alten ihre Aktien, Indexfondsanteile oder anderen Wertpapiere abzukaufen. Vielmehr würden die Kurse in den Keller rauschen.
Das große Vertrauen der Bevölkerungsmehrheit in ein kollektives Solidarsystem wie die gesetzliche Rentenversicherung ist Merz suspekt. Da er lieber auf individuelle Altersvorsorge setzt, würde er am liebsten schon kleine Kinder für den Kauf von Aktien motivieren: »Der Staat muss durch seine Vorgaben auf das Problem zu geringer Alterseinkommen aufmerksam machen und auf eine entsprechende Kapitalbildung hinwirken. Wenn dies die Grundschüler (?!) schon bei der Anlage ihres ersten Sparbuches verstehen, dann ist für die Sicherung der Alterseinkommen mehr gewonnen als mit der besten und größten Rentenreform aller Zeiten.« Hier klingt bereits die »Frühstartrente« im Bundestagswahlprogramm von CDU und CSU an, bei der bei jedem Kind ab dem 6. Lebensjahr vom Staat pro Monat 10 Euro in ein individuelles, privatwirtschaftlich organisiertes Aktiendepot eingezahlt werden sollen, um frühzeitig für das Alter vorzusorgen.
Zu Merzens Leidwesen hält sich die Begeisterung der Menschen für den Aktienkauf und den Kapitalmarkt hierzulande bislang in Grenzen. Daher mokiert sich ein Multimillionär, der Merz vielleicht auch damals schon war, über »das unter uns Deutschen sehr ausgeprägte Sicherheitsdenken und unseren unterentwickelten Sinn für unternehmerisches Risiko, die dazu führen, dass wir unser privates Vermögen traditionell entweder gar nicht oder nur sehr zögerlich am Kapitalmarkt investieren«. Geht’s eigentlich noch? 40 Prozent der Bevölkerung haben überhaupt kein nennenswertes Vermögen, aber zu Recht die Befürchtung, durch Börsengeschäfte bei einem Finanzcrash auch noch ihr letztes Erspartes zu verlieren.
Dem stellt Merz lobend die Mentalität des normalen US-Bürgers gegenüber, der »immer die Entwicklung der Aktienmärkte im Blick« habe, weil »seine Altersversorgung zu einem erheblichen Teil von den Aktienkursen abhängt«. So wünscht er sich auch den deutschen Angestellten – täglich »Wirtschaft vor acht« im Fernsehen schauend und blind der Börse vertrauend, wenn es um die Bekämpfung der wachsenden Altersarmut geht. Und im Pflegeheim ist der weitere Verbleib des Rentners womöglich auch vom Stand des Dax abhängig.
Wenn man Aktienbesitzer und somit eigene Wählerschichten reicher machen kann, hört für Merz auch die bürgerliche (Entscheidungs-)Freiheit auf, der er sonst häufig das Wort redet. Plötzlich ist die Bevormundung der Arbeitenden durch den Staat sogar ausdrücklich erwünscht: »Man sollte grundsätzlich alle Beschäftigten gesetzlich verpflichten, ein Mindestmaß an Altersvorsorge durch eigene Mittel frühzeitig zu beginnen.« Als wäre die Zahlung der Rentenversicherungsbeiträge von Beschäftigten nicht ebenfalls »Altersvorsorge durch eigene Mittel«, zu der der sogenannte Arbeitgeber allerdings – anders als in der von Merz gewünschten Privatvorsorge – seinen Teil beitragen muss.
Privat vor Staat auch bei Bildung
Friedrich Merz ist ein Fan privater Bildungseinrichtungen, Schulen und Hochschulen. Um »zu einer dauerhaft tragfähigen finanziellen Ausstattung von Schulen und Hochschulen« zu gelangen, schlägt er deren »Öffnung für privates Kapital« vor. Er behauptet, »die grundsätzliche Bereitschaft der Unternehmen und der vermögenden Privatpersonen, für die Bildung in Deutschland Geld zur Verfügung zu stellen«, sei noch nie »größer als gegenwärtig« gewesen. Stark ausgeprägt und uneigennützig scheint diese Bereitschaft aber nicht zu sein, denn Merz räumt ein, dass sich der »Aufbau eines Vermögensstocks bei den Universitäten« keineswegs »über die Spenden und Stiftungen aus dem versteuerten Einkommen« realisieren lasse: »Zumindest der steuerlich sofort abzugsfähige Höchstbetrag muss bei der Gründung von Stiftungen auf mindestens eine Million Euro im Jahr angehoben werden, sonst wird nicht genügend Geld aus privaten Quellen zusammenkommen.«
Darüber hinaus fordert der Kandidat, dass wohlhabende Eltern die teilweise horrenden Schulgebühren ihrer Sprösslinge an Privatschulen von der Einkommenssteuer absetzen können sollten. Andernfalls sieht er »die Loyalität der Leistungseliten zu unserem Staat und unserer Gesellschaft« in Gefahr: »Die ›Besserverdienenden‹ haben genügend Möglichkeiten, schon bei der Ausbildung ihrer Kinder dem Standort Deutschland auszuweichen. Seit Jahren steigt die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die im Ausland auf Privatschulen gehen, ebenso drastisch an wie die Zahl der dauerhaft im Ausland studierenden deutschen Studenten.«
Man kann darin eine versteckte Drohung und den Versuch einer politischen Nötigung sehen, dass Merz einen Kausalzusammenhang zwischen Steuergeschenken an Reiche und der »Standorttreue« ihrer Kinder herstellt. Rechtspopulistisch ist, dass er seine Vorstöße zugunsten ohnehin materiell Privilegierter als Initiativen zugunsten Unterprivilegierter, von ihm durchgängig als »sozial Schwache« bezeichnet, auszugeben sucht – so auch in diesem Fall: »Fehlende Loyalität und mangelnde Bereitschaft zum privaten Engagement gehen schlussendlich vor allem zu Lasten der sozial schwächeren Kinder, die auf gute staatliche Bildungseinrichtungen am meisten angewiesen sind.«
Ginge es nach Merz, würde das Volk der Dichter und Denker perspektivisch zum Volk der Stifter und Schenker, während der Staat noch weniger Steuern von Hochvermögenden und Spitzenverdienern fordern würde, damit diese mit dem sonst dem Fiskus zufließenden Geld einen um so stärkeren Einfluss auf die Bildungseinrichtungen nehmen könnten.
Finanzmarktkapitalismus pur
Friedrich Merz leugnet nicht, dass es in Deutschland ein »Einkommens- und Vermögensproblem« gibt, wie er die bestehende Verteilungsschieflage reichlich nebulös bezeichnet, glaubt jedoch allen Ernstes, es durch eine größere individuelle Sparbereitschaft, den Konsumverzicht der Bevölkerungsmehrheit zugunsten eines langfristigen Vermögensaufbaus und die Kapitalbildung bei Beschäftigten mittels ETF-Sparplänen lösen zu können. Die abhängig Beschäftigten will Merz zu (Klein-)Aktionären machen und eine »Kultur der Aktie« etablieren. Ausführlich behandelt er die (Teil-)Privatisierung der Volkswagen AG und der Telekom AG – bis heute ein Trauma für Millionen Kleinaktionäre, die ihre Hoffnung auf mühelosen Reichtum mit dem Verlust ihrer Ersparnisse bezahlt haben. Dennoch möchte Merz die Bevölkerung durch einen »Überzeugungsprozess, der Aufklärungs- und Vertrauensarbeit erfordert«, für den Kapitalmarkt zurückgewinnen.
Seitenlang schwärmt er von der »Leistungsfähigkeit kapitalmarktorientierter Modelle der Vermögensbildung« und listet detailliert hohe Erträge, Vermögen und Auszahlungen verschiedener US-Pensionsfonds auf. Wie ein aufdringlicher Börsenmakler preist Merz sogenannte Exchange-Traded Funds, etwa Dax-Indexzertifikate, mit dem zweifelhaften Argument an, dass sie regelmäßig deutlich höhere Renditen als Pflichtbeiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung erzielten. Der Kandidat vergleicht hier Äpfel mit Birnen, nämlich ein kollektives Solidarsystem, das sich seit weit über 100 Jahren bewährt sowie zwei Weltkriege, Krisen und Inflationen überdauert hat, wegen seines Umlageverfahrens aber gar keine Dividenden kennt, mit einem individuellen Lotteriespiel, das neben Gewinnern zwangsläufig auch Verlierer hervorbringt.
Friedrich Merz hat kein christliches, sondern ein ausgesprochen elitäres Menschenbild: Im unteren Teil der Gesellschaft sind die Menschen seiner Einschätzung nach überwiegend faul, denn sie »neigen in ihrer großen Mehrheit zur Bequemlichkeit« und nehmen in »größerer Zahl« die Leistungen der Arbeitslosenversicherung »auch ganz gern einmal in Anspruch«; im oberen Teil der Gesellschaft ist hingegen das »Macht- und Gewinnstreben« völlig normal, weil »Teil der menschlichen Natur«, wie Merz schreibt. Daraus resultiert bei ihm die Verachtung von Leistungsbeziehern einerseits und die Verherrlichung von hauptsächlich in den Familienunternehmen lokalisierten »Leistungsträgern« andererseits: »Im eigentümergeführten Mittelstand gibt es nach wie vor ein über Generationen hinweg gelebtes vorbildliches Führungsverhalten, das geprägt ist von der Verantwortung für das Unternehmen und seine Mitarbeiter sowie von der beständigen Sorge um die Fortführung des Unternehmens auch in der nächsten Generation.« Millionengehälter von Topmanagern sind Merz zufolge »als Anerkennung für die unternehmerische Leistung« gerechtfertigt. Fehlverhalten und Gier bei Unternehmern oder Managern wertet Merz als »kritikwürdige Einzelfälle«, beim ebenfalls seltenen »Sozialmissbrauch« von Transferleistungsbeziehern geht er davon aber mitnichten aus.
Beseelt von neoliberalem Wettbewerbswahn und einem ausgeprägten Standortnationalismus, möchte Merz das angeblich eher schwächelnde Deutschland zu einem exzellenten Wirtschaftsstandort machen und weiter voranbringen: »Wenn wir den Wettbewerb um die besten Köpfe, die besten Produkte, die besten Dienstleistungen, das beste Rechtssystem und die beste Infrastruktur annehmen und unsere Bevölkerung darauf vorbereiten, dass wir uns alle wieder ein wenig mehr anstrengen müssen und nicht weniger, auch im Durchschnitt wieder mehr arbeiten müssen, dann waren die Chancen für uns noch nie so groß wie heute.« Heute versprechen die Unionsparteien in ihrem Bundestagswahlprogramm, »Deutschland wieder nach vorne« zu bringen, und zwar mit denselben fragwürdigen Rezepten, die Merz schon damals empfahl.
Alle zentralen Aussagen des Buches von Merz tauchen heute im Wahlprogramm der Union als Kernforderungen auf. Das gilt für die Parole »Mehr Netto vom Brutto!« genauso wie für die »Technologieoffenheit« im Hinblick auf die Kernenergie oder den Anspruch, dass »wir Deutschen« in technologischer wie ökonomischer Beziehung auch künftig oder wieder »zur Spitzengruppe« der Welt gehören sollten. Umverteilung des Reichtums von unten nach oben bildet den Kern dieses Politikkonzepts. Arme sollen den Gürtel enger schnallen, damit Reiche den Gürtel weiter lockern können. Merz will jährlich 30 bis 40 Milliarden Euro mehr in die Rüstung stecken, finanziert durch Minderausgaben beim Bürgergeld und bei der Unterbringung und Verpflegung von Asylsuchenden. Profitieren würde, wer Großaktionär von Rheinmetall ist.
Dennoch glauben offenbar Millionen Normal- und Geringverdiener, Multimillionär Merz werde die Regierungsgeschäfte in ihrem Sinne führen. Man kennt dieses Paradox von Jörg Haider, Silvio Berlusconi und Donald Trump. Eine sozialpsychologische Erklärung bietet höchstens die Bewunderung für einen prominenten »Erfolgsmenschen«, dem man folgt, um sich in seinem Glanz sonnen zu können. Auch trägt die verständliche Enttäuschung über Regierungen dazu bei, deren Mitglieder sich für »normale Leute« (Olaf Scholz), sozial Benachteiligte und Unterprivilegierte einzusetzen versprochen hatten, das aber nicht taten.
Christoph Butterwegge ist Politikwissenschaftler. Jüngste Veröffentlichungen: »Deutschland im Krisenmodus«, (2024) »Umverteilung des Reichtums« (2024). Er schrieb an dieser Stelle zuletzt am 15. Mai 2022 über die Folgen der Coronapandemie für Kinder und Jugendliche.
links & bündig gegen rechte Bünde
Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.
Ähnliche:
- Maurizio Gambarini/IMAGO/Funke Foto Services05.02.2024
Startschuss für Startchancen
- IMAGO/NurPhoto06.12.2023
Lernen fürs Aktiendepot
- dpa26.11.2010
Merkels Raubzug
Mehr aus: Kapital & Arbeit
-
Zollschlacht mit Kanada und Mexiko
vom 01.02.2025 -
»Elon Musk passt gut ins Konzept«
vom 01.02.2025 -
Audi goes to Hollywood
vom 01.02.2025 -
Deprimierende Zinspolitik
vom 01.02.2025