Weder Stil noch Moral
Von Maximilian SchäfferDie Freiheitsstatue zur seltsamen Vignette verdreht – ein abstraktes Symbol, dessen Bedeutung jede Seekrankheit zum Omen macht. Durch die Bullaugen der Holzklasse auf dem Ozeandampfer erspäht er sie. Was bekommt László hier, in Freiheit, versprochen, nachdem ihm seine Heimat Europa versucht hat, das Leben zu nehmen? In Deutschland war der Ungar Schüler am Bauhaus Dessau, gestaltete Monumente der frühen Moderne. Ein stilprägendes Genie. Frau und Kinder ließ er zurück, um dem Holocaust zu entkommen. Nun also Philadelphia, dessen Hundefriedhof der Oligarchen schon Egon Erwin Kisch belustigte. Eine seltsame Stadt – rauh, dröge, gnadenlos. Bei einem provinziellen Innenausstatter soll er erst einmal arbeiten. Hässliche Holzverrenkungen zum Sitzen und Liegen. Essmöbel für angekettete Hausfrauen. Weder Stil noch Moral hat László so gelernt.
Besagten László Tóth, die eben eingeführte Hauptfigur des Films »Der Brutalist«, hat es in der Geschichte so nie gegeben. Ihm im Lebenslauf analoge Schriftsteller, Musiker, Wissenschaftler, Architekten haben die 1930er und 1940er Jahre zur Genüge parat. Die USA nahmen das intellektuelle Kapital, das man in der alten Welt so dummdreist wie grausam verzockt hatte, dankbar auf. Machten dabei wenig Unterschiede zwischen Opportunist, Kollaborateur und Opfer. Große Namen hatten es gut: Thomas Mann und Lion Feuchtwanger sicherten sich durch ihren Status (vom Waldbrand in Los Angeles bisher verschonte) feine Anwesen mit Meerblick in Pacific Palisades. Marcel Breuer lehrte in Harvard. Walter Gropius ebenfalls, er saß außerdem im Evaluationskomitee des Massachusetts Institute for Technology. László Moholy-Nagy gründete in Chicago das »New Bauhaus«. Filmfigur Thot ist sozusagen eine Collage dieser Persönlichkeiten – mit zwei Unterschieden: Er ist eindeutig Opfer, saß im KZ Buchenwald. Und er kommt ohne Geld, Status, Wohnung und Familie ins Land der unbegrenzten Erniedrigungen.
Dreieinhalb fetischistische Stunden lang entfaltet Regisseur Brady Corbet das zweite Leben des ungarisch-jüdischen Designers und Architekten. Schon die Wahl des Filmmaterials ist exklusiv – in superhochauflösendem, anschließend auf 70 mm kopiertem Vista-Vision zeichneten die Analogkameras auf. Viral gingen Fotos von den 300 Pfund schweren Zelluloidrollen, die vor dem Kinoprojektor gelagert waren. Unglaublich teuer und unvergleichlich schön, so ästhetisch, dass es pervers wird. Diese neurotisch choreographierte Kinematographie ist mindestens so zentral für die gesamte Konstruktion dieses Golems von einem Film wie seine Figur. Thót ist die Sachlichkeit des Bauhauses nach der Emigration nicht martialisch genug. Er rächt sich an der Welt mit dem, was sie später »Brutalismus« nennen wird. Was der Film hier allerdings »brutalistisch« nennt, ist in Wahrheit eher ein Betondekonstruktivismus. Man kann ihn – passenderweise – beim Jüdischen Museum in Berlin sehen und erleben. Beide Baustile werden ungeachtet solcher kunsthistorischen Feinheiten von großen Teilen der Bevölkerung ebenso passenderweise als Kollektivstrafe angesehen.
Denn »Der Brutalist« ist ein Film über Perversion und Rache. Er verfährt hier ganz nach seinen offensichtlichen Vorbildern: »There Will Be Blood« (2007) und »The Master« (2012) – beide von Paul Thomas Anderson. Beide Filme entblößen in schmerzhafter Ruhe und Länge das Seelenleben ihrer Figuren. Beide Filme handeln ebenso von den intensiven wie ultragewalttätigen Beziehungen zweier Männer. In »Der Brutalist« sind es Adrien Brody als Protagonist László Tóth und dessen Gegenspieler, ein ebenfalls fiktiver Mogul namens Harrison Lee Van Buren (Guy Pearce). Als Tóth von dem Superreichen engagiert wird, beginnt sein Aufstieg zurück in die Gesellschaft der Anerkannten. Ein Haus, ein Theater, eine Schwimmhalle aber sind nicht genug zur Verewigung seines Geldgebers. Van Buren fordert eine Multifunktionskathedrale in seinem Namen, er will sie wohlfeil und effizient. Kleine und große Katastrophen reihen sich aneinander, das Vertrauen der Partner zueinander schwindet. So ähnlich verhält es sich auch zwischen Regisseur und Publikum. So ähnlich scheitert auch dieser Film an seiner unangreifbaren (Selbst-)Wichtigkeit, die sich permanent selbst reflektiert haben will.
Brodys betont zehrende Darstellung des zunehmend zynischer werdenden, tief verletzten, unzugänglichen Maestro reibt sich an Felicity Jones, die seine durch Osteoporose an den Rollstuhl gefesselte Ehefrau Erzsébet spielt. Der Kampf der Eheleute im Film ist auch ein Wettkampf der Schauspieler. Erzsébet als dritte Kraft entpolarisiert die Erzählung vom Architekten und dem Milliardär unnötig. Als sie nach Jahren der Ungewissheit endlich zusammen mit der schwer traumatisierten Nichte in den Vereinigten Staaten ankommt, entblößt der Film, der bis dahin ein ganz besonderer sein will, seine doch recht konventionellen Ansprüche, die er mehr anhäuft, als sie zu erkunden. Erzählungen von Liebe und Begehren, Sex mit Prostituierten, Männern und Behinderten, Drogensucht und Armut, jüdische Identität – alles erkundet oder erduldet der Protagonist eigentlich wieder nur zum Zweck der akkumulierten Wichtigkeit des Drehbuchentwurfs.
Am Ende möchte »Der Brutalist« sich dann noch anmaßen festzustellen, warum die USA ein rassistischer, kapitalistischer Haufen sei und Israel eine innere Notwendigkeit eines verlorenen Volkes. Einem Film, der sich herausnimmt, das Gefühlsleben eines oder gar aller Holocaustüberlebenden auf eine ganze Epoche von Architektur zu projizieren, kann und soll nichts hinzugefügt werden.
»Der Brutalist«, Regie: Brady Corbet, USA/UK/Kanada, 214 Min., bereits angelaufen
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