In Shorts in den Krieg
Von Gisela SonnenburgEine Frau zieht einen Schlitten. Darauf sitzt, in sich zurückgezogen und fast leblos, ihr Mann: Vaslav Nijinsky, der psychisch schwer erkrankte Weltstar des Balletts, der einst als Tänzer und Choreograph Furore machte. Dazu zirpt, ploppt, dröhnt die 11. Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch. Die Beziehung des Paares beginnt zu atmen, mit innigen akrobatischen Umarmungen. Doch es bleibt schwierig: Der Mann zappelt, die Frau barmt. Der emotionale Winter, der die beiden in Sommerkleidung erwischt hat, wird wohl niemals enden. Gänsehauttreibend. So ist es, wenn das Dresdner Semperoper-Ballett das große Ballett »Nijinsky« von John Neumeier tanzt.
Vor 25 Jahren fand in Hamburg die Uraufführung dieses zweieinhalb Stunden langen Stücks statt, bei dem zeitweise rund 50 Personen wild tanzend auf der Bühne sind. Es ist frisch und ergreifend wie am ersten Abend. Dabei wird – höchst untypisch für Ballett – gekreischt und geschrien, marschiert und gestampft. Im ersten Teil versucht Nijinsky zu Musiken von Robert Schumann und Nikolai Rimski-Korsakow seinen Erinnerungen und Visionen zu entfliehen. Den Rahmen dessen bildet sein letzter Auftritt 1919, vor geladenen Gästen in einem Luxushotel in den Schweizer Bergen. Im zweiten Teil füllen Soldaten ohne Waffen die Bühne, kämpfen um ihr Leben.
Es ist der Erste Weltkrieg, der das Leben der Titelfigur zerstörte, zusätzlich zur beruflichen und privaten Krise. Nijinsky war ein Star der Ballets Russes in Paris. Er hatte ein Verhältnis mit deren Chef und Impresario Serge Diaghilev. Nach der »unerlaubten« Eheschließung 1913 warf der eifersüchtige Diaghilev ihn jedoch raus – für Nijinsky der Anfang vom Ende. Hypersensibel litt er zudem unter den politischen Geschehnissen jener Zeit.
Die Angst und Hysterie, die Sinnlosigkeit und Brutalität, sind nicht auf den Ersten Weltkrieg begrenzt. Der Krieg selbst ist hier erschütternd auf die Bühne gebracht. Scharen von Männern in nicht zugeknöpften Militärjacken über Shorts wirken wie versprengte Truppen, die nur dem Tod entkommen wollen. Das komplizierte Liebespaar bildet die private Folie aus Nijinskys Leben, ergänzt von den Geschwistern und der Mutter.
All das wurde in vier Besetzungen einstudiert. Bei der Premiere in der Semperoper tanzten am 24. Januar James Kirby Rogers und Svetlana Gileva das starke Künstlerpaar Vaslav und Romola. Aber auch Joseph Gray und Bianca Teixeira reißen mit, brillieren mit Gefühlsintensität und Präzision in den Bewegungen. Simon Hewett, ehemaliger Erster Ballettdirigent in Hamburg, dirigiert die hervorragende Sächsische Staatskapelle: glasklar, flüssig, auf den Punkt genau, mit stringenten Steigerungen. Manchmal geht er mit der Lautstärke bis an die Schmerzgrenze – das ist Absicht.
Pauken und Glocken bilden hier ein ungewöhnliches Gespann, das alarmieren soll. Schostakowitsch schrieb bis 1957 an der Sinfonie, aber sie trägt den Untertitel »Das Jahr 1905«. Gemeint ist der Petersburger Blutsonntag, an dem die Zarenwache demonstrierende Arbeiter niedermetzelte. Arbeiter- und auch Volkslieder bilden motivisch die Grundlagen.
In John Neumeiers Interpretation ruft das Sturmgeläut auch zur Zukunft. Wenn der Choreograph, der auch für die Ausstattung zeichnet, Tänzerinnen und Tänzer wie wilde Horden toben, dazu irre kreischen und schier aus der Haut fahren lässt, dann ist das ein Mahnmal gegen den Krieg. Das Programmheft zitiert Neumeier, »das Gefühl des Grauens im Ersten Weltkrieg« sei ein sehr gegenwärtiges.
Konterkariert werden die erschreckenden Passagen von den Idealen der schöngeistigen Kunst. So begeistert Ayaha Tsunaki als durchs Stück geisternde Ballerina Tamara Karsavina, die oftmals die Bühnenpartnerin von Nijinsky war. Weitere Tänzer verkörpern die wichtigsten Rollen des damaligen Superstars, etwa Francisco Sebastião als »Spectre de la Rose« und Moisés Carrada Palmeros als »Goldener Sklave«. Jenny Laudadio stakst zudem so haltgebend wie modernistisch auf Spitzenschuhen durchs Stück: als Schwester Nijinskys, Bronislava mit Vornamen, die selbst eine berühmte Choreographin wurde.
Eine männliche Figur aus dem Kanon der Ballette, die im Stück zitiert werden, berührt in diesem Kontext besonders: »Petruschka«, von Filippo Mambelli verkörpert, ist eine altrussische Kasperlefigur, die in Igor Strawinskys gleichnamigen Ballett zum Sinnbild des tragisch-vorwitzigen Verlierers wird. Bei Neumeier tanzt Petruschka mit halb lachendem, halb weinendem Gesicht: im Krieg, der alle gnadenlos vereinnahmt.
Nächste Vorstellungen: 9., 14. und 20. Februar
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