Verzweifelter Jongleur
Von Reinhard LauterbachWolodimir Selenskij geht es in gewisser Weise wie seinen Soldaten an der Front. Die beschweren sich seit Monaten, dass die eigene Führung – und das heißt in letzter Instanz der Präsident selbst – die Erlaubnis zum Rückzug aus gefährdeten Positionen verweigere, bis es zu spät sei und das Unternehmen zur Flucht werde. Mit Selenskijs eigenem Standing ist es kaum anders: Er hat sich mit einer Rhetorik der Siegeszuversicht in eine Position begeben, aus der er sich jetzt unter immer halsbrecherischen Verrenkungen abseilen muss. Wobei von der politischen Verantwortung für das militärische und politische Debakel der Ukraine möglichst wenig bei ihm hängenbleiben soll. Daher seine Erklärung, er sei doch zu eben jenen Gesprächen mit Wladimir Putin bereit, die er im Herbst 2022 persönlich verboten hatte. Jetzt heißt es aus Kiew, das Verbot habe nur für alle anderen ukrainischen Politiker gegolten, nicht für ihn selbst – damit nicht irgend jemand an ihm vorbei zu verhandeln begonnen hätte. Was aber auch nur bedeutet, dass er die Suppe auslöffeln muss, die er seinem Land eingebrockt hat. Wenn Russland nun sagt, mit Selenskij verhandle es nicht, kann dieser die beleidigte Unschuld geben, das ist Teil des Kalküls.
Das Spucken großer Töne ging solange gut, wie die Biden-Administration und die EU an dem Mantra des »as long as it takes« festhielten und damit Wolodimir Selenskij den Schlüssel zu Verhandlungen in die Hand gaben. Jetzt muss er versuchen, ein Vetorecht zu behalten, ohne dass das Nein von ihm ausgesprochen werden muss. Daher die Nebenbedingungen, die er in seinem Gespräch mit dem Trump nahestehenden britischen Journalisten Piers Morgan aufstellte. Fast jede davon ist von der Art, dass ihre Erfüllung durch Russland eine vollkommen andere politische und militärische Lage voraussetzen würde, als sie faktisch vorliegt: Atomwaffen für die Ukraine? Ob die USA davon begeistert wären, steht dahin – aber das soll Moskau akzeptieren? Nur über Putins Leiche und die der ganzen Generation potentieller Nachfolger gleich mit. Ein atomar bewaffneter und auf Revanche sinnender Nachbar mit weitreichenden Raketen in großer Anzahl – dafür hat Russland den Krieg nicht eröffnet, warum sollte es ihn jetzt damit beschließen? Die besetzten Gebiete zurückgeben, wo doch die Ukraine bereit ist, auf die NATO-Mitgliedschaft zu verzichten? Im Frühjahr 2022 hätte Selenskij das in Istanbul vielleicht noch haben können, aber damals ließ er sich von dem damaligen britischen Premier Boris Johnson und dem damaligen US-Außenminister Antony Blinken verleiten, sich auf die Verlängerung des Krieges einzulassen – wie er jetzt sagt, eine Operation, deren Ausgang nicht abzusehen gewesen sei. Wie wahr. Aber den damaligen Oberbefehlshaber in die Wüste schicken, als dieser darauf hinwies. Das ist Wolodimir Selenskij in voller Schönheit.
links & bündig gegen rechte Bünde
Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.
Ähnliche:
- 04.02.2025
»Wo ist das Geld hin?«
- 30.01.2025
Kiewer Rückzugsgefechte
- 28.01.2025
»Big Oil« nicht begeistert
Mehr aus: Ansichten
-
Russenwaffe des Tages: Bauschaum
vom 06.02.2025