Dein roter Faden in wirren Zeiten
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Aus: Ausgabe vom 08.02.2025, Seite 3 (Beilage) / Wochenendbeilage

Faschismus und Massen

Clara Zetkin analysierte 1923 den Aufstieg Mussolinis und anderer Rechter. Ihre Untersuchung blieb bemerkenswert aktuell
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»Mitreißende Wirkung auf breite soziale Massen«: Benito Mussolini am 26. September 1936 in Padua

Die Reformisten sehen im Faschismus den Ausdruck der Unerschütterlichkeit, der alles übertreffenden Kraft und Stärke der bourgeoisen Klassenherrschaft, der das Proletariat nicht gewachsen ist, gegen die den Kampf aufzunehmen vermessen und vergeblich ist. Es bleibt ihm so nichts anderes übrig, als still und bescheiden zur Seite zu treten, den Tiger oder Löwen der bürgerlichen Klassenherrschaft ja nicht durch den Kampf für seine Befreiung, für seine Diktatur zu reizen, kurz, auf Gegenwart und Zukunft zu verzichten und geduldig abzuwarten, ob man auf dem Wege der Demokratie und Reform ein weniges vorwärtskommen könne.

Ich bin entgegengesetzter Ansicht und alle Kommunisten wohl mit mir. Nämlich, dass der Faschismus, mag er sich noch so kraftmeierisch gebärden, ein Ausfluss der Zerrüttung und des Zerfalls der kapitalistischen Wirtschaft und ein Symptom der Auflösung des bürgerlichen Staates ist. Nur wenn wir verstehen, dass der Faschismus eine zündende, mitreißende Wirkung auf breite soziale Massen ausübt, die die frühere Existenzsicherheit und damit häufig den Glauben an die Ordnung von heute schon verloren haben, werden wir ihn bekämpfen können. Die eine Wurzel des Faschismus ist in der Tat die Auflösung der kapitalistischen Wirtschaft und des bürgerlichen Staates. Wir finden schon Symptome für die Proletarisierung bürgerlicher Schichten durch den Kapitalismus in der Vorkriegszeit. Der Krieg hat die kapitalistische Wirtschaft in ihren Tiefen zerrüttet. Das zeigt sich nicht nur in der ungeheuerlichen Verelendung des Proletariats, sondern ebensosehr in der Proletarisierung breitester klein- und mittelbürgerlicher Massen, in dem Notstand des Kleinbauerntums und in dem grauen Elend der Intelligenz. Die Notlage der Intellektuellen ist um so größer, als in der Vorkriegszeit der Kapitalismus sich angelegen sein ließ, davon eine Überproduktion herbeizuführen. Die Kapitalisten schufen auch auf dem Gebiete der Kopfarbeit ein Massenangebot von Arbeitskräften, um damit Schmutzkonkurrenz zu entfesseln und die Löhne, pardon Gehälter, zu drücken. Gerade aus diesen Kreisen rekrutierten der Imperialismus und der imperialistische Weltkrieg viele ihrer ideologischen Vorkämpfer. Augenblicklich erleben all diese Schichten den Bankrott ihrer Hoffnungen auf den Krieg. Ihre Lage hat sich außerordentlich verschlechtert. Schlimmer als alles lastet auf ihnen das Fehlen der Existenzsicherheit, die sie in der Vorkriegszeit noch hatten. (…)

In allen Ländern hat sich die Lage der Mittelschichten erheblich verschlechtert. Die Verschlechterung geht in manchen Staaten bis zur Zerreibung, zur Vernichtung dieser sozialen Schichten. In der Folge sind Tausende und Tausende vorhanden, die nach neuen Lebensmöglichkeiten, nach gesichertem Brot, nach sozialer Stellung suchen. Ihre Zahl vermehrt sich durch kleine und mittlere Beamte des Staates, der öffentlichen Dienste. Zu ihnen gesellen sich – auch in den Siegerstaaten – Offiziere, Unteroffiziere usw., die berufslos und erwerbslos geworden sind. Soziale Elemente dieser Art stellen dem Faschismus ebenfalls ein stattliches Kontingent, ein Kontingent, das besonders dafür ausschlaggebend ist, dass dieser in manchen Ländern einen ausgesprochen monarchistischen Charakter trägt. (…)

Der Faschismus hat noch eine andere Wurzel: Es ist das Stocken, der schleppende Gang der Weltrevolution infolge des Verrates der reformistischen Führer der Arbeiterbewegung. Ein großer Teil der proletarisierten oder von der Proletarisierung bedrohten klein- und mittelbürgerlichen Schichten, der Beamten, bürgerlichen Intellektuellen hatte die Kriegspsychologie durch eine gewisse Sympathie für den reformistischen Sozialismus ersetzt. Sie erhofften vom reformistischen Sozialismus dank der »Demokratie« eine Weltwende. Diese Erwartungen sind bitter enttäuscht worden. Die Reformsozialisten treiben eine sanfte Koalitionspolitik, deren Kosten zusammen mit den Proletariern und Angestellten die Beamten, Intellektuellen, Klein- und Mittelbürger jeder Art zahlen. Diese Schichten entbehren im allgemeinen der theoretischen, geschichtlichen, politischen Schulung. Ihre Sympathie für den Reformsozialismus war nicht tief verwurzelt. So kam es, dass sie nicht bloß den Glauben an die reformistischen Führer verloren, sondern an den Sozialismus selbst. (…) Dass die reformistischen Führer das Proletariat verraten, wiegt für die Einstellung der enttäuschten Elemente nicht so schwer wie die andere Tatsache, nämlich, dass die proletarischen Massen den Verrat dulden, dass sie das kapitalistische Joch ohne Auflehnung kampflos weitertragen, ja, sich mit härterer Pein abfinden als zuvor.

Clara Zetkin: Der Kampf gegen den Faschismus. Bericht auf dem Erweiterten Plenum des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale (20. Juni 1923). In: Protokoll der Konferenz der Erweiterten Exekutive der Kommunistischen Internationale, Moskau, 12.–23. Juni 1923. Hamburg 1923
Hier zitiert nach: Clara Zetkin: Ausgewählte Reden und Schriften, Band II. Dietz-Verlag, Berlin 1960, S. 691–695

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