Dein roter Faden in wirren Zeiten
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Dein roter Faden in wirren Zeiten
Aus: Ausgabe vom 15.02.2025, Seite 6 (Beilage) / Wochenendbeilage

Der Riss in der Plakette

DWM produzierte über ein halbes Jahrhundert Kriegsgerät, nach 1945 stand die Abkürzung für anderes. Geschichte eines Automaten. Teil eins von zwei
Von Barbara Eder
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Automaten leben nicht, sterben nicht und werden nicht geboren. Sie werden gewartet und gefilmt

Viel fehlte nicht. Nur ein Messingknauf am untersten Fach und ein abgesplittertes Stück Glas an einer der Ecken. Ob die beiden Schlüssel noch sperrten? Sie steckten fest in den runden Metallschlössern, eines oberhalb, das andere unterhalb des Einwurfschlitzes. Ich versuchte es mit einer Viertelumdrehung, doch die Schließzylinder bewegten sich, selbst unter starkem Druck von außen, nicht.

Nein, mit Interesse an seinem Automaten habe er nicht mehr gerechnet, das hatte Herr Tschurnigg noch am Telefon gesagt. Er dachte, dass ich wegen einer der Ferienwohnungen anriefe, bei Großstädtern wären sie im Sommer besonders beliebt. Ich erinnerte mich an das Onlineinserat neben dem Automatenbild: Urlaub am Bauernhof, naturnah und urig. Das anzumietende Idyll liegt knapp oberhalb der Baumgrenze, entlang einer Straße im Bezirk Villach-Land, kurz vor Goldeck. Ich vereinbarte einen Wochenendtermin, am Sonntag gleich nach der Messe, wie Herr Tschurnigg forderte. Von Wien aus waren es sechs Autostunden, meist entlang der A2. In der zweiten Kehre, kurz vor der Ortseinfahrt, bremste ich ab, kuppelte aus und startete den Motor des Mietwagens erneut bei angezogener Handbremse. Auf der Goldecker Höhenstraße gibt es kaum Gegenverkehr, aber zu viele Serpentinen.

Verwaister Verkäufer

Seit zwei Jahren stehe der Automat nun schon hier, unter dem Vordach der Scheune. Seither habe sich nicht viel bewegt, nicht im Inneren und nicht im Außen. Herr Tschurnigg streifte seine Handschuhe ab und tat es mir gleich. Auch unter seinen Fingern gaben die verrosteten Schlösser nicht nach. Ich sah hinein in den Hof, dann durch den Spalt der Holztüre hinter mir. Heu und landwirtschaftliche Geräte sammelten sich im Vorraum, am Ende des überdachten Ganges eine selbstgezimmerte Umzäunung für eine Handvoll Schweine.

Jahrzehntelang war der Automat eingemauert gewesen beim Greißler im Nachbarort, gleich neben der Eingangstür. Er habe Mannerschnitten verkauft, zuerst gegen 10 Schilling, dann gegen das Doppelte des ursprünglichen Preises. Aus dem Greißler war dann ein ADEG geworden und bevor der ADEG zum Interspar wurde, habe er, Tschurnigg, den Automaten aus der Mauer gefräst. Ich gab den mit ihm noch am Telefon vereinbarten Betrag in bar, Geld gegen Ware, ein vermittelter Tausch. Währenddessen versank ein Paar Handschuhe im gehäuften Heu der Scheibtruhe, die Hermann Tschurnigg neben seinem Automaten abgestellt hatte. Lange sollte es dort nicht bleiben. Ich klappte die Getränkerodel aus, hörte den Schieber einrasten und lud auf. »Mannerschnitten wird er nicht mehr verkaufen«, sagte ich. Die Räder der Rodel holperten durch den Hof, doch in gekippter Lage blieb die Fracht stabil.

Als ich das Heck hochklappte, hatte Herr Tschurnigg seine Handschuhe wieder an. Er packte an von unten, ich zog, vom Kofferraum aus – solange, bis nichts mehr hervorstand. Die Reißspur, die sich seither durch das Vlies des umgeklappten Rücksitzes zieht, habe ich erst später bemerkt. Ein verhornter Stumpf an der Hinterseite des Automaten hatte sie dort hinterlassen. Er bündelte die Reste einer Nabelschnur, zerfranst in drei Stränge. Der graue Plastikmantel über den Kupferdrähten war porös geworden, eine Aluminiumhülle umgab die verkordelten Reste. Tschurnigg hatte die elektronische Verbindung schon vor Jahrzehnten gekappt, den Kontakt nach Außen einfach abgeschnitten. Sein Automat war entbunden, jetzt gehörte er mir.

Automaten leben nicht, sterben nicht, sie werden nicht geboren. Statt dessen kommen sie aus Fabriken, mit Seriennummern, eingestanzt an ihren Seiten. Ein unauffälliges Messingschild an der linken Außenseite bezeichnete den Herkunftsort des Klappfachgestells, darunter eine fünfstellige Nummer: Berlin-Borsigwalde 36146. Als hätte der Automat Adresse und Postleitzahl. Oder ein weit in der Zeit zurückliegendes Geburtsdatum, angegeben in einem anderen Zahlenformat. Vor dem letzten Weltkrieg waren numerische Kombinationen dieser Art unter anderem Chiffren für Orte, an denen man Kokain kaufen konnte, Kennziffern für den nächsten Kick. Dieser Automat hingegen hatte keine festen Koordinaten, er arbeitete dort, wo man ihn abstellte – egal ob in Hochegg oder Berlin. Am oberen Rand des seitwärts angebrachten Messingschildes fand ich die Insignien des Herstellers, einziger Elternteil einer verwaisten Apparatur.

Mögliche Münzwürfe

Einen Sommer lang stand er mir gegenüber, eineinhalb Meter groß, dreißig Zentimeter breit und sechzig Kilo schwer. Er stank nach Stall und blieb anfangs verschlossen, an den Rändern klebten Mauerreste aus dem vergangenen Jahrhundert. Ich sprühte Lösungsmittel in die Schlösser, solange, bis sie aufsprangen; ein Innenleben dieser Art überfordert: Rost hatte sich durch alle Fächer gefressen, Schlieren durchzogen das eingesetzte Glas. Der Boden im Innenraum des Automaten war bedeckt von einer schmierigen Schicht aus Öl und Erde, darunter ein Vorschaltgerät für eine Leuchtstofflampe. Ich schraubte es aus und begann zu scheuern. Zwischen mir und dem Gestell klemmte ein Stuhl.

Mario interessiert sich nicht für Oberflächen, auf das Darunter kommt es ihm an. Nur einen Moment lang sah er in den Automaten hinein, dann baute er ihn auseinander. Er kennt die unterschiedlichsten Automatentypen, ist mit Drehfach-, Klapp- und Flipperkisten vertraut. Vor Jahren war er mit einem Kleintransporter quer durch Deutschland gefahren, bis an die belgische Grenze; von dort hat er dann eine ganze Tranche abgeholt. Die Automaten im Hinterzimmer der Dorfkneipe hatten schon lange ausgedient, darunter zwölf einarmige Banditen mit defekter Elektronik. Sie rochen nach warmem Bier und abgestandener Asche, erst die halbautomatischen Bürsten einer Autowaschanlage befreiten sie vom Wirtshausgeruch. Mario restaurierte und präparierte alle Münzprüfer für Zwei-Euro-Stücke; als er sich sein erstes Freispiel gönnte, wollte die Kugel nicht mehr zu rollen aufhören. In einem Planspiel ohne Ampeln flitzte sie über helle Autostradas aus LEDs, an einem dieser Tage, die nicht vor Mitternacht enden.

Wir nannten es nicht Arbeit, sondern Experiment. Ein Experiment mit Trichtern und Rädchen, Federn und Stangen, angebracht an einer Metallplatte, seitwärts der Automatentür. Ein Experiment mit einer Zehn-Schilling-Münze, die nicht im köcherartigen, durch zwei fest verfugte Schrauben fixierten Behältnis an der Unterseite derselben Platte landen wollte und anderswo einen Ausgang fand. Die Ordnung des Wurfes war vorgegeben, der Gegenstand steckte mitten in einem Münzprüfer, der auf Größe, Gewicht und die Legierung des silbrigen Runds geeicht war; vor einem Vierteljahrhundert war es aus dem Zahlungsverkehr gezogen worden, den Automaten hatte es für eine Verkaufstätigkeit in Österreich qualifiziert.

Mit einem Messer löste ich ein Zehn-Schilling-Stück aus dem Schlitz eines Sparschweins und führte die wertlos gewordene Münze einem neuen Zweck zu. Sie sollte sämtliche Stationen des Parcours durchlaufen, vom Einwurfschlitz bis zur Aufbewahrungsröhre; mit einer Haarnadel half ich immer wieder nach, schob das flache Metall unzählige Male durch prüfende Räder, dann vom Ende des Trichters bis zum Anschlag der Kippschaukel. Wenn sie, im Moment des Aufkommens der Münze beschwert, aus der Balance gerät, ist der Weg endlich frei. Dann würde die Stange mit den zwölf Fächern infolge des Zugs an einem der Messinggriffe nach oben schnellen und ein Fenster an der Fassade nach vorne kippen. Seine Verlängerung ist sichelmondartiges Schieberund, mit dem Klappfach zieht man es zu sich. Als die Münze zum ersten Mal in der für sie vorgesehenen Position aufkam, öffnete Mario das oberste Fach; als sie mit dem Schließen in den Münzköcher fiel, hörte es sich an, als hätten wir etwas entladen.

Militante Mechanik

Tagelang habe ich abgeschabt und aufgeraut, geputzt und gestriegelt. Der Rost an der Außenseite des Automaten blätterte ab wie alte Rinde, das Öl an den Scharnieren löste sich erst unter Einwirkung von Spezialbenzin. Dann deckte ich ab und begann zu sprühen, zinnoberrot die Fassade, schwarz das Gehäuse, seidenmatt. Seither spiegelt die Oberfläche, ein dunkler Kasten, glänzend wie ein Schrein. Erst da war sie mir aufgefallen, die Ruptur im Emblem, ganz unten an der Außenseite. Die vertikalen Streifen im abgeflachten Oval wirkten wie schematische Schienen, durch sie hindurch ein feiner Riss. Mitten durch das W. Das W in der Plakette mit dem Schriftzug DWM.

Mario war vertieft, er studierte den Münzmechanismus; ich öffnete ein Suchmaschinenfenster – und fand Waffen. Der erste, indizierte Eintrag zu DWM verwies auf ein Video, geschossen wurde darin zuerst auf Äpfel, dann auf Kohlköpfe; es folgte eine 3D-Animation mit grün eingefärbten Patronen, die sich von selbst zu lösen schienen. Die Waffe war versehen mit einer Signatur: K98k. So lautet die Chiffre für ein unter Sammlern besonders beliebtes Repetiergewehr, basierend auf dem Verschlusssystem Mauser 98. Auf seiner Internetseite verkündete der Hersteller eine jähe Renaissance: »Kenner schätzen noch heute die legendären Jagdpatronen und die 98er-Systeme der Baureihen DWM 1908 und DWM 1909. Jetzt erneuert Mauser die alte Verbindung und erweckt die Legende DWM zum Leben.«¹

Das »W« in DWM stand für »Waffen«, das »M« für Munition. Zu Beginn des letzten Jahrhunderts kamen beide von getrennten Orten, die Patronen aus Karlsruhe und die Kaliber aus Berlin.² Der Politik vereinter Standorte folgte eine Firmenehe. Als die Metallpatronenfabrik von Wilhelm Lorenz und Leopold Holtz sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit Ludwig Loewes Maschinen-Generalagentur vermählte, war es keine Liebesheirat. Nach einer weiteren Allianz mit dem Gewehrfabrikanten Mauser aus Oberndorf am Neckar belieferten die Deutsche Waffen- und Munitionsfabriken (DWM) nunmehr die Preußische Armee.

Es wird Krieg in Deutschland, später in der ganzen Welt. DWM-Waren wurden nach und nach zu Gütern des täglichen Bedarfs. Das Repetiergewehr K98k diente im Ersten Weltkrieg als Standardausrüstung des Deutschen Heeres, ab 1935 war es Ordonnanzwaffe der deutschen Wehrmacht.³ Das DWM-Emblem ähnelt jenem des Waffenherstellers Mauser, nur die Buchstaben im Schriftzug sind andere. DWM erzeugte im letzten Jahrhundert keine Automaten und keine Eisenbahnabteile; das W im Logo steht nicht für »Waggon«, es stand für »Waffen«.

Seit 1896 produzierten die DWM-Werke in Berlin-Borsigwalde Maschinengewehre, Kaliber, Handgranaten, Patronenhülsen, Nebelkerzen und Bombenzünder. Parabellum lautete die Bezeichnung für eine vor Ort ebenso hergestellte Selbstladepistole. Sie sollte den Frieden bringen, indem man mit ihr in den Krieg zieht; der Name war auch das Drahtwort im Telegrammdienst des DWM-Vorläufers Metallpatronen AG. Para-Bellum: Ein »Vorbereiten auf den Krieg«, der sich bis heute fortsetzt: Im virtuellen Forum prüft ein Schütze den Ladezustand seiner Waffe, dann füllt er auf. Nach dem ersten Schuss dreht der Verschluss des Gewehrs nach oben, der Schlagbolzen schnellt zurück; dann springt die leere Hülse aus der Pa­tronenkammer, der Schwerkraft diametral entgegengesetzt.

Einwerfen ist auch ein Laden, mit Münzen als Munition. Die Mechanik im Inneren des DWM-Automaten gleicht der eines vertikal aufgestellten Maschinengewehrs, mit einer Kippschaukel anstelle eines Kammerstengels. »Wie eine Waffe«, sagte ich zu Mario, der nur nickte; eine verstellte Schraube hatte einen Moment lang die Fächerstange blockiert. Mario hatte sie neu justiert und etwas anderes entdeckt: Der ehemalige Automatenbesitzer begnügte sich nicht mit einer Zehn-Schilling-Münze – an der verstellbaren Kippschaukel hatte er Platz für das Doppelte geschaffen.

Automaten am Eichborndamm

Uhren kann man zurückdrehen, Luftbildaufnahmen auch. Mit historischen Satellitenbildern tauchen Waffensammler aus aller Welt online in eine Vergangenheit ein, die ihre Zukunft ist. Nostalgie ist eine rechte Form der Verklärung: Leben vor einer Schneekugel, in ihren Mitten das traute Paar. Magda Ritschel und Günther Quandt haben hier geheiratet, in Sichtweite der ehemaligen Reichskanzlei. Legenden wie diese ranken sich bis heute um das Areal am Berliner Eichborndamm.

Anmerkungen

1 Das Zitat zum Gewehr »Mauser 98 DWM« ist zu finden unter www.mauser.com/de/MAUSER-98-DWM/80112513 (abgerufen 6.4.2024).

2 Im Jahr 1896 wurden die Unternehmen Ludwig Loewe & Co. (Berlin), Mauser (Oberndorf) und die Metallpatronen AG (Karlsruhe) zur Deutsche Waffen- und Munitionsfabriken AG (DWM) mit Sitz in Berlin fusioniert – mit dem Ziel der Herstellung scharfer Munition im Auftrag des preußischen Heeres, vgl. dewiki.de/Lexikon/Metallpatronen_AG (abgerufen 6.4.2024).

3 Ebd.

Barbara Eder ist freie Journalistin

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