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Aus: Ausgabe vom 15.02.2025, Seite 4 (Beilage) / Wochenendbeilage
Libanon

Heimat im Exil

Israels Krieg im Südlibanon retraumatisiert eine ganze Generation, die 1948 schon einmal alles verloren hat
Von Malika Salha
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Zerstörter Markt in einer Nachbarschaft Nabatijas, die von der israelischen Armee nahezu unbewohnbar gemacht wurde

Im Südlibanon – der Heimat vieler palästinensisch-libanesischer Schiiten, unserer Heimat – liegt alles in Trümmern. Am 12. Dezember 2024, auf meiner ersten Reise in den Süden seit dem Ausbruch des Krieges Ende 2023, begegnet mir vor allem eines: Zerstörung. Die Straßen sind bereits freigeräumt, und wir passieren Tyros, eine der ältesten Städte der Welt, etwa 75 Kilometer südlich von Beirut. Seit Ende November herrscht Waffenruhe zwischen Israel und der Hisbollah. Fast zwei Wochen später beginnen die Menschen der Ruhe zu vertrauen. Hunderte, die in den Norden geflüchtet waren, kehren an diesem Tag in den Süden zurück. Zu meiner Rechten eine Promenade, begleitet von Palmen, das Glitzern des Meeres. Zur Linken Restaurants ohne Fenster, zerstörte Wohngebäude und Plakate mit Menschen, die teilweise noch unter den Trümmern liegen. Ganze Familien. Die Bilder hängen vor ihren ehemaligen Wohnhäusern, sie verfolgen uns auf dem Weg. Anspannung liegt in der Luft. Viele stehen vor ihren Häusern oder Läden, vor den Trümmern ihrer Existenz – und schauen fassungslos.

Wer sind diese Menschen? Die meisten sind Schiiten und stammen ursprünglich aus sieben Dörfern, die sich historisch zwischen den Grenzen von Libanon und Palästina befanden. In den Orten, wo ich unterwegs bin, sind es vor allem Menschen aus den ehemaligen Dörfern Saliha, Hunin, Kadas und Al-Malkijja. 1948 wurden die Menschen aus den von Schiiten bewohnten Dörfern in Nordpalästina im Zuge der Nakba gewaltsam vertrieben. Bis heute lebt eine Generation im Südlibanon, die 1948 extreme Gewalt, Vertreibung und Massaker erlebt hat. Mein Großvater überlebte das Massaker mit zwölf Jahren in Saliha, indem er sich totstellte, sein Bruder überlebte mit einer Kugel im Kopf. Über 90 Menschen wurden an diesem Tag getötet, hauptsächlich Männer und Jungen. Die Überlebenden, zu denen auch meine Großmutter gehörte, flohen und bauten sich im Südlibanon eine zweite Heimat auf.

Endloses Erbe

Diese Geschichte von Verlust und Vertreibung ist nicht nur die meiner Großeltern. Sie ist die Geschichte vieler Menschen, die auch heute noch mit den Folgen der Nakba leben. Trotz der Verwurzelung im Libanon ist insbesondere die schiitische Diaspora wegen der eigenen Geschichte von 1948 mit der palästinensischen Causa verbunden. Als ich meiner Oma die Bilder meiner Reise nach Israel zeige – Fotos von der Straße, in der sie ihre Kindheit verbracht hatte, sagt sie: »Das ist also mein Land, meine Heimat.«

Ich beobachte hier Menschen, die sich beim allerersten Aufeinandertreffen in die Augen schauen und lachen, sie erkennen die Gesichter aus den Dörfern in Nordpalästina wieder, auch nach ein oder zwei Generationen. Sie begegnen sich, und das erste, was sie fragen, ist: »Du bist aus Saliha, oder?« 1948 scheint wie ein endloses Erbe über den Menschen zu schweben, es ist allgegenwärtig. Dieses Erbe ist die Antwort auf die Frage, wieso die Menschen sich dazu entscheiden, Palästina verteidigen zu wollen. Die Antwort auf die Frage, wieso viele mit einer Miliz gegen Israel kämpfen.

Trotz des Widerstands ist verlorene Hoffnung spürbar – es sind nicht nur die Trümmer und die menschlichen Verluste, sondern auch die Sorge um die Zukunft ihrer Kinder, die die Menschen hier quälen. Die wirtschaftliche Situation ist für viele unerträglich geworden, berufliche Chancen sind durch die Welle der Zerstörung nach der Wirtschaftskrise, die den Libanon seit 2018 plagt, nicht mehr vorhanden. Meine Cousine Walaa lebte mit ihren fünf Kindern in einem Wohnhaus, das komplett zerstört wurde. Seit Ende 2023 bis zum 7. Dezember 2024 waren die Schulen aufgrund der Unterbringung von 1,5 Millionen Binnengeflüchteten und der Gefahr von Bombeneinschlägen geschlossen.

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Überall rote Zahlen: Die Hisbollah erfasst die Schäden, um später bedarfsgerechte Entschädigungen auszahlen zu können

Der Minister für Bildung, Abbas Al-Halabi, berichtete, dass 620 Bildungseinrichtungen als Unterkünfte für Vertriebene dienen, darunter 559 öffentliche Schulen, mehrere Universitätsgebäude und über 50 Privatschulen. Der Unterricht ging teilweise – insbesondere an privaten Schulen – online weiter; in einer Erklärung betonte der Minister jedoch, es seien insgesamt über 36.000 Lehrkräfte vertrieben worden. Ein durchgängiges Unterrichten der Kinder, insbesondere im Südlibanon, war deshalb nicht möglich. Walaas Kinder hatten fast ein ganzes Jahr lang keinen Zugang zu Bildung. Sie selbst arbeitete zuvor in einem Geschäft in Nabatija, das jedoch komplett zerstört wurde. Sie ist nur eine von vielen, die heute wohnungslos sind und für die ein Wiederaufbau nicht zu bezahlen ist.

Wir fahren weiter nach Nabatija. Dort, wo einst ein Markt und Hunderte von Geschäften standen, liegt die Stadt in Schutt und Asche. Kein Laden, keine Wohnung hat den Krieg unbeschadet überlebt. Ein Mädchen spielt in den Trümmern eines Wohnhauses. Ich beobachte es eine Weile. Es sucht nach etwas, das es kennt, und findet eine rosa Plastikflasche und einen zerfetzten Teddybären. Mit ihrer Ausbeute kehrt sie zurück in die Arme ihres Vaters, der auf die Trümmer seines Ladens starrt.

Wir fahren weiter in den Süden nach Zawtar Al-Scharkija, dem Dorf, in dem meine Familie lebt. Kurz nach dem Ortsschild sehe ich zerstörte Ladenpassagen und verbrannte Fahrzeuge.

Die Luft brennt

Eine unbeschreibliche Schwere macht sich in meiner Brust breit. Wieder stehen Menschen hilflos wirkend vor ihren Betrieben. Auf dem Weg zum Haus meiner Großeltern stehen fast ausschließlich zerstörte Gebäude, alles scheint noch verlassen. Aus Angst und Anspannung halte ich den Atem an, bis ich das Haus meiner Großeltern sehe. Es steht, ich atme. Die Fenster sind kaputt, es gibt Beschädigungen, doch keine Einschläge. Ich blicke auf die andere Straßenseite und schlucke. Das Haus unserer Nachbarn wurde zerstört. Im Eingangsbereich sei der Einschlag gewesen, erklärt mir mein Onkel, der während des Krieges geblieben war. Ich sehe ihn an, während er spricht; er sieht ernst aus, Schmerz zeichnet sein Gesicht. »Genau da haben sie deinen Onkel Ali getötet.« Seine Stimme klingt ruhig, fast resigniert. »Hörst du das Surren? Das ist die Drohne, die deinen Onkel getötet hat. Sie fliegt den ganzen Tag über uns.«

Die schlimmste Bombardierung hier in Zawtar fand zwischen dem 21. und 23. Oktober statt. Vegetationsflächen nahmen nach der Bombardierung ab, der Boden ist grau statt braun und grün. Die Luft brennt, überall liegt Staub und Asche. Das Atmen fällt schwer.

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Vor den Trümmern ihrer Existenz: Ladenbesitzer am Ortseingang von Zawtar Al-Scharkija

Insbesondere die Generation, die die Vertreibung und Gewalt der Nakba erlebte, will bei Näherkommen der Bomben und der israelischen Armee nicht fliehen. Die Frage nach dem Warum wird prompt und fast schon stur beantwortet: »Wir haben einmal unser Land verlassen, wir werden nie wieder gehen. 2006 sind wir nicht geflohen, und jetzt werden wir nicht fliehen. Wir haben uns hier alles aufgebaut. Das ist unser Land.«

Ich denke an ein Gespräch mit meinem Opa (arabisch: Gido), der 1948 das Massaker in Saliha überlebte. Auch er sagte: »Ich gehe nicht.« Doch die Situation wurde kurz darauf so schlimm, dass die meisten Menschen fliehen mussten – auch Gido.

Die Ungewissheit, was während der Flucht mit dem eigens erbauten Haus, dem neuen Grundstück nach dem Verlust der ersten Heimat und den teilweise zurückgelassenen Kindern und Enkeln passiert, macht diese Generation krank. Viele von ihnen sterben in den nächsten Wochen ohne tieferliegende medizinische Ursachen. So auch Gido, dessen jüngster Sohn durch einen Bombeneinschlag auf ein ziviles Gebäude getötet wurde. Die Zeit bei meiner Familie im Südlibanon ist eine Zeit voller Beerdigungen, sichtbarer und hörbarer Trauer und Gesichter voller Schmerz und Sorge.

Wie kann man sich die Last dieser Diaspora vorstellen? Wie kann ein Mensch den zweiten, so ungerecht und sinnlos wirkenden Verlust der eigenen Existenz überleben?

Ich beginne, die Menschen, die fast ganztägig vor ihren Häusern oder Läden stehen, zu interviewen. Überall finden sich rote Zahlen an den zerstörten Gebäuden. Ich frage, was die Zahlen bedeuten, sie erklären mir, die Hisbollah markiere Läden und Wohnhäuser, um Schäden zu erfassen und Entschädigungen an die Opfer zu zahlen.

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»Wenn das Blut eines Märtyrers ›fällt‹, ›fällt‹ es in die Hände Gottes«: Bilder der an dieser Stelle getöteten Menschen in Tyros

Zawtar hat einen kommunistischen Teil, der augenscheinlich am meisten zerstört wurde. An den übriggebliebenen Pfeilern, die inmitten zusammengefallener Häuser prangen, stehen in Rot die Zahlen der Zerstörung. Die erste und zweite Generation nach 1948 fegt die Trümmer dessen auf, was ihre Großeltern über Jahrzehnte aufgebaut haben: »Mit zwei Bomben zerstört (…), mit acht Bomben zerstört (…)«, höre ich, während ein Junge, der gerade noch versucht hat, mit einem Besen Trümmerberge wegzufegen, mit mir über eben jene Trümmer läuft, um mir die Einschläge zu zeigen.

Bomben fallen wieder

Nach dem Gespräch mit einem der Männer, die vor den Trümmern standen, setze ich mich mit ihm auf eine fast unbeschädigte Terrasse vor einem der Gebäude. Wir rauchen Shisha, fast schon friedlich wirkende Stille umhüllt uns immer so lange, bis das Blubbern der Wasserpfeife sie bricht. Wir blicken auf Olivenbäume, die die Trümmer und die Asche überlebt haben. Er sagt: »Jede Familie, jeder einzelne Mensch hier hat mindestens einen Menschen an Israel verloren. Wir versuchen, nicht zu hassen, aber es ist schwierig.« Er holt Luft, pausiert, während er in Richtung Süden blickt. »Und wofür das Ganze? Wofür? Wir lieben Palästina, wir wollen nicht dabei zusehen, was in Gaza passiert, aber wozu das Ganze letztendlich?«

Als ich am nächsten Tag mit dem Bürgermeister von Zawtar, Wassim Ismail, und dem Bürgermeister von Tyros, Hassan Dbuk, spreche, denke ich an die Worte des Mannes, während die beiden mir vom Ausmaß der Zerstörung berichten: Die Wasserleitungen in Zawtar und in Tyros sind komplett zerstört, auch Krankenhäuser und Pharmazien liegen in Trümmern. Ungefähr zwei Wochen sind die Menschen hier auf ein Leben ohne Trinkwasser angewiesen. Insgesamt wurden 28 Wasserversorgungseinrichtungen so beschädigt, dass eine Versorgung nicht mehr möglich ist. Mehr als 360.000 Menschen haben keinen geregelten Zugang zu sauberem Wasser.

Die Kosten für den Wiederaufbau der Wasserpumpe in Tyros, die durch zwei gezielte Einschläge zerstört wurde, belaufen sich laut Dbuk auf rund fünf Millionen US-Dollar. Er führt aus, dass zahlreiche Hilfsorganisationen Materialien für die Menschen beschaffen, so auch Trinkwasserlieferungen per Transport. Es gäbe außerdem eine Mühle, die einige Menschen mit Wasser versorgt, das jedoch keine gute Qualität erreiche. Von der Regierung haben beide Bürgermeister kein Geld erhalten. Beide gehen davon aus, entweder gar keine Unterstützung oder erst in ein paar Jahren etwas zu erhalten.

In den darauffolgenden Tagen beginnt der Wiederaufbau. Viele Menschen, darunter Ingenieure und Bauarbeiter, arbeiten zunächst unentgeltlich. Die Berge an Schutt werden zusammengesammelt und aus Mangel an Möglichkeiten zur Beseitigung verbrannt, das Atmen fällt schwer. Am 18. Dezember beginnen die großen Bombeneinschläge trotz vereinbarter Waffenruhe wieder. Ein Beben erschüttert den Boden, in den Nächten wackeln die Häuser, Türen und Fenster springen auf. Sie zerstören das nicht weit entfernte Dorf Kfarkila, das an der Grenze zu Syrien liegt. Sie machen weiter mit Chiyam. Wir wissen, welches Dorf als nächstes kommen könnte. Das Atmen fällt schwerer.

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