»Das Ende der deutschen Industrie«
Interview: Nick Brauns, München
Sie erhielten im April 2024 ein Einreiseverbot nach Deutschland, als sie auf den Palästina-Kongress in Berlin sprechen wollten. Dieses Jahr sind Sie zu den Protesten gegen die Münchner »Sicherheitskonferenz« angereist. Wie ist es um die Meinungsfreiheit bestellt?
Seit 1945 wurde sie in Deutschland noch nie so sehr in Frage gestellt, noch nie so sehr von der politischen Klasse untergraben, nicht nur vom Staat. Die große jüdische Intellektuelle Hannah Arendt könnte heute in Deutschland nicht den Hannah-Arendt-Preis erhalten. Das sagt alles.
Sie waren Finanzminister in der damals vom Linksbündnis Syriza geführten Regierung in Griechenland. Deutschland hatte Athen 2015 eine harte Austeritätspolitik diktiert und schlittert nun selbst in die Rezession. Empfinden Sie da Schadenfreude?
Das ist kein Grund zur Freude. Denn als Progressive müssen wir uns um das Leben der Menschen kümmern. Es war zudem nicht Deutschland, sondern die deutsche politische Klasse, die Griechenland diese Maßnahmen aufzwang. Das war keine Schulden-, sondern eine Bankenkrise. Im Jahr 2009 ließ Kanzlerin Angela Merkel zunächst 550 Milliarden Euro von den deutschen Steuerzahlern an diese bankrotten Banken umverteilen. Als das nicht ausreichte, erfolgte die zweite Bankenrettung in Form der Griechenlandrettung. Sie gaben der griechischen Regierung Geld, um es der Deutschen Bank zu geben, und alle Europäer mussten dafür bezahlen. Griechenland war nur das Versuchskaninchen, es folgten weitere Länder. Es ist ein großer Sozialismus für die Banker und Sparpolitik für die Massen.
Und die heutige Wirtschaftskrise in Deutschland …
… ist das Ergebnis von 15 Jahren Sparpolitik in diesem Land und viel Gelddrucken für das Großkapital. Weil die Menschen kein Geld mehr haben, investierten die Volkswagen-Bosse nichts, sie verwenden das von der EZB gedruckte Geld lieber, um ihre eigenen Aktien oder Wohnungen in Großstädten wie München oder Berlin zu kaufen.
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Doch wenn man 15 Jahre lang nicht investiert, verpasst man eine industrielle Revolution. Die deutsche Autoindustrie kann also nicht die Elektrofahrzeuge produzieren, die China herstellt, weil sie nicht in Ingenieure, Lieferketten, Technologie, die Software und in das Cloud-Kapital investiert hat. Und jetzt wandert Kapital aus Deutschland ab. Das ist also der Grund, warum das nicht nur eine vorübergehende Rezession ist. Dies ist das Ende der deutschen Industrie.
Sie haben die EU-Staaten als Vasallen der USA bezeichnet. Die Trump-Regierung geht auf Konfrontationskurs zu ihren Verbündeten. Bietet das nicht die Chance, sich zu emanzipieren?
Der Anblick der europäischen Staats- und Regierungschefs, die Donald Trump anflehen, Vasallen der USA bleiben zu dürfen, ist erbärmlich. Doch dahinter verbirgt sich die Realität des europäischen Kapitalismus. Es gibt Kapitalisten, die enorme Gewinne erzielen und Kapital aus ihren Nettoexporten in die Vereinigten Staaten anhäufen. Sie werden in Dollar bezahlt, weil die Vereinigten Staaten ein Defizit haben, der Dollar dominant ist, und deshalb nehmen sie die Dollars und bringen sie nach New York, wo sie Immobilien in Miami und Kalifornien kaufen. Und vor allem kaufen sie amerikanische Staatsanleihen. Es sind also deutsche Kapitalisten, die die Dollars, die sie in den Vereinigten Staaten verdienen, zur Finanzierung der imperialistischen Maschinerie der USA verwenden. Und das ist ein schrecklicher Recyclingmechanismus, der die deutschen Kapitalisten am Leben erhält. Deshalb wollen sie nichts anderes sein als Vasallen der amerikanischen Hegemonie.
Was sollte aus Ihrer Sicht die fortschrittliche Antwort auf die Herausforderungen der Migration sein?
Unsere Haltung muss ein unerbittliches, rationales Argument für Migration sein. Tausend Jahre lang haben wir Migration praktiziert. Wir sind nach Nordamerika, Südamerika, Australien und Afrika ausgewandert und haben die Welt kolonisiert. Und dann fingen wir an, alt zu werden. Die Demographie änderte sich, und unsere Bevölkerung schrumpft. Angesichts dieser demographischen Zeitbombe ist die Migration nach Europa ein Geschenk des Himmels.
Es gibt Menschen, sehr motiviert, sehr jung, die bereit sind, ihr Leben zu riskieren und Schleppern 5.000 Euro zu zahlen, um hierherzukommen, wo wir sie brauchten. Und wir lassen sie in der Ägäis ertrinken. Das ist nicht nur unmoralisch. Es ist dumm.
Yanis Varoufakis ist griechischer Ökonom und Politiker. Nach seinem Austritt aus der Partei Syriza gründete er 2016 die paneuropäische Bewegung DIEM 25 sowie 2018 die Partei MERA 25.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz S. (20. Februar 2025 um 11:32 Uhr)»Das Ende der deutschen Industrie«. Kaum zu glauben, Yanis Varoufakis macht sich ausgerechnet um die Kapitalisten Sorgen, die in seiner Zeit als Finanzminister Griechenland 2015 »eine harte Austeritätspolitik diktiert« hatten. Die griechischen Rentner könnten ihm ein Lied singen. Und, ganz was Neues, er betätigt sich als Arzt am Krankenbett des Kapitalismus. Wählt MERA 25! Yanis Varoufakis weiß, wie Kapitalismus ohne Krisen geht.
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