Schule der Artisten
Von Maximilian Schäffer
Eine sehr sehenswerte Dokumentation läuft in der Sektion Generation Kplus für die jüngsten Berlinale-Besucher: »Zirkuskind« von Anna Koch und Julia Lemke. Ein Jahr lang folgen die Regisseurinnen dem zehnjährigen Santino, Spross des »Circus Arena«, in seinem sehr ungewöhnlichen Alltag. Alles, was immer noch zum Zirkusbetrieb dazugehört, lernt Santino schon als Kind: den Aufbau der riesigen Zelte, inklusive schwerer Masten und unzähliger Pflöcke. Den Verkauf von lustig blinkendem Tand, Gummibärchen und Popcorn. Das Aufwachsen in straffen Familienverbänden – mit all ihren Begleiterscheinungen, Herzlichkeiten und Erwartungen. Die Identifikation als Aufbauarbeiter, Alltagsmanager und Artist gleichzeitig. Die Einsamkeit gegenüber der sesshaften Welt und ihren Institutionen.
Schule ist für Santino, der die meiste Zeit in Nord- und Mitteldeutschland auf Tournee ist, wie das täglich grüßende Murmeltier. Immer wieder feuert der Junge in fremden Klassenzimmern seine Routine ab: »Ich lebe im Zirkus, ich wechsle oft die Schule, wir haben Pferde und Dromedare …« Klar fragt eine der vielen unbekannten Mitschülerinnen immer mal wieder: »Stimmt es, dass die Tiere im Zirkus gequält werden?« »Nein«, antwortet Santino dann kurz und bündig.
Der Film belässt dieses besonders strittige Thema unwidersprochen bei dieser Antwort, es geht ihm zuvorderst um Verständnis für die Menschen, die seit Generationen zum Broterwerb mit heimischen wie exotischen Vierbeinern reisen. Opa Georg »Eke« Frank, nach eigener Auskunft der älteste Zirkusdirektor Deutschlands, erzählt von einem großen Elefanten, der wie seine menschlichen Schlachtrösser einen Künstlernamen besaß. Im rotwelschen Dialekt der Traveller, Sinti und Schausteller erzählt Eke auch von den Greueln des Porajmos. Das immer noch währende allgemeine Unverständnis für die eigene Lebensweise muss er dem Enkel nicht erst lehren.
Hübsche Animationen von Sternen, Stars und Manegen durchsetzen den Film, der Kinder sanft in eine Parallelwelt auf den heimischen Festplätzen und Kirmesäckern entführt. Fernab von Startups und Großraumbüros, gleichzeitig der Gegenentwurf zu Netflix und Sofakartoffel. Die großen Herausforderungen eines solchen Lebens, seien sie finanzieller oder persönlicher Natur, lässt dieser Film zwar anklingen, aber größtenteils doch außen vor. Santino, obwohl er sich bereits lebenslänglich im Zirkus sieht, hat seine Karriere erst vor sich. Ob er jonglieren oder voltigieren lernt, Clownerie oder Trampolin – das wird sich auch danach entscheiden, ob überhaupt noch Gäste kommen. Es darf nicht vergessen werden, dass die Coronamaßnahmen diesen Menschen fast drei Jahre lang zumindest die ökonomische Grundlage geraubt haben.
»Zirkuskind«, Regie: Anna Koch und Julia Lemke, BRD 2025, 86 Min., Generation Kplus, 20.2., 22.2.
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