Aufenthalte
Von Holger Römers
»Dreams« beginnt mit Bildern eines Lkws, der unter gleißender Sonne fahrerlos am Straßenrand steht. Ein Schnitt deutet das Verstreichen der Zeit an, das im Laderaum eingeschlossene Menschen zu so verzweifeltem Rütteln und Trampeln veranlasst, dass der ganze Wagen wackelt. Da unter solchen Umständen regelmäßig Migranten sterben, weckt ein später eingestreuter TV-Clip über entsprechende Polizeiermittlungen den Verdacht, dass die Filmhandlung womöglich als eine Phantasie der Protagonistin Jennifer (Jessica Chastain) zu deuten wäre. So bleibt uns, auch wenn dieser Verdacht sich zerschlägt, deutlich bewusst, dass das hier abgebildete Geschehen nicht die Wirklichkeit lateinamerikanischer Migration in die USA spiegelt.
Kaum dass Fernando (Isaac Hernández) aus dem Laderaum des Lkws getaumelt und aus Texas nach San Francisco getrampt ist, findet Jennifer ihn in ihrem Bett vor. Wie Dialoge und kurze Rückblenden ergeben, hat die Milliardärstochter mit dem jungen Mann in dessen Heimat Mexiko-Stadt eine Affäre begonnen, wo die Stiftung ihrer Familie das Ballett fördert, an dem er getanzt hat.
Indem Regisseur Michel Franco die Protagonistin, deren Vater und Bruder ausschließlich mit Mäzenatentum beschäftigt zeigt, blendet er jedes wirtschaftliche Interesse an Migration aus. Jedenfalls bleibt die Frage ungeklärt, aus welcher Unternehmenstätigkeit das riesige Stiftungsvermögen herrührt – und inwiefern sie von importierter Arbeitskraft profitiert. In Jennifers San Franciscoer Haus sind indes keine Bediensteten zu sehen, wohingegen Fernando, der als Spross des gehobenen mexikanischen Bürgertums gezeichnet ist und zur Ballettkarriere prädestiniert erscheint, sich bloß aus Trotz zur Maloche in einem für »papierlose« Migranten typischen Dienstleistungsjob herablässt.
Da die Figurenzeichnung einen deutlich größeren Altersunterschied suggeriert als die 13 Jahre, die Chastain und Hernández tatsächlich trennen, wirft sie die Frage auf, inwiefern sich unter umgekehrten Geschlechtervorzeichen die berüchtigten Ausbeutungsmuster von angegrautem Theaterinvestor und Revuegirl wiederholen. Ebenso stellt sich die Frage, inwiefern Exotismus das Begehren Jennifers färbt, die auf spanisch nicht einmal eine Restaurantbestellung aufgeben kann.
Franco hat denn auch auffällig Spaß daran, Chastain in Outfits schlüpfen zu lassen, von denen eins toller ist als das andere. Und da sein Hauptdarsteller im Hauptberuf ein renommierter Tänzer ist, scheint er jede Interaktion zweier Figuren einem Pas de deux annähern zu wollen – eine Vergewaltigung inklusive.
»Dreams«, Regie: Michel Franco, Mexiko 2025, 100 Min., Wettbewerb
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