Brutale Offenheit
Von Jörg Kronauer
Bei aller berechtigten Aufregung über den Rohstoffoktroy, den die Vereinigten Staaten der Ukraine aufzwingen, sollte man zweierlei nicht vergessen. Das eine: Dass Kiew nach dem Ende des Kriegs über Jahrzehnte in einer Art Schuldknechtschaft vom Westen abhängig sein würde, steht schon lange fest. Weil die EU ihre stolze Kriegsunterstützung für die Ukraine großenteils als Kredit gewährt hat, sind Kiews Schulden bei ihr laut Berechnungen des Komitees zur Streichung illegitimer Schulden (CADTM) aus Liège von fünf Milliarden Euro im Februar 2022 auf 43 Milliarden Euro im November 2024 in die Höhe geschnellt; damit kann Brüssel der Ukraine über Jahrzehnte Daumenschrauben anlegen. Das zweite: Derlei ist in der westlichen Wertewelt völlig normal. Großbritannien zum Beispiel überwies die letzte Kreditrate, mit der es Waffen- und sonstige Hilfen aus den USA im Zweiten Weltkrieg beglich, an seinen Hauptverbündeten Ende 2006. Seine Schulden in Washington hatten sich 1945 auf das Doppelte seiner Wirtschaftsleistung belaufen; sein militärischer Sieg brachte London finanziell an den Rand des Ruins.
Neu am Vorgehen der Trump-Regierung ist nicht, dass Washington Kiew auspresst; es sind vielmehr die brutale Offenheit, der Chauvinismus, die Maßlosigkeit, mit der es dies tut. Die USA äußern ihre Ansprüche nicht im Kleingedruckten von Verträgen, die in Hinterzimmern ausgehandelt werden, sondern lauthals vor den Augen der Weltöffentlichkeit; sie demütigen die Ukraine nicht nur, sie demütigen sie öffentlich. Der US-Präsident begleitet dies mit der zusätzlich herabwürdigenden Äußerung, die ukrainische Seite »wolle« auf ihre Rohstoffe verzichten: »Sie fühlen sie gut damit.« Die USA fordern erstickende 50 Prozent sämtlicher Einkünfte nicht nur aus dem Verkauf der Bodenschätze, sondern auch aus dem Ertrag der Infrastruktur der Ukraine, etwa ihrer Häfen; die Zahlungen sollen insgesamt 500 Milliarden US-Dollar betragen, ein Mehrfaches der bisherigen US-Unterstützung. Selbst der rechte britische Telegraph stuft das als Unterwerfung der kriegszerstörten Ukraine als Kolonie ein, und zwar, da die geforderten Leistungen unerfüllbar sind, faktisch auf Dauer.
Doch bei aller Aufregung darüber: Womöglich verpasst die Trump-Regierung mit ihrem Vorgehen gegenüber Kiew ihrem globalen Abstieg nur den nächsten Schub. Das Bild, das die Welt von den USA habe, ändere sich zur Zeit, äußerte Singapurs Verteidigungsminister Ng Eng Hen auf der Münchner Sicherheitskonferenz. Habe es sich einst vom Befreier des Jahres 1945 zur globalen Interventionsmacht verschoben, so wandle es sich nun zum »Hausherrn, der die Miete eintreibt«. Nicht nur auf Taiwan, das die USA gegen China in Stellung bringen wie einst die Ukraine gegen Russland, stellt sich immer dringlicher die Frage, was man als Verbündeter der USA auf lange Sicht zu erwarten hat. Und ob sich mit Blick darauf nicht die Suche nach einer neuen Wohnung lohnt.
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