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Aus: Ausgabe vom 24.02.2025, Seite 11 / Feuilleton
Berlinale

»Wer braucht unanstößige Kunst?«

Berlinale. Unter neuer Führung machte das Festival nichts falsch, aber wenig richtig
Von Holger Römers
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Bauch, Beine, Po: Orsolya (Eszter Tompa, l.) lässt sich treiben (»Kontinental ’25«)

Der Wechsel der Intendanz hat das Festival wohl vom Regen in die Traufe befördert – das lässt sich nach dem Ende der ersten Berlinale, die von Tricia Tuttle verantwortet wurde, bilanzieren. Dabei war in der Sektion »Perspectives«, mit deren Erfindung die US-Amerikanerin den auffälligsten programmatischen Akzent gesetzt hat, das allgemeine Qualitätsniveau nicht zu bemängeln. Allerdings wurde nicht ersichtlich, welchen Vorteil dieser »Wettbewerb für Spielfilmdebüts« im Konkurrenzkampf mit den Festivals von Cannes und Venedig bieten könnte. Erstlingswerke laufen auch im »Forum«, das den »jungen Film« in seinem vollständigen Namen führt, sowie im »Panorama«. Indem sie die vom ausgebooteten Vorgänger Carlo Chatrian geschaffene Reihe »Encounters« ersetzte, hat sie das Profil der notorisch unübersichtlichen Berlinale also kaum geschärft.

Statt dessen hat man nun noch weniger Grund zur Hoffnung, in einer Nebensektion zufällig einen Glückstreffer zu landen, denn von einer Debütreihe sind Meisterwerke vernünftigerweise nicht zu erwarten. Es muss schon als beachtlich gelten, dass von insgesamt 14 Beiträgen in den »Perspectives« nur wenige an jener inhaltlichen und formalen Unausgewogenheit scheiterten, die Erstlingswerke kaum je ganz vermeiden. Dass mit Ernesto Martínez Bucios »El Diablo Fuma (y guarda las cabezas de los cerillos quemados en la misma caja)« ausgerechnet ein Film ausgezeichnet wurde, der sich aus der Konfusion einer von Aberglauben und psychischer Labilität geprägten mexikanischen Familienkonstellation mit dem buchstäblichen Fingerzeig eines Horrorversatzstückes zu befreien versucht, ist der Festivalleiterin indes nicht anzukreiden.

Der 19 Filme umfassende »eigentliche« Wettbewerb bot noch weniger Regieberühmtheiten auf, als man es aus den vergangenen Jahren gewohnt war. Sogar das deutsche Kino wurde bloß von zwei relativ Unbekannten repräsentiert, deren vorherige Filme in hiesigen Kinos nie zu sehen waren: Ameer Fakher Eldin lässt in seinem zweiten Spielfilm »Yunan« einen arabischstämmigen Schriftsteller aus Hamburg auf eine Hallig reisen, wo dessen Schwermut so wortkarg mit Naturgewalten und der halb vergessenen Gutenachtgeschichte einer dementen Mutter kontrastiert, dass das Ergebnis wie eine Persiflage auf Theo Angelopoulos und Béla Tarr anmutet. In Frédéric Hambaleks zweitem Spielfilm »Was Marielle weiß« entwickelt ein Teeniemädchen telepathische Fähigkeiten, so dass es plötzlich über jedes Wort und jede Tat seiner Eltern unwillkürlich Bescheid weiß. Das bietet Potential für eine boulevardeske Familienfarce, die der brave Film freilich nur teilweise ausschöpft: Ihm mangelt es zum einen an Zielschärfe bei seiner Satire aufs grüne Bürgertum und zum anderen an der selbstbewussten Bereitschaft, auf dramatischen Ernst zu verzichten.

Ähnlich unentschlossen gegenüber der jeweiligen Eigendynamik eines Genres wirkten auch mehrere andere Wettbewerbsbeiträge. Jedenfalls barg die knappe Zweidrittelmehrheit der Namenlosen kaum nennenswerte Überraschungen. Deshalb muss man der von Todd Haynes geleiteten Wettbewerbsjury um so dankbarer sein, dass sie bei der Auswahl der Preisträger – abgesehen von Lucile Hadžihalilovićs sterbenslangweiligem Film-im-Film-Märchendrama »La Tour de Glace« – nicht wirklich danebengriff.

Programmiert schien, dass Richard Linklaters Biopic über Lorenz Hart, der sein halbes Leben lang die Texte zu Richard Rodgers’ Musicalsongs beigesteuert hat, eine Auszeichnung erhalten würde. Denn »Blue Moon«, dessen wortreiche Handlung sich quasi in Echtzeit in einer New Yorker Hotelbar abspielt, bietet eine wunderbar vielschichtige Reflexion auf Kunst und Poesie sowie die Fluktuationen des Publikumsgeschmacks. Dabei wird der nuancierte Film der Nüchternheit des vom Gewinner des Nebendarstellerpreises Andrew Scott verkörperten Rodgers ebenso gerecht wie der Kompromisslosigkeit des Alkoholikers Hart, der sich nicht nur mit Bezug auf die Objektwahl seines bisexuellen Begehrens »betrunken von Schönheit« nennt und »Schwerelosigkeit« zum Kriterium von Kunst erklärt.

»Wer braucht unanstößige Kunst?« fragt Hart irgendwann angewidert – womit er Radu Jude aus der Seele sprechen dürfte. In dessen »Kontinental ’25« wird eine Gerichtsvollzieherin Zeugin, wie ein verwahrloster Alkoholiker wegen eines Räumungsbescheids Selbstmord begeht. Daraufhin wird sie von Schuldgefühlen geplagt, so dass sie ihren Ehemann und die Kinder nicht in den Urlaub begleiten mag. Wenn sie statt dessen mit Bekannten durch Cluj streift, dessen Stadtlandschaft zum Gegenstand einer abschließenden Montagesequenz wird, bieten sich dem rumänischen Regisseur, der 2021 den Goldenen Bären gewonnen hat und nun mit dem Silbernen fürs Drehbuch ausgezeichnet wurde, Gelegenheiten zum gewohnten verbalen Rundumschlag. Dabei stellt sich die Frage, inwieweit Jude die in seinen Dialogen geäußerten Meinungen über Buddhismus, Bibelgleichnisse, Russland, Ukraine und Gaza teilt. Bei der Abschlussgala drückte er jedenfalls die Hoffnung aus, dass der Internationale Strafgerichtshof »seine Aufgabe gegenüber all diesen mörderischen Bastarden erfüllen« werde – was zwar naiv ist, aber wohl dennoch die Grenze des bei dieser Gelegenheit Sagbaren markierte.

Dagegen scheint Dag Johan Haugeruds »Drømmer« vordergründig auf postpubertäre Innerlichkeit ausgerichtet. Der ebenso feinfühlige wie humorvolle Film, der verdient den Goldenen Bären gewonnen hat, wird durch einen Off-Kommentar der 17jährigen Protagonistin geprägt, die ein Buch über ihre Liebe zu einer Lehrerin verfasst hat. Dass der Off-Kommentar keineswegs mit dem Buchtext übereinstimmt, macht die Unbestimmtheit der changierenden Erzählperspektive bewusst, die in einigen Sequenzen auf die Mutter oder die Großmutter der Hauptfigur übergeht. So gelingt dem 1964 geborenen norwegischen Filmemacher mit diesem Trilogieabschluss das Kunststück, eine gleichermaßen jugendlich-schwärmerische wie abgeklärt-reife Reflexion auf die Liebe und auf etwaigen Missbrauch zu liefern – sowie aufs Schreiben und aufs Lesen.

Durch die Linse

So plakativ politisch wie voriges Jahr ging es auf der diesjährigen Berlinale-Preisgala nicht zu. Offenkundig waren alle Beteiligten bemüht, sich nicht noch einmal die Finger zu verbrennen. Dass der rumänische Regisseur Radu Jude die Hoffnung äußerte, »dass das nächste Festival nächstes Jahr nicht mit dem ›Triumph des Willens‹ von Leni Riefenstahl eröffnet wird«, war da mit Blick auf die Bundestagswahl noch das deutlichste Statement. Für seinen nach dem Empfang des Silbernen Bären für das beste Drehbuch (»Kontinental ’25«) ausgesprochenen Wunsch, dass der Internationale Gerichtshof in Den Haag »seine Arbeit machen wird gegen all diese mordenden Bastarde« – ohne die israelischen Regierungsverantwortlichen explizit zu nennen – gab es viel Beifall. Vielleicht hatte er ja auch Putin gemeint. Ebenfalls vage blieb Meryam Joobeur, Jurymitglied der neuen Sektion »Perspectives«, die auf der Bühne sagte: »In jüngster Zeit und in der Gegenwart haben wir miterlebt, wie Männer und Frauen durch die Linse eines Scharfschützengewehrs blickten, auf den Kopf und das Herz eines Kindes zielten und abdrückten. Wir haben die Vernichtung Tausender Kinder gesehen, die von politischen und journalistischen Kräften als reine Kollateralschäden abgetan wurden. (…) Wir haben gesehen, wie lächelnde gewählte Amtsträger für Bombenabwürfe auf Schulen und Krankenhäuser unterschrieben haben, als ob sie Geburtstagskarten oder Dankesbriefe unterzeichnet hätten.«

Die neue Festivalführung hatte sich sichtlich bemüht, nicht in eine neue »Antisemitismus«-Diskussion zu schlittern. Auf der Homepage distanzierte man sich verhalten von der »Antisemistismus-Resolution« des Bundestages. Zugleich nahm man zwei Filme über das Schicksal israelischer Geiseln ins Programm. (jW)

Preisträger der 75. Berlinale:

Bester Film: »Drømmer« von Dag Johan Haugerud

Großer Preis der Jury: »O último azul« (»The Blue Trail«) von Gabriel Mascaro

Preis der Jury: »El mensaje« (»The Message«) von Iván Fund

Beste Regie: Huo Meng für »Sheng xi zhi di« (»Living the Land«)

Beste Hauptrolle: Rose Byrne für »If I Had Legs I’d Kick You«

Beste Nebenrolle: Andrew Scott für »Blue Moon«

Bestes Drehbuch: Radu Jude für »Kontinental ’25«

Herausragende künstlerische Leistung: Das kreative Ensemble von »La Tour de Glace« (»The Ice Tower«) (Regie: Lucile Hadžihalilović)

Bester Dokumentarfilm: »Holding Liat« von Brandon Kramer

Bestes Spielfilmdebüt: »El Diablo Fuma (y guarda las cabezas de los cerillos quemados en la misma caja)« von Ernesto Martínez Bucio (»The Devil Smokes [and Saves the Burnt Matches in the Same Box«])

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