Maschinen und Besitzer
Von Gerd Bedszent
Dass es Kapitalismus nicht schon von Anbeginn aller Zeiten gab, ist nach 1990 bei vielen Menschen in Vergessenheit geraten. Ebenso die Tatsache, dass das moderne Industriezeitalter zwar seine Wurzeln in der Entwicklungsgeschichte des Kapitalismus in Europa hat, mit dieser aber nicht völlig deckungsgleich ist. Erst auf die Vertreibung der Bauern von ihrem Grund samt Enteignung von Gemeindeland im Zuge des Frühkapitalismus – Karl Marx betitelte den Vorgang als »ursprüngliche Akkumulation« – folgte dann die industrielle Revolution. Und diese begann in England, das für etwa 150 Jahre das Kernland des Industriekapitalismus war.
Laura C. Göbelsmann bereiste in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten das postindustrielle England, besichtigte die Ruinen stillgelegter Fabriken – einst Schauplätze erbittert ausgetragener Klassenkämpfe. Entstanden ist eine Art Reiseführer durch eine vergangene Phase des Kapitalismus. Und gleichzeitig ist das Buch eine Liebeserklärung an die Ära des Industriezeitalters, ohne aber dessen soziale Abgründe auszublenden oder sie gar zu idealisieren.
Die Autorin zitiert häufig Friedrich Engels, gibt die von ihm dokumentierten Grimassen und sozialen Verwerfungen des Frühkapitalismus wieder. Und beschreibt auch den Widerstand dagegen. Gegen Hungeraufstände setzte im frühen 19. Jahrhundert die britische Regierung das Militär in Marsch. Eine prominentere Rolle spielt in dem Buch die Bewegung der Chartisten, die sich unter anderem für die Zulassung von Gewerkschaften und das Wahlrecht für die mittellose Mehrheit der Bevölkerung einsetzte. Teile ihrer Forderungen wurden in Gestalt früher Sozialgesetze aufgegriffen.
Hingewiesen wird im Buch auch auf die Bewegung der Ludditen, die die Interessen der frühproletarischen Handwerker und Heimarbeiter gegen den aufkommenden Industriekapitalismus artikulierten. In der Geschichtsschreibung gelten die Ludditen zumeist als Maschinenstürmer und Gegner technischen Fortschritts. Dies traf aber wohl nur teilweise zu – die Autorin erwähnt einen Anführer der Ludditen, der seine Anhänger anwies, die Maschinen nicht anzurühren, aber deren Besitzer zu erschießen. Er wurde dann wegen Mordes gehängt.
In Zuge der Industrialisierung, der Formierung eines liberalen Bürgertums und der bis zu einem gewissen Grad erfolgreich agierenden Arbeiterbewegung verbesserten sich irgendwann die Lebensverhältnisse. Die Kinderarbeit in den Fabriken verschwand schrittweise. Allerdings nicht aus Gründen der Menschenfreundlichkeit. Die Autorin führt den Fall eines Fabrikanten an, der als erster für die arbeitenden Kinder eine Schule einrichtete. Alphabetisierte Arbeiter konnten ihre Leistungsabrechnungen selbst schriftlich dokumentieren – das Unternehmen sparte auf diese Weise ansonsten erforderliches Aufsichtspersonal.
Schaurige Verhältnisse produzierte die britische Textilindustrie aber auch außerhalb Englands: Die in England verarbeitete Baumwolle wurde lange Zeit in Amerika von aus Afrika verschleppten Sklaven angebaut und geerntet. Die sklavenhaltenden Baumwollbarone und die britischen Fabrikanten waren Geschäftspartner – bis die Sklavenhaltung dann schrittweise modernen landwirtschaftlichen Technologien wich.
Mit Bezugnahmen auf Eric Hobsbawm schildert die Autorin auch den beginnenden Niedergang Englands als »Werkstatt der Welt«. Das hauptsächlich auf Gewalt beruhende britische Kolonialreich war im Verlaufe des 20. Jahrhunderts weitgehend zerfallen, damit war dann auch die Monopolstellung der britischen Industrieunternehmen in den einst eroberten und kolonisierten Gebieten weg. Viele britische Unternehmen unterlagen in der Folge der Konkurrenz aus anderen kapitalistischen Ländern, die die Zeichen der Zeit oft besser begriffen hatte. Aber war der Kapitalismus in England damit am Ende? Natürlich nicht, er hatte nur neue Formen angenommen bzw. hat seine produzierende Abteilung in Weltregionen verlagert, wo noch immer die Verhältnisse des Frühkapitalismus dominieren – die Autorin nennt als Beispiele die ehemaligen Kolonien Indien und Bangladesch. Sklaverei ist zwar mittlerweile weltweit verboten, das Verbot wird dort und anderswo aber nicht selten unterlaufen. Göbelsmann hat zwar keine große Theorie anzubieten, aber ein gut lesbares und anschauliches Buch geschrieben.
Laura C. Göbelsmann: Zeitreise in die Werkstatt der Welt. Von rauchenden Schloten zum Ende der Fabriken. Geschichten aus England. Promedia, Wien 2024, 248 Seiten, 24 Euro
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