Abschied ist ein leises Wort
Von Götz Eisenberg
Der Max sitzt in seiner Stube und lauscht auf das Knacken der Holzscheite im Ofen. Draußen vor dem Fenster fällt Schnee, und Max denkt daran, dass er früher an solchen Tagen beim Dorfmetzger einen Lappen Rindertalg geholt hat. Den mochten die Vögel so gern. Aber den Metzger gibt es nicht mehr, wie so vieles im Ort. Auch die Lilo hat ihren Dorfladen zugesperrt. Dort konnte man alles bekommen, von der Mausefalle bis zum Klopapier. Auch die Dorfschule wurde dichtgemacht. Jetzt werden die Kinder jeden Morgen mit dem Bus in die Stadt gekarrt und auf diese Weise früh an ein Leben als Pendler gewöhnt. Alles Althergebrachte und Gewohnte verschwindet. Kehrt man irgend etwas den Rücken zu, ist es verschwunden, wen man sich wieder umdreht.
Da hört der Max die Totenglocke läuten. Sie schlägt für den Schorsch, mit dem der Max sein ganzes Leben lang befreundet gewesen ist. Zwei alte Männer, die sich zusammengetan hatten, gemeinsam zum Holzmachen in den Wald gingen oder am musealen Traktor herumschraubten. Schorsch hat sich beim Max immer mit Äpfeln versorgt, die dieser im Herbst gepflückt und eingelagert hatte. Oft saßen sie einfach so da und schnitten Äpfel zu Schnitzen. Sie mussten nicht viel reden. Max brüht sich einen Tee auf. Die Kräuter für diesen Tee hat er selbst gesammelt, wächst alles draußen am Wegesrand und in der Flur. Der Tee muss eine Weile ziehen, damit er nach etwas schmeckt, aber auch nicht zu lang, sonst wird er bitter. Max fragt sich, ob der Schorsch ein Freund gewesen ist. »Der war halt immer da gewesen. Und jetzt wer er weg. Gestorben. Tot. Da würden sie vieles zu erzählen haben bei der Wacht.«
Zu dieser Totenwacht versammeln sich am Abend und in der folgenden Nacht die Alteingesessenen, um des Gestorbenen zu gedenken und sich Geschichten über ihn zu erzählen. Das ganze Dorf besteht aus Geschichten, die man sich bei solchen Gelegenheiten erzählt und die von Generation zu Generation weitergegeben werden, bis die Überlieferungskette eines Tages reißen wird und sich niemand mehr an irgend etwas erinnert. Man versammelt sich um den aufgebahrten Leichnam, erinnert sich an den Gestorbenen und erzählt sich was, bis der Bestatter kommt und den Toten abholt. Den wachsamen Augen des Dorfes entgeht nichts, und so gibt es genug Stoff fürs Erzählen. Auch davon, wie sie sich dagegen gewehrt haben, dass Afrikaner ins ehemalige Schulhaus einquartiert werden. Das hat sich dann später als Gerücht herausgestellt, aber da waren die Mauern des Schulhauses schon mit Hilfe von Drahtseilen und Traktoren niedergerissen worden. Abends ziehen sich die Männer peu à peu zurück, machen noch einen Abstecher ins Wirtshaus und gehen dann zu Bett, weil sie morgens zur Arbeit müssen. Die Frauen übernehmen die Nachtschicht am Totenbett. Mit den Frauen ändert sich alles. Es wird ruhiger und sakraler. Kerzen und Weihrauch werden entzündet. Die Frauen singen oder summen leise die ganze Nacht hindurch. Da ist der Max längst zu Hause und lauscht dem Knispeln der Mäuse.
Von diesem Dorfleben erzählt Tommie Goerz in seinem Roman »Im Schnee«. Sein Bestreben: Etwas, das untergeht, schreibend festzuhalten. Viel passiert nicht in diesem Roman. Einer stirbt und wird unter die Erde gebracht. Bei der Totenmesse und dem anschließenden Totenschmaus beim Stangl-Wirt fehlt einer. Mehr soll hier nicht verraten werden. Es ist ein liebevolles, fast zärtliches Buch, das von einer untergehenden Welt erzählt, von Provinz und Ungleichzeitigkeit im Blochschen Sinn. Ohne falsches Pathos und nostalgische Schwelgerei wird in einer dem Gegenstand angemessenen Sprache vom Dorfleben berichtet. Goerz schreibt über gegenseitige Hilfe und gelebte Nachbarschaft, verschweigt aber auch nicht die dörfliche Enge und Borniertheit, die Feindseligkeit und das Misstrauen gegenüber allem, was von außen herandrängt und als fremd empfunden wird. Auch das Grün-und-blau-Schlagen von Frauen und Kindern gehört zur dörflichen Folklore. Kinder konnten von jedem »eine gelangt bekommen«, nicht nur von den Eltern. So sollten die Kinder die Regeln des Dorfes und die Gesetze der Gemeinschaft kennenlernen.
Ein Kollateralnutzen des Romans besteht darin, dass er uns tiefe Einblicke in die Gefühlswelt einer sozialen Gruppe gewährt, die der britische Journalist David Goodhart als »Somewheres« bezeichnet hat. Im Unterschied zu den »Anywheres« weisen die »Somewheres« eine starke Bindung an den Ort auf, in dem sie leben und oft auch bereits geboren wurden. An normalen Tagen begegnen sie nur Menschen, die sie schon ihr ganzes Leben lang kennen. Sie können dem ständigen Wandel wenig abgewinnen, weil er ihr Leben eher verschlechtert hat. Sie stecken im Damals fest und erleben die Globalisierung als Frontalangriff auf ihre Welt. Die Protesthaltung, die aus der Lage der »Somewheres« erwächst, bildet den Nährboden für den rechten Populismus, der sich rund um den Globus ausbreitet. Es ist die Gefühlslage von Friedrich Hebbels »Meister Anton« (aus »Maria Magdalena«), der die Welt nicht mehr versteht und sie sich wieder zurechtdenkt. Wir müssen versuchen, uns in diese Gefühlswelt einzufühlen, wenn wir eine Chance gegen den rechten Populismus haben wollen. Auf der Basis dieses Verständnisses geht es darum, andere Aneignungsformen der Leidenserfahrungen zu entwickeln, die viele Menschen heute in ihrem Alltagsleben machen und die häufig andere sind als die von der linken Theorie vorgesehenen.
Tommie Goerz: Im Schnee. Piper-Verlag, München 2025, 176 Seiten, 22 Euro
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