Grenzen
Von Helmut Höge
Das Wort »Grenze« ist ein Lehnwort aus dem polnischen »granica«. Laut Wikipedia »der Rand eines physischen Raums und damit eine Trennfläche, Trennlinie oder ein Trennwert«. Seit dem »Fall der Mauer« werden überall auf der Welt neue Grenzmauern errichtet, und das Wort »Grenze« tritt in immer neuen Verbindungen auf: »Firewall«, »Paywall«, »Rote Linie«, »Zustrombegrenzungsgesetz«, »Brandmauer«, »Bezahlgrenze«, »Verdienstgrenze« usw.
Vor dem Ersten Weltkrieg konnte man ohne Pass und Kontrollen durch Europa reisen. Stefan Zweig schrieb: »Ich will die Monarchie wieder haben, und ich will es sagen. Und mehr als die alte Monarchie. Ein neues Europa, in dem man ohne Pass, von Ort zu Ort, von Hotel zu Hotel, von Bar zu Bar, zu allen Menschen reisen kann und in dem sich die alten Nationengrenzen langsam auflösen.« Das Gegenteil ist passiert.
Der Salzburger Schriftsteller Karl-Markus Gauß schreibt in seinem Reportagenband »Die unaufhörliche Wanderung« (2020): »Im Frühling 2015, als sich so viele Flüchtlinge auf den Weg machten, stand ich am Grenzfluss Pruth und wurde verhaftet, weil ich in Verdacht geraten war, illegal in die Europäische Union einreisen zu wollen.«
Das war eine Folge der Osterweiterung der EU, die in Wahrheit eine Westerweiterung war. Der Pruth trennte seit Ende des Zweiten Weltkriegs die Sowjetrepublik Moldawien von der sozialistischen Volksrepublik Rumänien und seit dem Beitritt Rumäniens zur EU wurde der Fluss eine »Außengrenze der Union«. Gauß schreibt weiter: »Um in die EU eintreten zu können, hat die Republik Moldau ihre Grenze aufrüsten müssen. Niemand sollte über Moldawien in die Union gelangen können. Das Land hat selbst überhaupt nichts davon, dass es für die Union den Grenzwächter gibt. Aber es muss ihn spielen, um mit der Union im Gespräch zu bleiben und ins Geschäft zu kommen. Überall in der Moldau rosten die industriellen und landwirtschaftlichen Maschinen dahin; einzig die Grenzwächter sind technologisch auf den Unionsstandard A1-plus gebracht worden.«
Doris Lessing schrieb in »Rückkehr nach Afrika« (1992): Mit ihren Eltern in Südrhodesien (später Zimbabwe) zu reisen bedeutete, dass ihr »boy« Äste, Laub, Dornenzweige sammelte, um damit den Nachtplatz zu schützen – z. B. vor Leoparden. Allerdings bemerkt sie: »Wir hätten uns auch ohne die Einfriedung unter die Bäume legen können, denn jeder Leopard, der sein Geld wert war, hätte darüber springen und einen von uns wegschleppen können. Nein, diese ›boma‹ war Ausdruck von etwas anderem, sie sollte im Grund nichts von uns fernhalten, sondern vor allem uns, Fremde in einem fremden Land, zusammenhalten.«
Das ist eine »Einfriedung« wie sie auch der Politologe James C. Scott in »Die Mühlen der Zivilisation« (2019) diskutiert. Allerdings nicht als eine freiwillige Einfriedung: Die Mauern, mit denen sich die ersten Stadtstaaten im Zweistromland umgaben, dienten nicht dazu, Eindringlinge von außen abzuwehren, sondern um die Bewohner im Inneren zu halten. Sie mussten dort Steuern in Form von Getreideabgaben zahlen und hätten das gerne vermieden, aber man zwang sie, in der Stadt zu leben. Eine schöne Umkehrung der gängigen Vorstellungen über den Ursprung von Stadtmauern.
Gauß hatte in der Schule noch gelernt, dass es »natürliche Grenzen« gäbe, »die den Herrschaftsbereich von Staaten markieren« – Flüsse oder Gebirge etwa. Inzwischen weiß er jedoch, dass »selbst die vorgeblich natürlichen Grenzen erfunden, künstlich gezogen, menschengemacht sind, aus Verabredung und Kampf hervorgegangen, auf Konvention und Gewalt gegründet, auch wenn sich ihr Verlauf an der Natur orientiert.« Besonders beeindruckt hat ihn die Grenze an der Neiße, die Görlitz von Zgorzelec trennt, obwohl es eine Stadt war, die nach dem EU-Beitritt Polens eine »Europastadt« wurde. Mich hat die Grenze amüsiert, die Bad Muskau von Mużakóv auf der anderen Neißeseite trennte und durch den vom Fürsten Pückler angelegten Muskauer Park verläuft. In den 90er Jahren hat man beide Parkteile mit einer kleinen Fußgängerbrücke über die Neiße verbunden. Als ich darauf vom polnischen Teil in den deutschen Teil ging, wurde ich in der Mitte von zwei Grenzbeamten angehalten. Sie standen zusammen, redeten und rauchten – und wollten dann meinen Pass kontrollieren.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Christoph H. (24. Februar 2025 um 23:11 Uhr)Hm. Heine berichtet in »Deutschland – ein Wintermärchen« aber doch von »preußischen Douaniers«, von denen bei der Einreise sein »Koffer visitieret« wurde: Beschnüffelten alles, kramten herum/In Hemden, Hosen, Schnupftüchern/Sie suchten nach Spitzen, nach Bijouterien/Auch nach verbotenen Büchern. Ganz so offen waren die Grenzen vor den ersten Weltkrieg dann wohl doch nicht.
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