Die Rebellion zu Rade
Von Josef Reindl
Klaus Gietinger ist Filmemacher, Autor und Aktivist oder, was es besser trifft, Rebell. Überall, wo er gelebt hat, hat er Spuren hinterlassen und die etablierten Herrschaften gegen sich aufgebracht. Das ging schon los in seiner Jugend in Lindenberg, einem Städtchen am äußersten westlichen Zipfel des bayerischen Allgäus, wo er zur Welt kam und groß geworden ist. Den streikenden Arbeitern dieses Hutmacherzentrums hat er ein literarisches Denkmal gesetzt – als Markenzeichen trägt er seitdem Hut. Die Honoratioren seiner Heimatstadt hat er durch seine ersten größeren Filmprojekte »Lond it luck« (1980) und »Daheim sterben die Leut’« (1985) in helle Aufregung versetzt, weil er in diesen den Allgäuer Bauernaufstand, der sich jetzt zum 500. Mal jährt, und den Widerstand der Dorfjugend gegen den Ausverkauf ihrer Heimat zum Thema machte. Das setzte sich fort in Frankfurt am Main, wo er dem Protest gegen den Ausbau der U-Bahn eine Stimme gab und die Stadtväter zur Verzweiflung brachte. Nicht zu vergessen Berlin, wo die sozialdemokratischen Historiker mit Empörung auf seine Erkenntnisse über die Verstrickung der SPD in die Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht reagierten und wo er sich am Kampf gegen die Privatisierung der S-Bahn beteiligte. Heute lebt Gietinger in Saarbrücken – und auch hier bleibt er sich treu, indem er die vielen Verbrämungen und Unwahrheiten über die wechselvolle saarländische Geschichte aufzeigt, nicht immer zur Freude der örtlichen Medien. Mit filmischen Mitteln feuert er die Proteste gegen »Stuttgart 21« und die Zerstörung der Gäubahn an (»Das Trojanische Pferd. Stuttgart 21«, 2022–2024, und »Der Kampf um die Gäubahn ist ein Kampf um die Bahn«, 2024/25 – beides als DVD erhältlich).
Im künstlerischen Œuvre von Klaus Gietinger stechen zwei große Themen hervor, die ihn von Anfang an umgetrieben haben. Das ist zunächst die gescheiterte deutsche Revolution nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg, ihre Vorgeschichte und ihre fatalen Folgen. Dazu hat Gietinger zahlreiche Texte verfasst und Filme gedreht. Er ist tief in die Archive gestiegen, um den Revolutionären Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und um die Verantwortlichen für die Erstickung des Aufstands, die bis weit in die Sozialdemokratie hineinreichen, zu überführen. So hat er die bisher einzige Biographie des Luxemburg-Mörders Pabst vorgelegt (»Der Konterrevolutionär: Waldemar Pabst – eine deutsche Karriere«, 2009). Das andere große Thema Gietingers ist die Verkehrsrevolution, der Kampf gegen den umweltzerstörerischen Individualverkehr und für die umweltschonenden Öffentlichen und das Rad. Hierfür legt er sich mit der Autolobby an, gegen die er ganz scharfes Geschütz auffährt (»Auto als Massenvernichtungswaffe«). Er ist wohl der bekannteste Autohasser Deutschlands – ein Ruf, den mehrere drastische Bücher festigen.
Klaus Gietingers reichhaltiges Werk, das auch zahlreiche Arbeiten fürs Fernsehen (sieben »Tatorte«, viele Kinderfilme und -sendungen, etwa für »Löwenzahn«, historische Dokfilme), einen großartigen Roman über das Liebesleben von Karl Marx (»Karl Marx, die Liebe und das Kapital«, 2018) sowie eine Dokufiktion über dessen Haushälterin Lenchen Demuth (»Lenchen Demuth und Karl Marx«, 2018) umfasst, besitzt bei aller Unterschiedlichkeit der Kunstregister, die er zieht, einen Cantus firmus: die Empathie für die Aufsässigen, Unorthodoxen, nicht Angepassten, die mit der Welt, wie sie ist, nicht einverstanden sind und die etwas anderes wollen. Ihre Energien, ihre Kraft, ihre Kreativität, aber auch ihr Scheitern haben es Gietinger angetan. Alles Rebellen: ob Bauern, Jugendliche, Revolutionäre, Matrosen (»Blaue Jungs mit roten Fahnen. Die Volksmarinedivision 1918/19«, 2019) oder Bahn-Säger (»Heinrich der Säger«, 2001). Es ist ein engagiertes Kino und eine engagierte Literatur, die Gietinger schafft, er filmt und schreibt eine »Ästhetik des Widerstands« (Peter Weiss).
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Wer solches auf die Leinwand und zwischen Buchdeckel bringt, hat es in Deutschland nicht leicht, wenn er davon leben will. Gietinger, der Autodidakt, der eigentlich Soziologe ist, kann davon ein Lied singen. Er hat mit Freunden selber eine Filmgesellschaft gegründet, und er hat seine Filme jenseits der großen Verleihfirmen beworben und gezeigt. Eine große Genugtuung für ihn war, dass hierzulande abgelehnte Produktionen anderswo ein begeistertes Publikum gefunden und Preise gewonnen haben. Mit Rebellen kann Deutschland schlecht umgehen.
Klaus Gietinger wird am 28. Februar 70 Jahre alt. Er ist kein bisschen müde und Gott sei Dank auch nicht »weise« geworden. Man kann ihm mit dem Titel seines ersten Spielfilms nur zurufen: »Lond it luck« – lass nicht locker!
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