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Aus: Ausgabe vom 03.03.2025, Seite 10 / Feuilleton
Musik

Die Phrasen gehen von Mund zu Mund

Prototyp einer wahren Avantgarde: Ein umfangreicher Materialienband über die experimentelle Sprachmusik von Hans G Helms
Von Florian Neuner
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Musikologe, Sozial- und Wirtschaftshistoriker, Essayist: Hans G Helms

Am 11. Juni 2011 fand am Zentrum für Kunst und Medien in Karlsruhe (ZKM) – mit einer Verspätung von nicht weniger als 43 Jahren – eine bemerkenswerte Uraufführung statt: »Konstruktionen für 16 Chorstimmen nach Sätzen aus dem Manifest der Kommunistischen Partei von Karl Marx und Friedrich Engels« von Hans G Helms. Entstanden war das Stück, das Zitate aus dem Manifest mit zeitgenössischen Kommentaren und Randbemerkungen kombiniert, zum 150. Geburtstag von Karl Marx am 5. Mai 1968. Der Auftraggeber, das Festival Pro Musica Nova in Bremen, sagte die Uraufführung ab, weil die Partitur angeblich zu spät fertig geworden war. Es sei aber auch denkbar, so Helms später vorsichtig in einem Interview, dass der Chorleiter aus inhaltlichen, ideologischen Gründen dieses Stück nicht habe aufführen wollen.

Es ist ein großes Verdienst des 2023 verstorbenen, langjährigen ZKM-Leiters Peter Weibel, Helms’ »Strukturen« endlich zur Diskussion gestellt zu haben. Eine seiner letzten Taten war die Herausgabe eines umfangreichen Materialienbandes über die experimentelle Sprachmusik von Hans G Helms, der auf zwei beiliegenden CDs u. a. den Mitschnitt der »Konstruktionen«-Uraufführung enthält und via QR-Codes auch die Partituren zugänglich macht. In seinem Vorwort bezeichnet Weibel Helms »als Prototyp einer wahren Avantgarde, welche wie die Mathematik und Physik ihre eigenen Grundlagen kritisiert und erst dadurch ihren Fortschritt erzielt«. Das Scheitern der Studentenrevolte, so Weibel, sei nicht zuletzt auf die von Helms diagnostizierte Realitätsverdrängung zurückzuführen: »Hier begann jene Verleugnung der Wirklichkeit, die im Laufe der Jahrzehnte die BRD zu einem dysfunktionalen Staat machte, von der Deutschen Bahn und der Bildungsmisere, vom kaputten Krankenhaussystem, von der fehlenden Infrastruktur und Digitalisierung zu Beginn des 21. Jahrhunderts bis zur defekten Demokratie.« Hätte man nur auf Helms gehört!

Das zwischen Literatur und experimenteller Vokalmusik angesiedelte Werk von Hans G Helms (1932–2012), der auch als Musikologe, Sozial- und Wirtschaftshistoriker, Essayist und Journalist (nach Jahrzehnten als Rundfunk- und Fernsehautor zuletzt vor allem für jW) hervorgetreten ist, nimmt in seinem Œuvre nur wenig Raum ein und kommt mit den »Konstruktionen« bereits 1968 an ein Ende. Und doch zählt diese Sprachmusik zu seinen innovativsten Leistungen. Gedeihen konnte sie in der Avantgardeszene im Rheinland um 1960, im Umkreis des Studios für elektronische Musik des WDR in Köln. John Cage, Mauricio Kagel, Nam June Paik und Karlheinz Stockhausen zählten zu Helms’ Freunden; kein Geringerer als Theodor W. Adorno hielt einen Vortrag über »Fa:m’ Ahniesgwow«, den 1960 mit einer Schallplatte publizierten vielstimmigen, in Joyce-Tradition zwischen vielen Sprachen changierenden Text, der im Kern eine Auseinandersetzung mit der Kontinuität des Faschismus in der noch jungen BRD ist.

Von seinen Freunden aus der Avantgardeszene aber trennte Helms zunehmend seine Politisierung. Mit Karl Heinz Roth, in dessen Zeitschrift Die Sonde er publizierte, war er sich einig, dass die avantgardistische Kunst sich der »Diktatur des Materials« ausgeliefert habe, wodurch der kritische Gesellschaftsbezug auf der Strecke geblieben sei. Wie Ideologiekritik mit avancierten künstlerischen Mitteln möglich ist, das demonstrierte Helms mit Stücken wie »daidalos« (gemeinsam mit Hans Otte, 1961) und dem »Golem« (1962), einer »Polemik für neun Vokalsolisten«. In »daidalos« arbeitet er sich an der »Sprache des Massenmenschen« ab, an »Phrasen, wie sie im Kaffeehaus von den Nebentischen ans Ohr dringen. Oft abgerissen, zusammenhanglos, so fragmentarisch, wie sie realiter gesprochen und halb nur vernommen werden. Die Monaden der spätkapitalistischen Ära (…) reden durcheinander. Die Phrasen gehen von Mund zu Mund, werden zu Silben zerrissen, und selbst die Silben bleiben oft nicht intakt.«

»Golem« wiederum ist eine polemische Auseinandersetzung mit dem »Jargon der Eigentlichkeit« Martin Heideggers. Die Schriften des Philosophen sind für Hans G Helms Material und Ausgangspunkt. Er wählt typische Passagen aus verschiedenen Schaffensphasen aus und entstellt sie durch seine kompositorische Bearbeitung gewissermaßen zur Kenntlichkeit, präsentiert Heidegger als die Lachnummer, die er ist. In »Golem« wird sowohl gesungen als auch gesprochen. Helms verwendet eine ganze Palette von Artikulationsanweisungen wie »Koloratur«, »nach Art einer kirchlichen oder sonst kultischen Litanei«, »wie ein unartiges Kind oder eine Ziege«, »dramatisch, durchaus mit falschem Pathos«, »nach Jazzmanier«, »kommandierend, wie vor der Front« oder »nie fern von Kitsch«.

Später nahm Helms die künstlerische Arbeit wieder auf. So entstand die Hörspielarbeit »Rapprochements à John Cage« (SWR 1996) – eine einigermaßen manierierte Arbeit, die Fakten und Fiktionen mischt und sich einer teilweise satirisch überzeichnenden Sprache bedient, die wie in den früheren Sprachkompositionen mit Mehrdeutigkeiten und Ambivalenzen arbeitet, ohne freilich die Radikalität und Stringenz dieser Kompositionen zu erreichen. Wer sich aber mit politischer Kunst nach 1945 beschäftigen will, der kommt an der Sprachmusik von Hans G Helms nicht vorbei.

Peter Weibel (Hg.): Hans G Helms. Vokale Strukturen. Texte, Partituren, Tondokumente. Verlag der Buchhandlung Walther und Franz König, Köln 2024, 230 Seiten, 29,80 Euro

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