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Aus: Ausgabe vom 03.03.2025, Seite 11 / Feuilleton
Kino

Zorn ist einfach

Überlebensmittel Theatertherapie: Greg Kwedars Spielfilm »Sing Sing«
Von Norman Philippen
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In Anstaltsklamotten, und kein Bühnenbild in Sicht

Dort, wo Freiheit nicht mehr sein kann als ein allzu kurzer »Sommernachtstraum«, darf froh sein, wem die Shakespearesche Komödie zu kurzfristiger Realitätsflucht verhilft. So John »Divine G« Whitfiled (Colman Domingo), der zu Beginn von Greg Kwedars Spielfilm »Sing Sing« in der berüchtigten gleichnamigen »Correctional Facility« nahe New York City auf den Brettern steht, die seine Welt auch dann bedeuten würden, wäre er in dem Hochsicherheitsgefängnis nicht unschuldig wegen Mordes inhaftiert. Doch kaum, daran gemahnt sein Monolog in der Eingangsszene, bringt man die Leute zu heller Einsicht respektive etwas Licht ins Dunkel, wird auch schon wieder düster und wirr die Welt und muss das schmucke Bühnenkostüm wieder gegen die schlicht scheußlichen Anstaltsklamotten getauscht werden. Bis zur nächsten Inszenierung, an deren Umsetzung sich die Teilnehmer am »Rehabilitation Through the Arts«-Programm (RTA) sogleich machen.

Dieses wurde 1996 tatsächlich ins vergitterte Sing-Sing-Leben gerufen, um die potentiell transformativen Kräfte der (Theater-)Kunst den umgestaltungstechnisch individuell generell eher eingeschränkten Gefangenen zugänglich zu machen. Von John »Divine G« Whitfield, auf dessen Fall Greg Kwedar durch einen Artikel im Männermagazin Esquire aufmerksam wurde. Eine verbürgte Geschichte also, die zwar nicht am eigentlichen Ort gedreht wurde, dafür aber mehrheitlich von Sing-Sing-Alumnis gespielt wird, deren praxisbewehrte Performance dem Film eine semidokumentarische, per 16-Millimeter-Handkamera-Nähe-Distanz-Regime akurat inszenierte Unmittelbarkeit verleiht.

Dramaturgisch hätte etwas weniger Distanz zur kriminellen Vita der Protagonisten, ein stärkerer Fokus auf strukturelle Probleme des US-amerikanischen Strafjustizsystems sowie die kräftigere Spannung eines Handlungsbogens nicht geschadet. Clarence »Divine Eye« Maclins nicht unberechtigt bereits ausgezeichnete Selbstdarbietung des asozialen, in Gruppendynamik auftauenden »tough guy« steht der durchweg dollen von Domingo aber kaum nach. Gar nicht übel agiert auch Paul Raci als Theaterpädagoge Brent Buell. Dass der Drittsympathischste der RTA-Truppe stirbt und die Aufführung des nächsten Stücks auch wackelt, da der Antrag auf Haftentlassung des unschuldigen »Divine G« (zunächst) abgelehnt wird, macht das »Filmdrama« auch mal dramatisch. Allerdings hätte eine eindeutigere Entscheidung zwischen Spiel- oder doch Dokumentarfilm geholfen, der Handlung mit eigentlich gebotener Empathie zu folgen.

Jedenfalls ist – »Zorn ist einfach, aber Verletzlichkeit muss man zulassen« – was dran an der Filmbotschaft, und es spricht die starke Stimme der Statistik: US-amerikanische Häftlinge fahren nach Entlassung mit 60prozentiger Wahrscheinlichkeit erneut ein, bei Teilnehmern am RTA-Programm sind es unter fünf Prozent. Grund genug also für eine filmische Würdigung, die, wenn auch manchmal nahezu naiv, erfreulich pathosfrei über die Bühne geht. Ein Film über das Überlebensmittel Kunst also, das harten Männern erlaubt, qua Wer-hätte-gedacht-dass-selbst-der-Außenseiter-integriert-werden-kann-Gruppendynamik (wieder) Gefühle zu zeigen. Was verdächtig nach Ächz-und-Würg und Wie-lang-dauert-das-noch und Am-Ende-wird-alles-so-gut,-dass-auch-gar-nicht-so-schlechten-Menschen-schlecht-werden-muss klingt, guckt sich indes empfehlenswert gut weg. Wenn auch am Ende schon vieles ziemlich gut wird, dann ist der Film doch nicht zu viel des Guten, sondern ganz gut. Vor Vergleichen mit Filmen wie etwa »Die Verurteilten« (Frank Darabont, 1994), in dem Bildung und Kultur zu hoffnungsvolleren Haftbedingungen führen, oder Steve McQueens Darstellung revoltierender nordirischer Häftlinge in »Hunger« muss Drehbuchmitautor und Regisseur Kwedar sich nicht scheuen, auch wenn sie für ihn nicht vorteilhaft ausgingen. Ob Clarence »Divine Eye« Maclins Cameo-Auftritt ein gelungener ist, können Sie aber einigermaßen gefahrlos selber gucken gehen.

»Sing Sing«, Regie: Greg Kwedar, USA 2023, 107 Min., bereits angelaufen

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