Die Sonne Homers
Von Marc Hieronimus
Man wird nicht müde, einen bekannten Stoff in neuer Umsetzung zu sehen, wenn er nur gut genug ist. Die Odyssee ist nach heutigem Wissen 2.800 Jahre alt. Sie kam nicht aus dem Nichts. »Der groß angelegte Abenteuerroman der Heimfahrt verwendet eine Fülle meist volkstümlicher episodischer Erzählstoffe«, schreibt die Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Frenzel und widmet dem Epos und seinen vielen Interpretationen den längsten Artikel in ihrem Kröner-Klassiker »Stoffe der Weltliteratur«, denn speziell dieser ist seit seiner Wiederentdeckung in der Renaissance unzählige Male aufgegriffen worden. »Die Sonne Homers, sie lächelt auch uns«, schrieb Schiller.
Man könnte sich ein ganzes, nicht einmal langweiliges Forscherleben lang mit Odysseus’ Geschichte und deren Wirkung beschäftigen, selbst wenn man sich nur auf Comics beschränkt. In Frankreich hat es laut einschlägiger Recherchemedien bislang 22 Serien und insgesamt 108 Alben über oder mit Ulysse gegeben, wie der Held dort heißt. Bei der Zählweise mag es Überschneidungen geben, andererseits sind unzählige nichtfranzösische Werke, wie etwa Andreas Kieners gleichnamiger Comic über einen Diener, der Odysseus hinterherreist (Edition Moderne 2018), noch gar nicht enthalten. Der Avant-Verlag hat nun einen Comic herausgebracht, der selbst schon wieder historisch ist. Der »Odysseus« von Jacques Lob und Georges Pichards wurde 1968 begonnen und nach einer Pause Anfang der 1970er fertiggestellt. Im Anhang kann die interessierte Leserin die Umbrüche in der französischen Comiczeitschriften- und -verlagswelt rund um den Pariser Mai 1968 nachvollziehen, die für das Entstehen, aber auch für dessen lange Dauer verantwortlich waren.
Die Reise des Königs von Ithaka und der Helden von Troja ist unter Pichards Feder eine besondere Art Kunst. »Pop Art« ist die Erhebung der Erzeugnisse der Unterhaltungsindustrie zur Kunst durch Imitation: Schaut her, die Kunst ist schon da, wir müssen sie nur vergrößern und ins Auktionshaus bringen. Dort verkauft sich die Nachmache blendend. Roy Lichtensteins »Nurse« ist 2015 für gut 95 Millionen Euro versteigert worden, während seine Vorlagen zu ihrer Zeit für ein paar Groschen, Dimes, am Kiosk zu haben waren. Inflationsbereinigt fast immer noch so günstig und jedenfalls weit erschwinglicher als die Verkaufsschlager von Christie’s und Sotheby’s sind die Neuauflagen der Comics von damals, die nach und nach – und nicht zuletzt bei Avant – wiederzuentdecken sind.
Bei Guy Peellaerts Popikonen Jodelle und Pravda muss der Kenner wohl noch ein wenig geduldig sein, aber Guido Crepax’ »Valentina« steht schon im Regal und mit Lob/Pichards »Odysseus« kann er seine Sammlung nun um ein weiteres freizügiges Stück Popgeschichte erweitern. »Der Kluge und Einsame unter den Helden der Ilias und den Gefährten der Odyssee« (Frenzel) erlebt hier ein weiteres Mal den Großteil der bekannten Abenteuer. Eigentlich möchte er mit seiner Crew nur zurück zu Penelope, aber jetzt, da in Troja der Frieden ausgebrochen ist, langweilen sich die Götter und ermuntern Zeus, ihn in Gefahr zu bringen. Zum Glück ist die kaum bekleidete Athene auf Odysseus’ Seite und kann ihn aus den ärgsten Nöten retten, indem sie auf Zeus einredet. Der sitzt nicht etwa auf einer Wolke mit einem Köcher voller Blitze neben sich, sondern in einer Art Science-Fiction-Festung voll mächtiger Elektronik.
Die Götter und Halbgötter, die diesen Olymp bewohnen, sind den Menschen in der technologischen Entwicklung um Jahrtausende voraus. Menschlich/übermenschlich sind sie allerdings immer noch auf der Stufe von Intriganz und ungezügelten Emotionen, die wir aus der griechischen Mythologie kennen. So ist Poseidon angesäuert, als Zeus einschläfernd auf Polyphems Schaltkreise einwirkt und der einäugige Roboter des Meeresgottes prompt von Athenes Schützling geblendet wird. Stinksauer wird er, als der Ithaker zwischen zwei Techtelmechteln mit Circe und Kalypso auch noch den Untergang des Ungeheuers Skylla einleitet und seine Männer wenig später einige Rinder aus Helios’ Herde verspeisen, deren Milch die Götter für ihre ewige Jugend brauchen… Es ist also gewohnt viel los im Klassiker.
Jacques Lob (Text)/Georges Pichard (Zeichnung): Odysseus. Aus dem Französischen von Marcel Le Comte. Avant-Verlag, Berlin 2024, 160 Seiten, 39 Euro
links & bündig gegen rechte Bünde
Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.
Ähnliche:
- Splitter-Verlag04.03.2025
Bevor es Nacht wird
- avant-verlag16.10.2024
Aufgeben gilt nicht
- gemeinfrei30.08.2024
Hingehen, wo ihr Reichtum ist
Regio:
Mehr aus: Feuilleton
-
»Jemand muss sterben. Das ist nun mal so«
vom 07.03.2025 -
30.000 Garagen. Ein Jahr Kulturhauptstadt Chemnitz
vom 07.03.2025 -
Nachschlag: Propaganda für Marokko
vom 07.03.2025 -
Vorschlag
vom 07.03.2025