Bevor es Nacht wird
Von Wolfgang Nierlin
»Als ich ein Kind war, dachte ich, alle Mamas hätten eine Nummer auf dem Arm«, lautet der erste Satz des biographischen Comics »Adieu Birkenau«. Das sagt Richard Kolinka, der auf den ersten Seiten des Bandes zur traumatischen Geschichte hinführt, über seine Mutter Ginette Kolinka, die als junge Frau die Torturen von Lagerhaft und Zwangsarbeit im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau überlebte. Als der Heranwachsende und spätere Schlagzeuger der berühmten französischen Rockband Téléphone ein Buch über die Greueltaten und Massenmorde der Nazis entdeckt, ist das für ihn ein Schock. Bis dahin war über die Vergangenheit seiner Mutter nicht gesprochen worden. Aus den grauenvollen Fotos des Buches, die in eine kalte, graue und dunkle Welt aus Stacheldraht und Gewalt führen, erfährt Richard eine schier unbegreifliche Wahrheit.
Auf dem Titelbild der Graphic Novel begegnet – in gegensätzlicher Laufrichtung – die junge, am 4. Februar 1925 geborene Ginette der alten, die im Oktober 2020, dem Zeitpunkt ihres Erinnerungsberichts, 95 Jahre alt ist. Auf den Schienen, die ins Todeslager führen, treffen sich auf ebenso gespenstische wie schicksalhafte Weise ihre Blicke, verbinden sich Vergangenheit und Gegenwart. Während die 20jährige kaum ahnt, was sie erwarten wird, blickt die alte Frau im Bewusstsein des Erlittenen auf ein langes Leben zurück. Damit sich die Geschichte nicht wiederhole, möchte sie gegen das Vergessen Zeugnis ablegen und das Erlebte vermitteln, erklärt Ginette Kolinka im Vorwort ihrer Erinnerungen. Blinder Hass und Diskriminierung führten direkt nach Auschwitz. Weil sie merkt, dass zwischen Vergessen und Verdrängung viele Erinnerungen lückenhaft sind, möchte sie nur das Gesicherte erzählen.
Die gegenläufige Blickrichtung der Porträtierten wird durch wechselnde Perspektiven und Zeitebenen im ebenso ausdrucksstark gezeichneten wie emotional bewegenden Comic gespiegelt. Denn als vielbeschäftigte Zeitzeugin mit übervollem Terminkalender reist die hochbetagte KZ-Überlebende mit einer Klasse ihrer früheren Schule zu den Schauplätzen der Verbrechen nach Polen. Während sie ihre Geschichte erzählt, die sich zunächst in parallelen Handlungssträngen entwickelt, nähern sich Gegenwart und Vergangenheit immer näher einander an, bis in der dramaturgischen Engführung die Übergänge schließlich sogar in einzelnen Panels fließend werden. Dabei verlieren die Bilder ihre zunächst noch gedeckte Farbigkeit, werden grau, braun und gespenstisch dunkel.
Ginette Kolinka ist eine gewiefte, überraschend humorvolle Erzählerin mit großem Lebensmut, fast jugendlicher Neugier und altersweiser Unerschütterlichkeit. Schon als Mädchen aufgeschlossen, unbekümmert und lebensfreudig, versteht sie zunächst nicht, warum sie und ihre vielköpfige jüdische Familie im Sommer des Jahres 1942 plötzlich ausgegrenzt und diskriminiert werden. Nach ihrer abenteuerlichen Flucht in die sogenannte freie Zone nach Südfrankreich scheint zunächst eine Art »normales Leben« möglich. Doch Ende 1942 wird auch der Süden des Landes von den Nazis besetzt; im Frühjahr 1944 werden Ginette, ihr Vater, ihr jüngerer Bruder sowie ein Neffe denunziert und verhaftet. Sie landen zunächst in einem Gefängnis bei Marseille, danach im Sammellager Drancy bei Paris, von wo aus sie nach Auschwitz deportiert werden.
Nur Ginette überlebt. Zeitlebens begleiten sie Schuldgefühle; nach einer langen Phase des Schweigens beginnt sie schließlich, über das Erlebte zu sprechen, um die notwendige Erinnerung an den Zivilisationsbruch wachzuhalten. Auf einem besonders alptraumhaften Bild verdunkelt der dichte Rauch der Krematorien die vergitterte Lagerwelt. Auf einem anderen sind die Gefangenen nur noch dunkle, form- und gesichtslose Gespensterschatten einer Vergangenheit, die weiterhin auch unsere Gegenwart begleitet.
Ginette Kolinka: Adieu Birkenau. Eine Überlebende erzählt. Szenario von Ginette Kolinka, Jean-David Morvan und Victor Matet. Zeichnungen von Cesc und EFA, Farben von Roger. Mit einem Dossier von Tal Bruttmann. Aus dem Französischen von Harald Sachse. Splitter-Verlag, Bielefeld 2024, 112 Seiten, 25 Euro
links & bündig gegen rechte Bünde
Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.
Dieser Artikel gehört zu folgenden Dossiers:
Ähnliche:
- Vladimir/SNA/imago25.01.2025
Gaskammern und Gänseleber
- Pascal Bresson, Sylvain Dorange / Carlsen Verlag, Hamburg 202115.07.2021
Die Mörder machen weiter
- picture-alliance / AKG Berlin18.10.2016
Systematischer Massenmord
Regio:
Mehr aus: Feuilleton
-
Vom Hintern her denken
vom 04.03.2025 -
Nachschlag: Opponieren und Regieren
vom 04.03.2025 -
Vorschlag
vom 04.03.2025 -
Glänzen ohne zu schuften
vom 04.03.2025 -
Anschaffen/Abschaffen
vom 04.03.2025 -
Diesmal nur halb so blöd
vom 04.03.2025 -
Dasselbe Leben
vom 04.03.2025