Rotlicht: Sophistik
Von Felix Bartels
Im Gegensatz zu den meisten anderen Begriffen der griechischen Philosophie – skeptisch, stoisch, atomistisch, platonisch etwa – trägt die Zuschreibung »sophistisch« keinerlei positive Konnotation. Sie bedeutet so viel wie spitzfindig, auf geschickte Weise zweckorientiert.
Hatte das vorsokratische Denken gewissermaßen den Teppich ausgelegt für spätere wissenschaftliche, technische, philosophische Entwicklungen, trat sophistisches Denken als genuines Erzeugnis der attischen Polis auf, mit ihrer Volksversammlung und ihrem Prozesswesen. Philosophie geriet zur Dienstleistung für den attischen Bürger, seine Belange in politischen und juristischen Instanzen durchzubringen. Durch Thales war die Frage der Qualität eingeführt, durch Pythagoras die der Quantität, Parmenides kreiste ums Sein, Heraklit ums Werden. Die vorsokratische Philosophie konstituiert sich aus zwei Linien, einer vergeistigenden westlichen und einer sinnlichen östlichen. Hier gab es vermeintlich nichts mehr zu holen. So folgte die Wendung von der Theorie zur Praxis. Wie kommt man durch? In diesem Satz geht alle Sophistik auf.
Gegen diese Wendung wandte sich Platon. Ein halbes Menschenleben später wird Aristoteles schreiben, der Sophist mache die schwächere Rede zur stärkeren. Interessanterweise arbeitet Platons Sokrates selbst oft mit Manövern, die technisch gesehen sophistisch sind. Der Gegensatz sokratisch-sophistisch liegt nicht in der Methode, sondern in der Prämisse. Platon vertritt einen emphatischen Wahrheitsbegriff gegen eine Vielzahl sophistischer Redner, die alle gemein haben, ein objektives, vom persönlichen Standpunkt unabhängiges Wahrheitskriterium nicht anzuerkennen. Gorgias hat das prononciert formuliert: Weder das Seiende noch das Nichtseiende existieren, sollte das Seiende dennoch existieren, wäre es nicht erkennbar, sollte es dennoch erkennbar sein, könnte die Erkenntnis nicht vermittelt werden. Man hat gestritten, wie ernst dieser rigorose Skeptizismus zu nehmen sei. Vermutlich gar nicht und eben deswegen sehr. Gorgias’ »Über das Nichtseiende« scheint kaum mehr denn eine rhetorische Übung. Was aber wäre skeptizistischer als ein Skeptizismus, der im Zweifel dann so auch wieder nicht gemeint war?
Mit der Sophistik betritt die Rhetorik die Weltbühne. Platon weigert sich, sie als Technik anzuerkennen. Sie sei vielmehr eine Empeiria, eine Routine oder Übung. Die Attacke gilt dem Anspruch der Sophisten, Rhetorik an die Stelle der Philosophie zu setzen. Platon packt den Komplex an der Wurzel, Rhetorik/Sophistik darf a priori keinen Anspruch auf Objektivität erhalten (was mit der Zuschreibung »Technik« gegeben wäre). Nach ihm verhalten Rhetorik und Philosophie sich zueinander wie Kosmetik und Gymnastik.
Ebenfalls Gast bei Platon ist Protagoras. Sein Homo-mensura-Satz sagt, der Mensch sei das Maß aller Dinge. Was human klingt, doch epistemisch gemeint ist. Es existiere kein Maßstab außerhalb des einzelnen Menschen. Während sich für Platon nicht nur in der Natur, sondern auch in der Gesellschaft eine natürliche, ontologische Ordnung ausdrückt, sind dem Sophisten sämtliche Dinge zwischen Menschen (Naturwissenschaft, Gesetze, Religion eingeschlossen) Ergebnis von Konventionen.
Hier liegt das eine positive Moment der Sophistik. Platon bekämpft den alles auflösenden Relativismus. Aber er kann das nur vermittels eines emphatischen, regelrecht theologischen Wirklichkeitsbegriffs. Die Sophisten übertreiben den Relativismus weidlich, doch ihnen kommt das Verdienst zu, Gesellschaft als Resultat menschlicher Zusammenhänge identifiziert zu haben. Weniger positiv, indessen äußerst produktiv wurde Sophistik als Quelle der modernen Gesellschaft. Der Sophist ist zugleich souverän und nicht souverän. Er folgt einem Zweck, den er sich gibt oder der ihm gegeben wird, und besitzt nicht die Freiheit zu erkennen, was der Fall ist, oder die, sich überzeugen zu lassen. So stiftet er ein autarkes Maßsystem, das morgen auch schon wieder passé sein könnte. Er ist der Vater der Lobbyisten, Berufspolitiker und Anwälte.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (11. März 2025 um 23:05 Uhr)Wo hat der Barthels das heiße Eisen geholt? Dieser knackige Galopp durch die (europäische) Philosophie sollte etwas gemächlicher weitergeführt werden. Man könnte zum Beispiel den Kreationismus der Technokratie, das handelnde Subjekt dem Reduktionismus gegenüberstellen. Und diskutieren, »was der Fall ist«. Nämlich, ob es in der Gesellschaft reduktionistisch zugeht. Da könnte sich so manche Linke (richtig gelesen, ist gegendert!) an der eigenen Nase fassen. In dieser jW und der Ausgabe davor gibt es mindestens zwei signifikante Anregungen: www.jungewelt.de/artikel/495818.faschismus-in-indien-eine-frage-der-pr%C3%A4zision.html und www.jungewelt.de/artikel/495734.nahost-friendly-fire.html
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