Von der Vulkaninsel
Von Christine WittrockIn den Süden wollte ich schon immer – seit Jahrhunderten zieht es die Nordlichter südwärts. Der lebenslange Lichtmangel in den nordischen Gefilden motiviert uns. Es ist nicht nur die Wärme, die uns anzieht – es ist das weiße Licht. Die Sonne scheint hier heller, die Farben sind leuchtender, näher am Leben.
Zweitausend Kilometer südwestlich von Deutschland ist das Leben anders. Und nochmals zweitausend Kilometer südwestlich von der iberischen Halbinsel ist das Leben wiederum anders: Seit fünfundzwanzig Jahren lebe ich auf der Kanareninsel La Palma – politisch zu Spanien gehörig, geographisch bei Afrika, aber mit der Seele in Lateinamerika.
Ende der neunziger Jahre war ich der Kämpfe müde. Vertrieben aus der großen WG-Wohnung im Westen Frankfurt am Mains – nach elf Prozessen hatten die Spekulanten gesiegt – erinnerte ich mich an das Wort, das ich mir selbst und anderen gegeben hatte: Wenn die versteinerten Verhältnisse starr bleiben, so dreh der Welt eine Nase. Wende die Verzweiflung nicht gegen dich selbst, das nützt niemandem, außer der falschen Seite. Halte dich an den großen François Villon, der auch angesichts des nahen Todes noch sang: »Ich will mich lieber seitwärts, wenn’s geht auch splitternackt, noch einmal in ein rotes Mohnfeld legen. Es ist so schön, wenn rudelhaft die Wolken durch den Himmel fegen …«
Es wurde kein Mohnfeld, aber der schwarze Sand von La Palma. Schreiben kann man an fast jedem Ort der Welt; sofern es Strom und Wasser gibt. So ließ ich mich von Juan entführen – nach Spanien der Liebe wegen. Ich genoss es, nicht mehr ungefragt im Kampfanzug zu stecken. Die Metropolen lagen hinter mir, der Restauration der politischen Verhältnisse sah ich nur noch aus weiter Ferne zu. Es lebt sich besser unter südlichen Himmeln. Und Heimat ist da, wo es einem gutgeht.
Es gibt Nachmittage, die ich im Schatten der Bäume verdämmere, sehe den Kanarienvögeln zu, wie sie sich in den Ästen des Jacarandabaums wiegen, und den Eidechsen, wie sie auf schwarzem Gestein in der Sonne baden. Kurz vor Sonnenuntergang – in der Stunde zwischen Hund und Wolf – verströmen die blühenden Orangenbäume ihren betörenden Duft. Dann kommt die Nacht, angefüllt mit großer Stille – nur das Zirpen der Zikaden ist zu hören –, und ein gewaltiger Himmel breitet seine Sterne aus. Im Haus hört man die Geckos durchs Gebälk huschen.
Und dann das Meer: An manchen Tagen ist es glatt wie ein Spiegel, manchmal auch kleinwellig wie gehämmertes Metall, manchmal rau mit weißen Schaumkrönchen von hellem Silbergrau bis zu tintigem Tiefblau. In der Ferne fließen Himmel und Meer ineinander. Der weiße Punkt in der Bläue: Ist es ein Schiff oder ein Flugzeug, das sich da der Insel nähert?
Die Heiterkeit der Insel berührt mich. Die südliche Trägheit macht die Menschen friedlich. »Mañana« heißt nicht »morgen«, sondern: irgendwann in der Zukunft. Hier muss die Langsamkeit nicht entdeckt werden, hier ist sie heimisch. Auch wenn wir zu Europa gehören: Die Uhren gehen anders auf dieser Insel. Wer einmal von dem freien Leben hier gekostet hat, kann nicht mehr zurück. Die Insel hält einen in ihrem Bann. Immer, wenn ich in Mitteleuropa bin, erscheint es mir zu schnell, zu voll, zu laut, zu kalt und zu dunkel.
Bunt und fremd sind die vielen Fiestas. Sie sind über das ganze Jahr verstreut: der Día de los Indianos, ein eigenartiger Karnevalstag, an dem sich alles weiß kleidet und ganz Santa Cruz mit Unmengen von Talkumpulver in einen weißen Nebel gehüllt ist; im Sommer die vielen Prozessionen, in denen die jeweiligen Ortsheiligen mal an die frische Luft kommen und mit viel Vino tinto und farbenprächtigen Aufzügen auf den Straßen herumgetragen werden. Aber das Beste: Die Karfreitagsprozession, wo die untergegangene Reaktion noch einmal leibhaftig aufersteht: Militärs, Guardia civil, Pfaffen – die bekannte Kumpanei – im Verein mit den mit Ku-Klux-Klan-Zipfelmützen unkenntlich gemachten Büßern, die barfuß ihre schweren Ketten übers Kopfsteinpflaster rasseln lassen, dazu dumpfer Trommelschlag. Wer sich einen sinnlichen Eindruck vom Mittelalter verschaffen will, muss sich dieses Spektakel ansehen. Ich kann mich an diesem Mummenschanz nicht sattsehen.
Selten holt uns Spaniens franquistische Vergangenheit ein, bis vor kurzem gab es noch Straßen, die Francos Namen trugen. Vor wenigen Jahren gruben Angehörige von Opfern der faschistischen Diktatur einige Skelette im Wald aus und bestatteten sie auf dem Friedhof von Fuencaliente, unter den Farben der Spanischen Republik. Franco hatte im Sommer 1936 in einem Handstreich die linke Elite der Insel ermorden lassen. Die blutige Woche, die Semana roja, ging in die Inselgeschichte ein. Das Schweigen über die faschistische Barbarei dauerte viele Jahrzehnte, viel länger als in Deutschland, denn Spanien hatte keinen Krieg verloren.
Und die Deutschen? Von den Palmeros werden sie respektlos, befremdet oder anerkennend Cabezas cuadradas genannt, was soviel heißt wie Quadratköpfe, Besserwisser. Die Deutschen werden diese Insel weder zu einem preußischen Verwaltungsstaat machen noch zu einem deutschen Kurpark. Mit missionarischem Eifer plädieren sie für allerlei Verbesserungen und Effizienz. Juan sagt dann nur: »Gott behüte uns vor Sturm und Wind und Deutschen, die im Ausland sind.« La Palma widersetzt sich. Es bleibt rau, widerborstig, unaufgeräumt. Und doch sind wir nicht fernab von der Welt. Die Widersprüche des globalen Kapitalismus erreichen uns auch hier. Überproduktion, Nahrungsmittelvernichtung (hier: Bananen), Absatzstockung, Börsenbaisse, Spekulation und die Heilsarmee, die Suppe verteilt und Seelen fängt, gibt es hier wie überall auf der Welt. Es gibt kein richtiges Leben im falschen.
Selten landen afrikanische Boatpeople mit ihren Cayucos bei uns, die Insel liegt zu weit westlich. Das Netz der europäischen Grenzpolizei Frontex ist nicht immer dicht. Als es noch die DDR gab, wurde in der veröffentlichten Meinung großmäulig die Reisefreiheit als Menschenrecht eingefordert. Die Sklaven unserer Zeit, die sich nur ihren Teil vom großen Brotlaib schneiden wollen, sind längst als Billigstarbeitskräfte ins Kalkül der globalisierten Marktwirtschaft einbezogen. Die meisten, soweit sie nicht abgeschoben werden, landen wohl auf den Plantagen in Festlandspanien. Ich begehre, nicht schuld daran zu sein. Ich habe diese Verhältnisse nicht erfunden, sondern nur vorgefunden. Ich habe mein Bestes getan, sie zu verändern.
La Palma ist vulkanischen Ursprungs. Von Zeit zu Zeit spucken die Vulkane glühende Lava über das Land. Manchmal weht der Calima, der heiße Atem aus der Sahara, über die Insel, bringt Hitze und gelben Staub mit sich. Oder ein Orkan fegt über die Insel hinweg und zeigt aller Kreatur, dass wir uns nur auf einem winzigen Steinklumpen im Ozean befinden. Das führt uns plastisch die eigene Endlichkeit vor Augen.
Mit fremdem Blick sehe ich diese Insel, mit fremdem Blick sehe ich Europa. Was bleibt, sind die roten Mohnfelder und der schwarze Sand.
Christine Wittrock ist Historikerin und regelmäßige Autorin im jW-Ressort Thema
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